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Die Kirche im Dorf lassen

Wie Kirchengebäude sinnvoll nachgenutzt werden können

Deutschland wird immer säkularer. Und das nicht erst seit Bekanntwerden der Missbrauchsskandale, die zu einer Welle von Kirchenaustritten geführt haben. Was zurückbleibt, sind leere Kirchengebäude. Das betrifft die Entwicklung von Städten und Dörfern auch jenseits von Glaubensfragen.

Von Eva Schissler

Die Kirche St. Josef im Aachener Ostviertel

Im Aachener Ostviertel, einer traditionellen Arbeitersiedlung, steht die neugotische Kirche St. Josef. Wer heute die im späten 19. Jahrhundert erbaute Kirche betritt, sieht anstelle der üblichen Bankreihen helle Stehlen, in denen sich Nischen mit Urnen befinden. Seit 2006 finden in der Kirche keine Gottesdienste mehr statt, sie wurde zu einer Grabeskirche umgewandelt.

Ein Jahr zuvor waren die Gemeinden St. Fronleichnam und St. Josef zusammengelegt worden. Die katholische Bevölkerung im Viertel, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts noch gewachsen war, nahm in dessen zweiter Hälfte stark ab. Es wurde zu teuer für das Bistum Aachen, beide Kirchengemeinden weiter zu betreiben. Also wurde St. Josef eine Grabeskirche – auch zur Entlastung des in der Nähe gelegenen Aachener Ostfriedhofs, der die Grenzen seiner Kapazitäten erreicht hatte.

Das Modell schrieb Geschichte: Für eine Bestattung in St. Josef gibt es mittlerweile eine Warteliste, und im Bistum Aachen sind seither 14 weitere Kirchen in Grabeskirchen – oder Kolumbarien – umgewandelt worden.

Zwei Regionen, ein Trend

Kirchen sind in unserem alltäglichen Leben mehr als nur Räume, in denen gebetet wird und religiöse Feiern stattfinden. Auch für Nichtgläubige gehören sie irgendwie dazu: Selbstverständlich werden sie unter den wichtigsten Wahrzeichen von Städten geführt, und viele Menschen erfreuen sich am sonntäglichen Glockengeläut. Doch dass es sie gibt, ist nicht selbstverständlich. Wenn kaum noch Gläubige die Gottesdienste besuchen und Kirchensteuer zahlen, stellt sich in den Diözesen und Landeskirchen irgendwann die Frage, wie viele Kirchen überhaupt weiterhin betrieben werden können. Betriebswirtschaftlich nüchtern könnte man sagen: Das Angebot übersteigt die Nachfrage.

Doch so einfach ist es nicht. »Wenn wir uns das Panorama eines Dorfes ganz ohne Kirchturm vorstellen, merken wir vielleicht doch, dass da etwas fehlt«, sagt Professorin Dr. Stefanie Lieb vom Institut für Kunstgeschichte.

Wie es gelingen kann, Kirchengebäude auch nach der Profanierung oder Entwidmung zu erhalten, erforscht Lieb zusammen mit ihrem Team im Rahmen von TRANSARA, einem Verbund von fünf Hochschulen. Die DFG-geförderte Forschungsgruppe untersucht »Sakralraumtransformationen«  seit 1990 im weitesten Sinne. Sie vereint Expert:innen aus der Kunstgeschichte, Theologie, Religionswissenschaft, Architektur und sogar der Immobilienwirtschaft. Unter der Leitung von Stefanie Lieb untersucht eines von sieben Teilprojekten kunst- und architekturhistorische Aspekte der Kirchenumwandlung. Im Juli ging die erste Projektetappe zu Ende, und die Mitglieder diskutierten die bisherigen Ergebnisse bei ihrer digitalen Bonner Tagung »Kirche im Wandel«.

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Der Innenraum von St. Josef, 2006 vom Aachener Architekten Ulrich Hahn zum Kolumbarium umgestaltet. Die Stelen beherbergen Urnen, ein Wasserlauf fließt von einer Quelle im Eingangsbereich zum alten Taufbecken. Über dem Mittelgang hängt ein Lichtobjekt, das an eine Totenbarke erinnert.

TRANSARA konzentriert sich auf zwei Regionen in Deutschland, die sich historisch unterscheiden: Auf der einen Seite das katholisch geprägte Gebiet des Raumes Aachen, das sich vom Niederrhein bis zur Eifel erstreckt. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte diese Gegend aufgrund ihrer Industrie und Braunkohlevorkommen einen starken Bevölkerungszustrom. Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten siedelten sich an, gründeten Gemeinden und bauten ab den 1950er Jahren neue Kirchen.

