Niklas Luhmann gehört zu den wichtigsten Soziologen des zwanzigsten Jahrhunderts. Berühmt ist auch sein umfangreicher Zettelkasten, der als analoger Vorläufer heutiger Datenbanken gilt. Nun wird Luhmanns Nachlass digitalisiert. Dabei tritt das ausgeklügelte Ordnungssystem des Zettelkastens erstmals vollständig zutage.
Ein Karteischrank aus hellbraunem Holz mit ausziehbaren Schubladen, prall gefüllt mit vergilbten, einzeln zugeschnittenen Zetteln, allesamt in einer häufig schwer lesbaren Handschrift beschrieben. Was auf den ersten Blick unscheinbar und vorsintflutlich erscheint, ist tatsächlich ein Schatz für die Wissenschaftsgeschichte, denn der Zettelkasten gehörte Niklas Luhmann.
Niklas Luhmann (1927–1998) ist neben Max Weber der berühmteste und wirkmächtigste deutsche Soziologe des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Sozial- und Gesellschaftstheorie ist international herausragend und in ihrer Bedeutung allenfalls mit den sozialwissenschaftlichen Theorien von Jürgen Habermas, Pierre Bourdieu oder Michel Foucault vergleichbar.
Luhmann war von 1968 bis 1993 Professor an der Soziologischen Fakultät der Universität Bielefeld. Wollten Soziologen, Historikerinnen und Luhmann-Jünger bisher einen Blick in seine sagenumwobene Sammlung werfen, mussten sie beim Universitätsarchiv einen Forschungsantrag stellen, auf dessen Bewilligung warten und sich dann durch die einzelnen Zettel arbeiten – ein mühseliges und langwieriges Unterfangen. Diese Zeiten sind nun vorbei. In einem Langzeitprojekt ediert und digitalisiert die Universität Bielefeld in Kooperation mit dem Cologne Center for eHumanities (CCeH) der Universität zu Köln Luhmanns Nachlass. Zu diesem Nachlass gehören auch unveröffentlichte Manuskripte, doch der Zettelkasten ist sein Herzstück. Im April ging das Luhmann-Archiv mit ersten Dokumenten online.
Langzeitprojekt
Ziel des Projekts »Niklas Luhmann – Theorie als Passion« ist die Erschließung und Aufbereitung seines wissenschaftlichen Nachlasses. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Bielefeld und Köln digitalisieren und edieren Luhmanns Zettelkasten und seine unveröffentlichten Manuskripte, um sie auf einem Onlineportal zu veröffentlichen. Darüber hinaus bereiten sie eine Printpublikation der wichtigsten Manuskripte vor. Das Projekt läuft von 2015 bis 2030 und wird aus Mitteln der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste finanziert. Projektträger ist das Niklas-Luhmann- Archiv an der Universität Bielefeld.
Das Lebenswerk bewahren
Luhmanns »Kommunikationspartner«, wie er ihn einst nannte, umfasst mehr als 90.000 Zettel, von denen nun die ersten 3.600 auf dem Portal des Luhmann-Archivs als digitale Faksimiles und in einer transkribierten und vollverlinkten Fassung eingesehen werden können. Sie erlauben einen Blick hinter die Kulissen der Ideenentwicklung und Theoriebildung des großen Soziologen. Mit circa 600 Veröffentlichungen, darunter über 40 Monographien zu fast allen Bereichen der modernen Gesellschaft, gehört Niklas Luhmann zu den produktivsten Denkern seiner Zeit. Der Zettelkasten dokumentiert die Arbeit an seinem Lebenswerk: eine Theorie der Gesellschaft auf systemtheoretischer Grundlage zu entwickeln. »Der ideelle Wert des Kastens lässt sich nicht hoch genug einschätzen«, sagt Johannes Schmidt, der die wissenschaftliche Erschließung und Edition des Nachlasses an der Soziologischen Fakultät in Bielefeld koordiniert. »So eine Sammlung gibt es nicht noch einmal – nicht nur, was die Inhalte angeht. Ungewöhnlich ist auch, dass ein Wissenschaftler über einen so langen Zeitraum eine Sammlung mit einem so einzigartigen Ordnungssystem gepflegt hat.«
Dass dieser Nachlass nicht nur einen hohen ideellen, sondern durchaus auch einen materiellen Wert hat, zeigt seine abenteuerliche Geschichte: 2015 erwarb die Universität Bielefeld den Zettelkasten und unveröffentlichte Manuskripte mithilfe von Stiftungsgeldern für einen hohen sechsstelligen Eurobetrag von Luhmanns Erben. Diese hatten sich lange vor Gericht um den Nachlass ihres Vaters gestritten. Während dieser Zeit verwahrte die Universität Bielefeld das kostbare Stück – zeitweilig sogar an einem geheimen Ort. Heute hat Luhmanns Wegbegleiter im Bielefelder Universitätsarchiv ein dauerhaftes Zuhause gefunden.
Die analoge Suchmaschine
Neben dem Blick hinter die Kulissen der wissenschaftlichen Arbeit Luhmanns offenbart die Digitalisierung des Zettelkastens auch die Ordnungsstruktur, mit der er über sein gesamtes Forscherleben seine Gedanken festhielt. »Der digitalisierte Zettelkasten ist zugleich Forschungssubjekt und Forschungsobjekt«, sagt Sebastian Zimmer vom CCeH. »Subjekt in dem Sinne, dass man Luhmanns Gedanken und Thesen nachvollziehen kann und Objekt in dem Sinne, wie der Zettelkasten aufgebaut und organisiert ist.« Zimmer und seine Kollegin Martina Gödel sind in Köln für die technische Umsetzung des Digitalisierungsprojekts verantwortlich.
