Die Kosten von Gewaltverbrechen
Diebstahl oder Betrug verursachen Milliardenschäden, aber die gesellschaftlichen Folgekosten besonders von Gewaltkriminalität sind weit gravierender. Forschung am Exzellenzcluster ECONtribute deckt auf, was oft im Verborgenen bleibt.
Von Charlotte Pekel
Obwohl es sie eigentlich gar nicht geben sollte, begegnet uns Kriminalität täglich: In den Nachrichten und in True Crime Podcasts. Oder aber fiktionalisiert im »Tatort« und in Romanen. Das popkulturelle Interesse an Kriminalverbrechen ist hoch. Gerade bei schwerer Gewalt fragen sich viele Menschen, was in den Köpfen der Täter*innen vorgeht.
Auf den ersten Blick scheint das aus wissenschaftlicher Sicht eher eine Frage für die Psychologie, Kriminologie oder Soziologie zu sein. Aber Kriminalität betrifft oft Menschen in spezifischen wirtschaftlichen Situationen – Opfer wie Täter*innen. Dr. Anna Bindler, Professorin für Volkswirtschaftslehre beim Exzellenzcluster ECONtribute an der Uni Köln, untersucht auf dem Gebiet der Economics of Crime, warum Menschen zu Opfern oder Täter*innen werden, und wie sich das verhindern lässt. Sie schaut sich dabei wirtschaftliche Ursachen an und berechnet die Kosten von Kriminalität – für einzelne Menschen und die ganze Gesellschaft. Weil jährlich Tausende Menschen Opfer von Kriminalverbrechen werden, liegen die Kosten für die Gesellschaft im Milliardenbereich: Gerichtsprozesse, Kriminalitätsbekämpfung und die Behandlung und Folgen gesundheitlicher Schäden werden von allen mitbezahlt.
Economics of Crime – Dieses Forschungsfeld innerhalb der Arbeitsmarktökonomik beschäftigt sich mit den Ursachen und Kosten von Kriminalität auf Täter- und Opferseite.Auch Entscheidungs- und Ermittlungsprozesse an Gerichten und bei der Polizei werden hinsichtlich der Diskriminierung von Tätern und Opfern betrachtet.
»Ich finde es wichtig, dass auch Ökonomen dazu forschen«, sagt Anna Bindler. Die Modelle, mit denen sie Zusammenhänge untersuchen, unterschieden sich von denen anderer Disziplinen. Zudem nehmen Ökonom*innen insbesondere kausale Zusammenhänge in den Blick und versuchen diese empirisch zu belegen – etwa den Zusammenhang zwischen der sozioökonomischen Situation und der Wahrscheinlichkeit, Opfer oder Täter*in eines Verbrechens zu werden. Die Ergebnisse sind ein Zugewinn für die Kriminalitätsforschung.
Die Wirtschaftswissenschaft hat bislang vor allem auf die Täter*innen geschaut. Anna Bindler interessiert die andere Seite: Sie will herausfinden, warum Menschen zu Opfern von Kriminalverbrechen werden und welche Konsequenzen sich für sie daraus ergeben. Bindler zählt zu den wenigen Ökonom*innen in Deutschland, die sich auf die gesellschaftlichen Kosten von Kriminalität spezialisiert haben. Das Forschungsinteresse steigt jedoch, wie eine international zunehmende Zahl von Tagungen und Workshops belegt.
Opfer von Verbrechen verdienen weniger
Neben direkten Kosten – für Gerichte, Polizei, Krankenversicherung und Sozialhilfe – können die Kosten auch indirekt und langfristig sein. Etwa, wenn Opfer von Kriminalität weniger produktiv am Arbeitsmarkt teilnehmen können. »Immaterielle Schäden wie der Verlust von Lebensqualität bei direkt und indirekt Betroffenen zählen ebenso zu den gesellschaftlichen Kosten von Kriminalität«, sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin. Anna Bindler arbeitet dazu mit Daten zu vielfältigen Delikten: vom Diebstahl bis zum Einbruch, von einer gewaltsamen Drohung bis zum gewalttätigen Angriff und Missbrauch.
