Seit einigen Jahrzehnten erfährt der Jakobsweg eine Renaissance. In Deutschland wurde das Pilgern zuletzt durch Hape Kerkelings Erfahrungsbericht populär. Buße, Sündenablass und Reliquienverehrung sind längst nicht mehr die einzigen Gründe, um zu sagen: „Ich bin dann mal weg.“ Dr. Markus Gamper und Professorin Julia Reuter vom Institut für Vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften haben sich für ein Forschungsprojekt selbst auf den Weg gemacht.
Auf den letzten Kilometern vor Santiago de Compostela kann es in den Pilgerherbergen schon mal voll werden. Richtig eng wird es aber erst, wenn in einem Heiligen Jahr die Zahl der Pilger auf dem Jakobsweg deutlich ansteigt. Das Heilige Compostelanische Jahr wird begangen, wenn der 25. Juli – also der Festtag des Heiligen Jakobus – auf einen Sonntag fällt. Im Volksmund heißt es auch Gnadenjahr, denn immer dann verspricht die katholische Kirche ihren Anhängern, durch die Pilgerreise einen Ablass zu erwerben. Das wirkt wie ein Magnet für Pilger aus der ganzen Welt. Anders war es dagegen 2007. Obwohl der 25. Juli ein ganz gewöhnlicher Mittwoch war, stieg die Anzahl der deutschen Pilger nach Angaben der St. Jakobus-Gesellschaft in diesem Jahr überproportional an: Der sogenannte „Kerkeling-Effekt“ machte sich bemerkbar. Hape Kerkelings Bericht „Ich bin dann mal weg“ über seine Pilgerreise auf dem Jakobsweg war mit über zwei Millionen verkauften Exemplaren das meistverkaufte Buch des Jahres 2006 und löste in Deutschland eine Pilgerwelle aus.
30 BIS 40 KILOMETER AM TAG
Der Bestseller zeigt, dass die Kirche keine Deutungshoheit mehr über Sinn und Zweck des Pilgerns hat. Für Dr. Markus Gamper war auch der überraschende Erfolg des Buchs schließlich Anlass, um die unterschiedlichen Motivationen der Pilger zu hinterfragen. Am Institut für Vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften erforscht er, wie sich das Religionsverständnis in verschiedenen Kulturen verändert. 2010 machte er sich – damals noch an der Universität Trier als Projektmitarbeiter am Lehrstuhl Reuter tätig – mit einem kleinen Team selbst auf den Jakobsweg. Von Burgos aus pilgerten sie im Zeichen der Wissenschaft rund 600 Kilometer bis zur Kathedrale von Santiago de Compostela. „Das war schon ein sehr anstrengender Zugang zum Forschungsmaterial“, erinnert sich Gamper. „Um mich darauf vorzubereiten, bin ich mit einem Rucksack joggen gegangen und war mehrmals in der Eifel wandern.“
30 bis 40 Kilometer haben die Wissenschaftler jeden Tag auf dem Jakobsweg zurückgelegt. Doch abends, als sie gemeinsam mit anderen Pilgern erschöpft in den Herbergen eintrafen, ging ihre Arbeit erst richtig los. Das Fundament ihrer Forschung bildeten über 40 qualitative Interviews. Sie wollten herausfinden, was die Menschen auf den Jakobsweg treibt, wie sie dort ihre Zeit verbringen und welche Rolle Religion und Spiritualität dabei spielen. Unterstützung erhielten sie zudem von der Jakobusbruderschaft Trier, über die sie in den Pilgerherbergen mehrere tausend Fragebögen verteilen ließen und am Ende statistisch auswerteten.
JAKOBSMUSCHEL, PILGERSTAB UND WANDERSCHUHE
„Der Jakobsweg ist für Soziologen ein recht dankbares Feld“, sagt Gamper. „Die Leute wollen reden. Am Tag laufen zwar sehr viele Pilger alleine, doch abends in der Herberge tauschen sie sich über ihre Erfahrungen aus.“ Gamper spricht von einer Schicksalsgemeinschaft auf Zeit. Unter den Pilgern sind nicht nur bekennende Christen, sondern etwa auch Wanderer oder Sportler, die den Weg eher als körperliche und nicht als spirituelle Herausforderung sehen. Die Leute kommen außerdem von überall her, selbst aus Südkorea.