Dem gegenüber steht der eher evangelisch geprägte Raum Leipzig, wo neben einer Fülle großer, prächtiger Kirchen aus der Spätgotik und dem Barock auch viele kleinere Dorfkirchen zu finden sind. Zu DDR-Zeiten erlebte die Region jedoch eine starke Säkularisierung – eine Entwicklung, die auch nach 1989/90 weiter anhielt. Seit den 1990er Jahren werden viele Kirchen renoviert, doch das geschieht eher aus Gründen des Denkmalschutzes und der historischen Rückbesinnung als aus frommen Motiven.

Über den Gottesdienst hinausdenken

Kirchen sind groß, werden aber nur von wenigen Menschen genutzt. Das ist eins der Grundprobleme, für das das Forschungsprojekt eine Lösung sucht. Und nicht nur sie. Weil es teuer ist, so viel Raum instand zu halten, engagieren die Landeskirchen und Bistümer sogar Finanzund Immobilienberater:innen, um neue Nutzungskonzepte zu entwickeln und so möglichst viele Kirchen zu erhalten. Doch das gelingt nicht immer. Manche Kirchen müssen verkauft werden, im schlimmsten Fall sogar abgerissen. In der Vergangenheit ist dabei Lieb zufolge »nicht immer alles optimal gelaufen «. In Essen beispielsweise seien in den 1990er Jahren sehr viele Nachkriegskirchen der Abrissbirne zum Opfer gefallen. »Dabei wurden die Gemeinden nicht wirklich mitgenommen. Möglicherweise hätte man mit mehr Zeit und besserer Planung einige der Gebäude retten können «, sagt Lieb.

Kriterien zu definieren, die über den Erfolg oder Misserfolg einer Kirchenumnutzung bestimmen, ist eins der wichtigsten Anliegen von TRANSARA. Diese Arbeit steht noch am Anfang, doch eines ist dem Team schon klar geworden: Die Menschen vor Ort müssen beteiligt werden – nicht nur die Gemeinde, sondern auch die Nachbarschaft, der Stadtteil und die Region. Dass ein solcher Prozess begleitet werden muss, haben die Kirchen inzwischen auch selbst erkannt: Im Bistum Aachen gibt es seit zwei Jahren eine Anlaufstelle, die zwischen dem Generalvikariat und betroffenen Gemeinden vermittelt – auch zu der Frage, was für eine Art von Umgestaltung für die jeweilige Kirche am ehesten infrage kommt.

Bei der Fahrradkirche im sächsischen Markkleeberg gelang die Verbindung von sakraler und säkularer Nutzung durch das Engagement von Gemeinde und Bürgerschaft.

Neben der Nachnutzung von »ausgemusterten« Kirchen konzentriert sich die Forschung auch auf die Misch- oder Hybridnutzungen weiterhin bestehender Sakralräume. Damit das funktioniert, müsse jedoch ein Umdenken stattfinden, betont die Architekturhistorikerin: »Die Verantwortlichen müssen sich kritisch fragen, was eigentlich die Funktion einer Kirche ist. In manchen Gemeinden dürfen sie nur für Gottesdienste und andere kirchliche Anlässe genutzt werden. Man kann Kirchen aber auch als öffentliche Räume mit einem spirituellen ›Touch‹ verstehen.«

Sie haben den Raum, wer hat Ideen?

Die verschiedenen Teilprojekte von TRANSARA haben mittlerweile die Kartographierung der beiden Untersuchungsräume abgeschlossen und insgesamt 255 Objekte identifiziert. Aus diesen Objekten werden nun Fallbeispiele ausgewählt und aus den jeweiligen disziplinären Perspektiven betrachtet, denn neben architektonischen Aspekten spielen auch theologische, historische und städtebauliche Überlegungen eine wichtige Rolle.

Häufig werden Kirchengebäude, wie das Aachener Beispiel zeigt, als Grabeskirchen nachgenutzt. Oder aber zu Wohnzwecken, als Seniorenheime oder als Quartierstreff. Im sächsischen Zöbigker, einem Stadtteil von Markkleeberg im Landkreis Leipzig, wurde die im Zweiten Weltkrieg abgebrannte und zu DDR-Zeiten fast verfallene Martin-Luther- Kirche in eine Fahrradkirche umgewandelt, in der Ausflügler Rast machen können. Hier finden auch Gottesdienste statt, es ist also ein Beispiel einer erfolgreichen Hybridnutzung. In der Region gibt es auch noch eine Zirkuskirche, eine Imkerkirche, in der Nähe von Halle ein Jugendzirkuszentrum. »Viele dieser Kirchen sind Magneten für Freizeittouristen und denkmalpflegerisch sehr gut hergerichtet «, sagt Projektmitarbeiter Jakob Scheffel, der zu Kirchen im Aachener Braunkohlerevier promoviert.