Die bisherige Forschung zeige, dass bei Täter*innen oft schon früh ein fataler Kreislauf zu beobachten ist, sagt Bindler: Eine Person, die sozial schlechter gestellt ist als der gesellschaftliche Durchschnitt – zum Beispiel aufgrund ihrer Herkunft und Bildung – hat geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Dadurch ist bei ihr die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie kriminell wird, zum Beispiel einen Diebstahl begeht. Die Person landet dann im Vorstrafenregister – und hat wiederum schlechtere Jobchancen. »Diese Ungleichheit verfestigt sich, auch über Generationen«, sagt Bindler. Dasselbe gilt für die Opfer von Verbrechen: Sie sind überdurchschnittlich oft in prekären Beschäftigungsverhältnissen und haben ein geringeres Einkommen.
Für beide Seiten ist es schwierig, aus ihrer benachteiligten Situation herauszukommen – weil ihre kriminellen Erfahrungen sie erneut zurückwerfen. Das zeigt eine aktuelle Studie von Anna Bindler und ihrer Co-Autorin Nadine Ketel von der Freien Universität Amsterdam. Die Wissenschaftlerinnen haben errechnet, wie sich Verbrechen wirtschaftlich auf Opfer auswirken. Das Ergebnis: Opfer von Straftaten verdienen im Durchschnitt knapp 13 Prozent weniger als vor der Tat. Sie sind außerdem auf bis zu sechs Prozent mehr Sozialleistungen angewiesen.
Für ihre Studie haben Bindler und Ketel auf Registerdaten aus den Niederlanden zurückgegriffen. Dort gibt es Informationen zu kriminellen Vorfällen, in denen Personen pseudonymisiert durch eine Identifikationsnummer erkennbar sind. Über diese Nummer können verschiedene administrative Datensätze zusammengeführt werden. Bindler und Ketel konnten deshalb die Daten über Opfer von Straftaten mit Arbeitsmarkt- und Gesundheitsdaten verknüpfen.
Besonders hoch sind die Werte bei Frauen, die häusliche Gewalt durch ihren Partner erfahren. Ein Jahr nach einem gewalttätigen Übergriff büßen die Frauen durchschnittlich mehr als 14 Prozent ihres Einkommens ein, bei einer gewaltsamen Drohung sinkt ihr Einkommen sogar um knapp 18 Prozent. »Die Einkommen von weiblichen Opfern häuslicher Gewalt erreichen bis zu vier Jahre nach einer Tat nicht das vorherige Niveau«, sagt Bindler. So weit können die Wissenschaftlerinnen das Einkommen mit den verfügbaren Daten schätzen. »Es ist aber durchaus möglich, dass die Effekte darüber hinaus andauern. «
Ihre Studienergebnisse ließen sich teilweise auch auf Deutschland übertragen, vermutet Bindler. Zwar wirkten sich zahlreiche Faktoren wie die Situation auf dem nationalen Arbeitsmarkt und des Gesundheitssystems auf die tatsächlichen Zahlen aus. Vorläufige Studienergebnisse aus anderen nordeuropäischen Ländern sowie Neuseeland seien jedoch zu ähnlichen Ergebnissen gekommen wie in den Niederlanden, so Bindler.
Mehr in Prävention investieren
Diese Erkenntnisse können der Politik hilfreiche Impulse geben. »Politische Entscheidungen, etwa wie viel in die Prävention von Verbrechen investiert wird, werden unter anderem an den Kosten von Kriminalität festgemacht«, sagt Anna Bindler. Und die müssten Regierungen richtig einschätzen, um sinnvoll gegen Kriminalität vorzugehen. Um Kosten von Kriminalität abzusehen, richten sich Politiker*innen nach Schätzungen. Forschende in den USA gehen von Kosten in Höhe von zehn Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) aus. In europäischen Ländern liegen die Schätzungen bei vier bis sieben Prozent des BIP.