Niklas Luhmann begann 1953 – als Verwaltungsbeamter in der niedersächsischen Landesregierung –, seine Beobachtungen und Gedanken auf Zetteln zu sammeln. Schon damals legte er eine Struktur fest, die noch vierzig Jahre später funktionieren sollte: ein System ohne hierarchische Gliederung, das beliebig nach innen wachsen kann. Das Prinzip ist so simpel wie genial: Ein Zettel mit einem Gedanken bekommt eine Ordnungsnummer in Form einer Zahl. Schließt sich ein weiterer Gedanke daran an, bekommt der nächste Zettel die darauf folgende Zahl. Schließt sich nun aber ein weiterer Zettel an einen Gedanken auf dem ersten Zettel an, erhält er als Ordnungsnummer zusätzlich zu dessen Zahl einen Buchstaben und wird zwischen beide Zettel gestellt. Danach geht es wieder mit einer Zahl weiter. So entstehen Gedankenstränge, die sich wie Bäume verzweigen. Später legte Luhmann auch noch ein Schlagwortregister an, in dem er für viele Begriffe einige einschlägige Zettelnummern notierte. Ein Inhaltsverzeichnis gab es nie, denn der Kasten änderte aufgrund des Einstellprinzips ja ständig seine innere Ordnung.
Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt sind die Querverweise, die Luhmann über alle 90.000 Zettel des Kastens hinweg schuf. Sie erlaubten es ihm, einen Zettel mit einem an einer ganz anderen Stelle stehenden Zettel zu verbinden, was aufgrund der thematisch unordentlichen Struktur der Sammlung nicht selten war. Aber wie wusste er noch, was er vor zwanzig oder dreißig Jahren zu einem bestimmten Thema wo notiert hatte? »Wie er bei so vielen Zetteln den Überblick behalten hat, wird wohl für immer ein Mysterium bleiben. Er muss ein hervorragendes topografi sches Gedächtnis gehabt haben «, sagt Johannes Schmidt. Es ist dieser Aspekt in der Architektur des Zettelkastens, der in Grundzügen das digitale Verweissystem von Hyperlinks vorwegnimmt, das in den 1960er Jahren erstmals in der Informatik entstand. Betrachtet man den Zettelkasten als Luhmanns persönliches Internet, so waren die Verlinkungen seine Suchmaschine.
Ein zweiter, optimierter Kasten
Dass Luhmanns analoges System »digitalisierungsaffin« ist, erkannte das Team der Bielefelder Soziologen und Kölner eHumanities- Experten schon früh. Doch das Langzeitprojekt überträgt den Zettelkasten nicht einfach in die digitale Welt, es führt ihn gewissermaßen fort und erlaubt die Vervollständigung der Struktur, die Luhmann vor Augen schwebte. »Der größte Mehrwert liegt wohl in der Optimierung der Benutzbarkeit «, sagt Schmidt. »Mit dem analogen Kasten zu arbeiten ist sehr mühsam und aufwendig. Man muss die Schubladen aufziehen, die Zettel durchblättern und, wenn man mehrere Zettel sucht, sie nach dem Finden hochkant stellen, weil man weiteren Verweisen nachgehen muss. Und häufig muss man den Nachvollzug einer Gedankenreihe einfach abbrechen, weil man sonst den Überblick verliert.«
Jetzt erschließt sich die interne Verzweigung und die Vernetzung jedes einzelnen Zettels per Mausklick, da alle Verweise als Links ausgezeichnet werden. Zugleich haben die Editoren ein Navigationsinstrumentarium entwickelt, damit man sich durch die Zettel klicken kann. Unterstützt werden Nutzer und Nutzerinnen dabei durch eine Visualisierung der teilweise extrem verzweigten Zettelfolgen. Auch das Schlagwortregister wird erweitert und ein detailliertes Inhaltsverzeichnis angelegt. Die von Luhmann zitierte Literatur wird in einer eigenen Datenbank festgehalten, wobei bei jedem bibliographischen Eintrag notiert wird, auf welchem Zettel er erwähnt wird. So ergibt sich die zusätzliche Möglichkeit eines literaturbezogenen Einstiegs, die Luhmann zwar konzeptionell geplant, aber nicht umgesetzt hatte.
In gewisser Weise schafft das Projekt somit einen neuen, nutzungsoptimierten Kasten, ein perfektioniertes Abbild des Luhmannschen Möbelstücks, das einst sein Arbeitszimmer in Oerlinghausen bei Bielefeld schmückte. Sowohl der Inhalt als auch das Ordnungssystem werden erst durch die Digitalisierung in ihrem vollen Ausmaß sichtbar – und damit anschlussfähig für weitere Forschung.
Zettelkasten auf Reisen
Die vielen Zettel, die noch bearbeitet werden müssen, werden die Kölner und Bielefelder bis zum Projektende 2030 wohl noch auf Trab halten. »Spannend sind darüber hinaus aber auch die Tonbandaufnahmen, die uns Wissenschaftler und Privatpersonen für das Archiv zur Verfügung stellen. In seinen Vorlesungen hat Luhmann, anders als in seinen Büchern, weniger auf Begriffsstrenge geachtet. Die Verständlichkeit des mündlichen Vortrags war ihm sehr wichtig und er beweist sogar einen feinen Humor, resümiert Johannes Schmidt. Und was wird nun aus dem physischen Zettelkasten mit seiner abenteuerlichen Vorgeschichte? Da bereits alle Zettel digital erfasst sind, ist er nun von der Bürde befreit, den ideengeschichtlichen Wert der Gedanken seines Schöpfers weiter bewahren zu müssen. Er darf mittlerweile sogar auf Reisen gehen. Kürzlich war er im Historischen Museum in Frankfurt am Main zu sehen – ausgerechnet in einer Ausstellung zum Thema »Vergessen«.