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Die Zukunft des Fernsehens

Medienkulturwissenschaftlerin Dr. Tanja Weber über Chancen und Herausforderungen

Streamingdienste wie Netflix, Amazon Prime und Co. wirbeln den Unterhaltungsmarkt seit einigen Jahren gehörig auf. Bedeutet dies das Aus für klassische TV-Formate? Um zu überleben, muss das Fernsehen es schaffen, auch die jüngeren Generationen wieder zu erreichen. Die Erfolgsaussichten stehen gar nicht schlecht, meint Medienkulturwissenschaftlerin Dr. Tanja Weber.

Text von Sarah Brender

Ein morphiumabhängiger, schwer kriegstraumatisierter Kommissar, der im elendabstoßenden, aber auch verführerischpulsierenden Leben der Hauptstadt Berlin versucht, Kriminalfälle zu lösen. Szenen in einsamen, dunklen Gassen neben ausgelassenem Partyleben mit Swing und Charleston: In der Serie »Babylon Berlin« tauchen Zuschauerinnen und Zuschauer in die Welt der späten 1920er Jahre ein, die letzte Phase der Weimarer Republik.

Es ist eine Welt im Umbruch, voller Widersprüche. Für diese aufwendig produzierte Serie hatten 2017 ARD und Sky erstmals zusammengearbeitet. Die dritte Staffel von »Babylon Berlin« um die fiktive Figur des Hauptkommissars Gereon Rath erschien im Januar 2020 zuerst beim Pay-TV Sender Sky, die Ausstrahlung in der ARD ist für den Herbst angekündigt. Schon jetzt ist klar: Die Serie ist weiter auf der Erfolgsspur und soll laut Onlinemagazin »Variety« bereits in 35 Länder verkauft sein.

Die Medienkulturwissenschaftlerin Dr. Tanja Weber beschäftigt sich in ihrer Forschung mit der Geschichte und aktuellen Entwicklungen des Fernsehens. Für sie ist die Serienproduktion »Babylon Berlin« ein spannender Präzedenzfall, bei dem öffentlich- rechtliches Fernsehen und ein privater TV-Anbieter gemeinsam ein Großprojekt stemmten.

»Kooperationen wie bei Babylon Berlin werden in Zukunft zunehmen. Für Qualitätsproduktionen, über die dann auch in den sozialen Medien gesprochen wird, liegt in einer solchen Zusammenarbeit ein großes Zukunftspotential«, sagt Weber. Über die Zukunft des Fernsehens zu sprechen, ist gar nicht so einfach, denn die Grenzen zwischen den Medien sind oft fließend. »Wenn ich mir ›Böhmermann‹ auf YouTube und Zuschauer sind, umso länger sehen sie durchschnittlich fern. Mit Blick auf die Zahlen der letzten zwanzig Jahre zeigt sich aber, dass diese Differenz nicht neu entstanden ist, sondern relativ stabil bleibt. Je älter die zunächst jungen Zuschauerinnen und Zuschauer also werden, umso stärker steigt auch ihr durchschnittlicher Fernsehkonsum.

Verdrängen die neuen Anbieter also auf lange Sicht die klassischen TV-Sender und -produktionen? Nicht unbedingt, das zeigen auch diese Zahlen. Doch das Fernsehen muss sich an die neue Medienlandschaft anpassen. Tanja Weber betont, dass das schon in der Vergangenheit gelungen ist, anschaue – ist es dann Fernsehen?«, fragt Weber. »Ich fasse das alles in meiner Forschung unter ›Fernsehen‹, auch YouTube und Videoon- Demand-Anbieter wie Netflix, Amazon Prime und so weiter.« Diese Angebote erweitern, wie auch die Mediatheken, das lineare Fernsehen.

Lineares Fernsehen - ein Auslaufmodell?

Klar ist, dass die neuen Anbieter den Fernsehmarkt gehörig aufgemischt haben. Sie produzieren eigene Filme und Serien und prägen ein neues Konsumverhalten. Während jüngere Menschen dazu neigen, sich ihre Inhalte selbst zusammenzustellen, ist die klassische Flimmerkiste unter den älteren Zuschauerinnen und Zuschauern weiterhin beliebt. Laut Zahlen der Arbeitsgemeinschaft Videoforschung und des Marktforschungsinstituts Gesellschaft für Konsumforschung ist die Fernsehdauer in Deutschland stark vom Alter abhängig.