Bindler hat die individuellen Opferkosten, die sie in ihrer Studie errechnet hat, mit den Schätzungen verglichen. Mit dem Ergebnis: Bisherige Studien unterschätzten die Kosten von Kriminalität um mindestens zehn Prozent. Politischen Entscheidungen, die sich nach diesen wissenschaftlichen Schätzungen richten, liegen demnach zu geringe Kostenschätzungen zugrunde. Ausgaben für Gewaltprävention könnten höher ausfallen, wenn die Kosten von Kriminalität richtig eingeschätzt würden. »Das würde sich langfristig lohnen, denn gerade die Ausgaben für Opfer machen einen sehr großen Kostenanteil aus«, sagt Bindler. Das umfasst direkte Schäden der Opfer wie medizinische Behandlung oder Sozialleistungen, aber auch indirekte Schäden wie niedrigeres Einkommen.
Zu den Kosten zählen aber auch die langfristigen Folgen einer Viktimisierung – also einer kriminellen Handlung, der eine Person zum Opfer fällt. Diese Folgen kausal nachzuvollziehen, ist schwierig. Einerseits fehlen oft die Daten. Andererseits hängt die für die Opfer wirtschaftlich gravierendste Konsequenz – der Einkommensverlust – von vielen Faktoren ab. Bindler hat mit ihrer Co-Autorin Nadine Ketel dazu drei Annahmen aufgestellt. Die erste: Es könnte eine sogenannte Pfadabhängigkeit geben. Das bedeutet entweder, dass Opfer nach einem Gewalterlebnis arbeitslos werden und bleiben. Oder, dass sie wegen körperlicher oder psychologischer Folgen ihre Jobs wechseln und in schlechter bezahlten Arbeitsverhältnissen landen. Von dort aus ist es schwieriger, wieder einen besser bezahlten Job zu bekommen.
Außerdem könnte das Gewalterlebnis ein Schlüsselmoment sein, der das Leben der Betroffenen verändert. »Vielleicht will ich nach einem gewaltsamen Einbruch nicht mehr in meiner Wohnung leben und ziehe um«, erklärt Anna Bindler. »Oder ich wechsle meinen Job oder trenne mich von meinem Partner.« Diese Entscheidungen könnten neue Herausforderungen in Bezug auf die Familie, den Beruf und die Einkommenssituation bedeuten.
Die dritte Annahme: Opfer könnten auch zu Täter*innen werden. Das Phänomen heißt »Victim-Offender Overlap« und ist aus der Kriminologie bekannt. »Die meisten Opfer werden zwar nicht zu Tätern«, sagt Anna Bindler. »Aber die Gruppen überlappen sich.« Als Alltagsbeispiel nennt sie kriminelle Banden, in denen die Gewaltbereitschaft nach außen und innen hoch sei, wegen Drogenhandels und anderer Delikte.
Eine Opferhilfe, die funktioniert
»Das Effektivste, um die Kosten für Opfer zu vermeiden, ist immer noch, die Kriminalität zu reduzieren«, sagt Anna Bindler. Kurzfristig ginge das über strafrechtliche Maßnahmen, aber langfristige Prävention sei ausschlaggebend. Dazu zählen Maßnahmen für Bildung, Chancengleichheit und Perspektiven junger Menschen auf dem Arbeitsmarkt. Auch Themen wie Gesundheitsfürsorge – insbesondere für die psychische Gesundheit – und Umwelteinflüsse spielen laut der jüngsten Forschungsergebnisse in dem Bereich eine wichtige Rolle bei der Vorbeugung von Kriminalität.
Bindlers Studie liefert indes eine Basis für Überlegungen, wie Opfer richtig unterstützt werden können. »Das kann auch über die finanzielle Kompensation hinausgehen.« Schon heute gäbe es einige Angebote zur Opferhilfe. Bindler: »Welche Maßnahmen sinnvoll sind und gut funktionieren, das ist ein Forschungsthema, das für die Zukunft interessant sein wird.«
ECONTRIBUTE: MARKETS & PUBLIC POLICY
ECONtribute ist der einzige von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Exzellenzcluster in den Wirtschaftswissenschaften, getragen von den Universitäten in Bonn und Köln. Der Cluster forscht zu Märkten im Spannungsfeld zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Ziel ist es, Märkte besser zu verstehen und Marktversagen in Zeiten sozialer, technologischer und wirtschaftlicher Herausforderungen – wie zunehmender Ungleichheit, globalen Finanzkrisen und Digitalisierung – mit einer neuen Herangehensweise zu analysieren.