Im westdeutschen Untersuchungsraum, in Mönchengladbach, wurde die ehemalige Pfarrkirche St. Peter zu einer Kletterkirche umfunktioniert. Zu Anfang waren nicht alle Anwohner begeistert, doch mittlerweile findet die neue Nutzung der 1933 vom österreichischen Architekten Clemens Holzmeister errichtete Kirche mehr Akzeptanz in der Bevölkerung. Lieb betont: »Bei Kirchengebäuden stellt sich immer auch die Frage einer ›angemessenen‹ Umnutzung. Das ist bei Industriegebäuden oder anderen Gebäudearten nicht der Fall. Bei Kirchen stellen sich natürlich sensible Fragen. Etwa, was mit dem Altar geschehen soll.« So wurde zum Beispiel die sakrale Ausstattung von St. Peter in Mönchengladbach mit Altar, Taufbecken, Tabernakel und Ambo vor dem Umbau zur Kletterkirche entfernt und eingelagert.

Nachkriegskirchen: besser, als ihr Ruf

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(v.l.n.r.): Jakob Scheffel, M.A. (Mitarbeiter im Team Lieb), Prof. Dr. Albert Gerhards (Projektleitung der DFG-Forschungsgruppe, Projekt »Liturgiewissenschaft«, Uni Bonn), Johanna Oedekoven (Mitarbeiterin Team Lieb), Martina Schmitz (Mitarbeiterin im Team Lieb), apl. Prof. Dr. Stefanie Lieb, Prof. Ulrich Königs (Projekt »Architektur«, Uni Wuppertal), Dr. Alexander Radej (Projekt »Liturgiewissenschaft«, Uni Bonn). Die Kirche St. Albanus und Leonhardus im Ort Manheim steht aufgrund der Ausdehnung des Tagebaus Hambach kurz vor dem Abriss.

Im Sommer waren Stefanie Lieb und ihre Mitarbeiter:innen im Raum Aachen unterwegs, um Objekte zu besichtigen und zu erfassen. Die Region ist von Nachkriegskirchen geprägt, die zuweilen als etwas »piefig« gelten. Dabei schlummern hier wahre Schätze, meint die Forscherin: »Die Nachkriegsarchitektur ist spannend und oft sehr hochwertig. « In Westdeutschland sind viele dieser Kirchen von renommierten Architekten wie Gottfried Böhm, Rudolf Schwarz oder Emil Steffann erbaut worden. Doch Nachkriegskirchen seien noch kaum denkmalpflegerisch erfasst. Architekturhistorisch gelten sie als noch nicht alt genug, um als schützenswert eingestuft zu werden. Gleichzeitig drohe momentan überall die Aufgabe und oft auch der Abriss dieser Gebäude aus den 1950er und 60er Jahren.

Es sind die besonderen Raumkonzepte, die diese Kirchen für Lieb und ihr Team so spannend machen: Hier wurde mit Raum experimentiert, mit traditionellen Grundrissen gebrochen. »Statt des klassischen Kirchenschiffs ist der Raum oft offener und karger, geometrische Formen dienen als Dekoration, die Lichtführung ist wichtig. Diese Einfachheit und Klarheit entspricht durchaus heutigen Vorstellungen von Spiritualität«, sagt Lieb. Wo alte Kirchen ein bauhistorisches Sammelsurium bieten, schufen Architekten wie Gottfried Böhm Gesamtkunstwerke, in denen sie von den Fenstern bis zum Altar jedes Detail mit planten.

Nachkriegskirchen stehen häufig in den Vororten größerer Städte, wo neue Siedlungen für die Vertriebenen aus dem Osten gebaut worden waren. Ihr Abriss ziehe oft negative soziale Folgen nach sich, da ein wichtiger sozialer Treffpunkt verschwinde. Doch besonders in urbanen Gegenden ist Raum knapp und umkämpft, öffentliche Interessen konkurrieren mit kommerziellen. »Wenn wir Kirchen als öffentliche Orte für christliche und nicht-christliche Menschen verstehen, können sie einen zeitgemäßen sozialen Zweck in der städtischen Landschaft erfüllen«, sagt Jakob Scheffel. Dazu müsse besonders nicht-christlichen Menschen jedoch die Schwellenangst genommen werden. Zum Beispiel, indem man Kunstausstellungen oder Theaterstücke anbiete.

Darin liege auch eine große Chance: »Die Öffnung für unterschiedliche Gruppen von Menschen könnte dem schlimmen öffentlichen Bild entgegenwirken, das die Kirchen in letzter Zeit abgegeben haben«, fügt Lieb hinzu. Die Kirchentransformation ist in vollem Gange. Den Reichtum und das Potential ihrer vielen Gebäude zu erkennen, könnte zur Rettung für die Institutionen werden – wenn sie die Zeichen der Zeit erkennen und im wahrsten Sinne des Wortes ihre Türen öffnen.