Im Jahresdurchschnitt 2019 sah die Altersgruppe der über 50-jährigen mehr als fünf Stunden (318 Minuten) pro Tag fern. Die Gruppe der 30- bis 49-jährigen liegt mit 238 Minuten im Mittelfeld und die Gruppe der 14- bis 29-jährigen schaute im Durchschnitt nur 82 Minuten pro Tag fern. Kinder im Alter von drei bis 13 Jahren bilden mit 58 Minuten das Schlusslicht. Die Formel für den Zusammenhang zwischen Alter und Fernsehkonsum lautet demnach: Je älter die Zuschauerinnen und Zuschauer sind, umso länger sehen sie durchschnittlich fern.

Mit Blick auf die Zahlen der letzten zwanzig Jahre zeigt sich aber, dass diese Differenz nicht neu entstanden ist, sondern relativ stabil bleibt. Je älter die zunächst jungen Zuschauerinnen und Zuschauer also werden, umso stärker steigt auch ihr durchschnittlicher Fernsehkonsum.

Verdrängen die neuen Anbieter also auf lange Sicht die klassischen TV-Sender und -produktionen? Nicht unbedingt, das zeigen auch diese Zahlen. Doch das Fernsehen muss sich an die neue Medienlandschaft anpassen. Tanja Weber betont, dass das schon in der Vergangenheit gelungen ist, denn es liegt in der Natur des Fernsehens, dass es sich immer verändert.

Vom Gemeinschaftserlebnis zum Wohnzimmermöbel

In Deutschland erhielten die TV-Geräte in den 1930er Jahren, zu Zeiten des Nationalsozialismus, in sogenannte Fernsehstuben Einzug. Hier kamen viele Menschen zusammen, Fernsehen war ein Gemeinschaftserlebnis. Ein frühes Highlight war die Übertragung der Olympischen Spiele aus Berlin 1936.

Tanja Weber sagt: »Im Fernsehen selbst fand keine Propaganda statt – Hitler war nicht einmal im Nazi- Fernsehen zu sehen. Aber dass sie mit dem Fernsehen auf dem neuesten Stand der Technik waren, damit machten die Nationalsozialisten Propaganda.«

In der Nachkriegszeit, mit dem offiziellen Programmstart am 25. Dezember 1952, kam das Fernsehen in die eigenen vier Wände der Menschen. Immer mehr Haushalte hatten eigene TV-Geräte. In den 1970er und 1980er Jahren wurde der VHS-Rekorder beliebt. So konnte man klassisches Fernsehen zeitversetzt konsumieren. Heutige Mediatheken sind eine Fortsetzung dieser Entwicklung mit neuen Mitteln.

In den 1980er Jahren war die Einführung von Privatsendern neben dem öffentlichrechtlichen Fernsehen eine Zäsur in der Fernsehgeschichte der BRD – auch wenn die wenigsten Zuschauerinnen und Zuschauern damals diese Zäsur überhaupt wahrnahmen. RTL erreichte zum Senderstart am 2. Januar 1984 nur 200.000 Haushalte.

»Wer kein Kabel hatte, hat das nicht gemerkt«, sagt Weber. Denn das Privatfernsehen war in weiten Teilen der BRD nur im Rahmen der Kabelpilotprojekte oder über Satellit empfangbar.

Zukunftsfähig sind spannende Formate und Qualitätsproduktionen

Besonders die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten gelten vielen Menschen heute als etwas verstaubt. Doch die Medienkulturwissenschaftlerin weist darauf hin, dass Innovationen durchaus auch im öffentlichrechtlichen Bereich zu finden sind: »Bereits 2001 kam die ZDF-Mediathek. You- Tube dagegen gibt es erst seit 2005. Diese Idee war also beim öffentlich-rechtlichen Sender sofort da.« International erfolgreiche Fernsehserien wie »Game of Thrones«, »Breaking Bad«, »Stranger Things« oder »True Detective« werden in den USA produziert. Potential für die Zukunft des deutschen Fernsehens sieht Tanja Weber unter anderem in Qualitätsfernsehserien wie »Babylon Berlin«, die von der sogenannten Production Value, also der Gesamtqualität, durchaus mit amerikanischen Serien mithalten können.

Daneben sieht Tanja Weber auch in Live-Formaten attraktive Möglichkeiten. Besonders Live-Ereignisse, die eins zu eins in den sozialen Medien von der entsprechenden Zielgruppe durch Kommentare begleitet werden, sind weiter gefragt. Anziehungskraft für Zuschauerinnen und Zuschauer hat »Liveness« bei bekannten Sportveranstaltungen wie Bundesliga, Weltmeisterschaften und großen und etablierten Live-Events wie dem »Eurovision Song Contest« oder Karnevalsübertragungen.

Auch umstrittenere TV-Events wie »Dschungelcamp« oder »Bauer sucht Frau« bringen weiter Quote. Nicht nur Live-Übertragungen, sondern auch andere Sendeformen wie die Fiktion können eine Form der »Liveness« aufweisen. So haben viele Zuschauerinnen und Zuschauer in Deutschland jeden Sonntagabend das Bedürfnis, den »Tatort« zu sehen, sozusagen live. Die aktuellen Folgen werden dabei in Echtzeit lebhaft über soziale Medien wie Twitter kommentiert.