Doch ist jeder, der auf dem Jakobsweg wandert, automatisch Teil dieser Gemeinschaft? Die Wissenschaftler konnten während ihrer vierwöchigen Feldforschung Abgrenzungsmechanismen erkennen. Demnach gebe es ein Konstrukt des idealen und ursprünglichen Pilgers, der auf die katholische Tradition zurückgeht: Er ist ausschließlich zu Fuß unterwegs, verzichtet auf jeglichen Luxus und übernachtet in einfachen Herbergen. Auch die typischen Insignien wie Jakobsmuschel, Pilgerstab und Wanderschuhe tragen zu dem Bild bei. Auf der anderen Seite der Skala stehen dagegen die sogenannten „Tourigrinos“, die eine kurze Strecke des Jakobswegs in Turnschuhen laufen und sich das Gepäck von einem Hotel zum anderen liefern lassen. „Wer aber gibt uns das Recht zu sagen, dass das keine Pilger sind“, fragt sich Gamper. „Als Soziologe sehe ich das natürlich zunächst einmal neutral.“
EINE URKUNDE, DIE GUT IN DEN LEBENSLAUF PASST
Man könnte meinen, dass die Pilgerurkunde Fakten schafft: Wer mindestens die letzten 100 Kilometer des Jakobswegs zu Fuß geht und sich dies in den Herbergen per Stempel bescheinigen lässt, erhält die sogenannte Compostela. Neben der der Urkunde für religiös motivierte Pilger gibt es auch ein offizielles Dokument für kulturell oder sportlich motivierte Pilger. Manch einer beschreitet den Jakobsweg, weil die Urkunde gut in den Lebenslauf passt, andere bekommen an ihrer Universität sogar Credit Points dafür.
Nach dem Verständnis der katholischen Kirche allerdings ist jeder, der aus religiösen Gründen zum Grab des Heiligen Jakobus kommt, ein Pilger – unabhängig von der Art der Anreise. Dennoch profitiert die Kirche davon, dass der Jakobsweg so populär ist. Hier lernen die Menschen eine andere Kirche kennen, als den Pfarrer auf der Kanzel oder die Kirchensteuer. „Man umarmt dich, man kocht für dich, man bereitet dir ein Bett vor. Du bist der Gast, um den man sich kümmert“, sagt Gamper. „Das ist ein Gefühl, das die Leute sehr schätzen.“
DIE INSTITUTION KIRCHE VERLIERT AN BEDEUTUNG
Dem Forscherteam ist aufgefallen, dass selbst bei Pilgern, die keinen Bezug zur Institution Kirche haben, spirituelle Erfahrungen auf dem Jakobsweg dazugehören. „Auf die Frage, ob man schon etwas Spirituelles erlebt hat, kam oft die Antwort, dass die Kirchenglocke klingelte, wenn man in ein Dorf kam“, sagt Gamper. „Die Leute könnten auch vier Wochen für eine Wanderung in die Eifel gehen, aber sie erwarten ja etwas Bestimmtes, von dem sie glauben, es woanders nicht finden zu können.“ Kirchen dienen in diesem Fall eher als Kulisse bei der individuellen Suche nach Spiritualität. Ähnlich ist es mit gemeinsamen Erlebnissen währen des Pilgerns, die teilweise an christliche Rituale erinnern: Abends in den Herbergen nimmt man gemeinsam eine Mahlzeit ein und verarztet sich gegenseitig die Blessuren.
Religion und Spiritualität spielen zwar nach wie vor eine wichtige Rolle, gleichzeitig verliert die Institution Kirche immer mehr an Bedeutung. „Jeder Pilger bastelt sich heute seine eigene Suche nach dem Sinn zusammen“, sagt Gamper. Früher sind die Menschen gepilgert, um beispielsweise ihren christlichen Glauben zu festigen oder auch Buße zu tun. Die neuen Pilger wollen vielmehr hier und jetzt auf Erden eine neue Erfahrung machen und einfach nur „entschleunigen“. So wird wohl der Pilgerboom der letzten Jahre weiterhin anhalten.