Außerdem zeigt sich eine Art Wiedergeburt des Gemeinschaftserlebnisses in den Fernsehstuben der 1930er Jahre: In Kneipen in ganz Deutschland kann der aktuelle Tatort sonntags gemeinsam geschaut werden, teilweise mit Einbau eines Quiz für die Besucherinnen und Besucher, die den Täter noch vor der Auflösung im Fernsehen zu erraten versuchen.

Der Reiz des Fernseh-Surfens

Beispiele wie Qualitätsserien, Live-Formate und der gute alte Tatort zeigen, wie lebendig und vielfältig das Fernsehen immer noch ist. Spannend ist, ob und in welcher Form Streaminganbieter die Vorzüge des linearen Fernsehens adaptieren können. Auch wenn neue digitale Formate auf dem Vormarsch sind – einen großen Anziehungspunkt beim linearen Fernsehen sollte man laut Tanja Weber nicht vorschnell abtun: den Entspannungsund Flow-Faktor.

»Man kann beim linearen Fernsehen richtig abhängen, zappen, von Programm eins bis Programm hundert. Man bewegt sich so durch die Programme und surft quasi wie im Internet. Es ist eine Art Fernseh- Surfen. Das hat seinen eigenen Reiz!«

Und wer ist nicht schon mal beim Zappen von einem unerwartet wunderbaren Film überrascht worden? Im Gegensatz zum Angebot kompletter Serien in Streamingportalen, die zum Binge-Watching verleiten, kann ein lineares Programm mit festen Sendezeiten außerdem zum Ritual werden, wie es beispielsweise für Viele das tägliche Schauen der »Tagesschau« ist. Teilweise experimentieren Netflix und Co. auch bereits mit wöchentlichen Veröffentlichungen neuer Serienfolgen. Damit ahmen sie die Logik des Fernsehprogramms nach.

Das Fernsehen wird sich auch in Zukunft weiterentwickeln und immer wieder neu erfinden, davon ist Tanja Weber überzeugt. Ob Einzel- oder Kollektivempfang, ob Sendeschluss oder Programm rund um die Uhr, ob ein, zwei oder viele Sender, die öffentlich-rechtlich oder kommerziell organisiert sind, ob im Fernsehgerät oder auf anderen Plattformen – nichts ist beständiger als der Wandel.

Bei allem Wandel bleibt eine Konstante: Das Fernsehen braucht auch in Zukunft sein Publikum.

 

Zur Person: Dr. Tanja Weber
Die Medienkulturwissenschaftlerin Dr. Tanja Weber ist Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Medienkultur und Theater.
Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Medienqualität, Serialität in kulturell vergleichender, historischer und medienübergreifender Perspek-tive, Fernsehgeschichte, -theorie und -analyse. Außerdem beschäftigt sie sich mit der Darstel-lung von organisiertem Verbrechen in Film und Serie. Tanja Weber ist Mitglied der Jury Fiktion, welche die besten Fernsehfilme und -serien für den Grimme-Preis 2020 auslobt. Privat schaut sie gerne Serien wie Il miracolo, Chernobyl, Bad Banks, Der Pass oder Skylines und freut sich schon auf die Ausstrahlung von 1994 und L’amica geniale (Meine geniale Freundin). Und sonntags schaltet sie den Tatort ein, »live« – über Apple-TV

Lineares Fernsehen
Wenn Fernsehprogramme eins zu eins gesendet und direkt empfangen werden, spricht man von linearem Fernsehen. Das nicht-lineare Fernsehen, also Streaming-angebote und Mediatheken, bedeutet die zeitver-setzte Nutzung: die Zuschauerinnen und Zuschauer haben die Wahl, wann sie Sendungen anschauen. Das Filterblasenproblem, über das vor allem in Bezug auf die sozialen Medien oft gesprochen wird, gibt es auch bei Streamingangeboten. Netflix und Co. blenden im Versuch, den Zuschauerinnen und Zuschauern möglichst passende Filme anzubieten, nur eine auf den Nutzer und seine Sehgewohnheiten angepasste Bandbreite ein.

Binge-Watching
Das Phänomen, mehrere Folgen einer Serie hin-tereinander anzuschauen, wird Binge-Watching, Serienmarathon oder Komaglotzen genannt. Im linearen Fernsehen hingegen werden Serien in der Regel über einen längeren Zeitraum zu einer festen Zeit ausgestrahlt. Die Zuschauer und Zuschauerin-nen müssen sich gedulden – können aber auch die Vorfreude genießen.