Die Augen eines Raubtieres müssen seine Beute genau erfassen können - auch in Bewegung. Solche Augen sind hochkomplexe Organe, Kunstwerke der Evolution. Dass es sie schon viel früher gab als erwartet, zeigt eine Studie der Biologin Dr. Brigitte Schoenemann. Ihr Untersuchungsobjekt: ein Albtraum der Urmeere.
Text von Robert Hahn
Schau mir in die Facettenaugen
Gefunden wurden die allerersten Relikte des Riesenskorpions Jaekelopterus rhenaniae bereits 1914 in Deutschland. Seit 2008 eine 46 Zentimeter lange Klaue des Seeskorpions in Prüm gefunden wurde, weiß man, dass der Jäger bis zu zweieinhalb Meter lang wurde. Dr. Brigitte Schoenemann hat dem Gliederfüßler tief in die Augen geblickt. Die Vertretungsprofessorin für Zoologie am Institut für Biologiedidaktik untersucht die Augen von fossilierten Gliederfüßern. Doch Augen bestehen im Wesentlichen aus weichem Gewebe, ein Problem für Paläontologen: »Bis vor kurzem dachte man noch, dass weiches Gewebe nicht fossiliert und hat diese Körperteile nicht untersucht«, erklärt die Biologin. Knochen, Skelette und Abdrücke waren die Gegenstände der Paläontologie. Ein Irrtum, wie die Wissenschaftlerin herausfand, als sie 2013 das erste Mal einen Computertomographen auf die Augen von Trilobiten richtete, ausgestorbene Verwandten der Krebstiere.
Den Aufbau des ältesten möglichen Facettenauges, das fast völlig erhalten geblieben war, hat die Wissenschaftlerin 2017 beschrieben. Dieses Auge gehörte ebenfalls einem Trilobiten. »Mit etwa 100 Pixeln war die Leistung dieser mehr als eine halbe Milliarden Jahre alten Augen nicht sehr gut. Sie reichte aber aus, dem Trilobiten Informationen über Bewegungen innerhalb seines Blickfelds, etwa sich nähernder Fressfeinde, zu vermitteln. Er nahm eine grobe Helligkeitsverteilung in seiner Umwelt wahr und Facettenauge der Honigbiene konnte so zum Beispiel Hindernissen ausweichen oder Verstecke aufsuchen«, sagt Dr. Schoenemann.
Scharfe Konturen durch eine Kombination von Signalen
Ganz anders verhielt es sich bei dem Seeskorpion. Schoenemann hat anhand von fossilem Material aus der Sammlung des Instituts für Geologie und Mineralogie gezeigt, dass die Augen von Jaekelopterus rhenaniae denen seiner heutigen Verwandten, der Pfeilschwanzkrebse, stark ähnelten. Letztere sind jedoch aufgrund der höheren Facettenzahl sehr viel schärfer. Versteinertes Facettenauge eines Seeskorpions Auch die Augen moderner Pfeilschwanzkrebse bestehen aus Facetten, sogenannten Ommatidien. Anders als beispielsweise bei Insekten, die Facettenaugen mit einer einfachen Linse besitzen, sind die Ommatidien der Pfeilschwanzkrebse mit einem Linsenzylinder ausgerüstet, der das einfallende Licht kontinuierlich bricht und zu den Sinneszellen weiterleitet. Diese rosettenartig angeordneten Sinneszellen gruppieren sich um einen zentralen Lichtleiter, das Rhabdom. Es ist Teil der Sinneszellen, die einfallenden Lichtsignale in Nervensignale umformen und an das zentrale Nervensystem weiterleiten. »Im Zentrum des Lichtleiters befindet sich bei den Pfeilschwanzkrebsen der Ausläufer einer hochspezialisierten Zelle, die die Signale benachbarter Facetten so verschalten kann, dass Konturen schärfer wahrgenommen werden können«, sagt Schoenemann.
Das Phänomen ist auch bei vielen komplexeren Sehsystemen bekannt und beruht auf der sogenannten lateralen Hemmung, wobei hell beleuchtete Sinneszellen das Signal ihrer Nachbarzelle hemmen. Dadurch entstehen größere Kontraste. »Das kann vor allem unter diffusen Sichtverhältnissen im Ozean sehr nützlich sein«, erklärt die Wissenschaftlerin. Im digitalen Licht- und im Elektronenmikroskop zeigte sich, dass die Augen des urzeitlichen Jägers die gleichen Strukturen wie die des Pfeilschwanzkrebses aufwiesen. Linsenzylinder, Sinneszellen und sogar die hochspezialisierten Zellen ließen sich klar ausmachen: ein kleiner heller Punkt in der Mitte des Rhabdoms, im Zentrum der Facetten.
»Dieser helle Punkt gehört zu einer besonderen Zelle, die heutzutage nur bei Pfeilschwanzkrebsen vorkommt, offensichtlich aber schon bei den Eurypteriden vorhanden war«, sagt die Biologin. »In ihrem ganzen Aufbau sind die Systeme identisch.« Daraus folgt, dass es sehr wahrscheinlich schon vor 400 Millionen Jahren eine Kontrastverstärkung gegeben hat. Die scharfen Augen des Jaekelopterus rhenaniae machten die Riesenskorpione zu den gefürchtetsten Jägern in den weiten Meeren der Urzeit.
Der Aufbau ihrer Augen verrät nun, wie der Riesenskorpion Beute jagte. »Jaekelopterus jagte wahrscheinlich nach den zeitgleichen Panzerfischen und hatte mit seinem Sehapparat Vorteile im trüben Meerwasser«, sagt Schoenemann.
Präzise Sehapparate gab es schon früh
Die ältesten Fossilien von Seeskorpionen sind 470 Millionen Jahre alt. Sie starben vor ungefähr 250 Millionen Jahren, am Ende des Perm-Zeitalters aus – zusammen mit ungefähr 95 Prozent aller Meereslebewesen.
Es war das größte der fünf großen Massenaussterben der Erde. Die neuen Erkenntnisse verifizierten nicht nur, dass die Seeskorpione entfernte Verwandte der Pfeilschwanzkrebse waren. Auch für die Evolution des Auges sind die Ergebnisse von Brigitte Schoenemanns Forschungen wichtig: Die Augen des Riesenseeskorpions verfügten bereits über eine Kontrastverstärkung. Diese Entdeckung deutet darauf hin, dass sich evolutionär schon sehr früh sehr scharfe Augen entwickelten, die eine räuberische Lebensweise ermöglichten.
Paläontologie – Die Paläontologie untersucht Fossilien, also versteinerte Überreste ausgestor-bener Organismen. Die Auswertung von Funden aus unterschiedlichen Gesteinsschichten liefert Erkenntnisse über die Evolution von Lebewesen – auch mit Hinblick auf Umwelt- und Klimaveränderungen. Damit lässt sich die Entwicklung und Veränderung von pflanzlichem und tierischem Leben auf der Erde nachvollziehen.
Facettenaugen – Diese Augenform, auch bekannt als Komplexaugen, setzt sich aus Einzelaugen zusammen, die aus einer Linse und einer Sinneszelle bestehen. Obwohl sie insgesamt nicht so empfindlich sind wie Linsenaugen, ist ihre zeitliche Auflösung besser. Facettenaugen sind daher gut für die Wahrnehmung von Bewegungen oder für das Sehen aus einer schnellen Bewegung wie bei der Jagd.
Ommatidien – Ommatidien sind die »Einzelaugen« der Facettenaugen. Je nach Tierart verfügt das Facettenauge über einige wenige bis viele Tausend Ommatidien.
Jaekelopterus rhenaniae
In Zusammenarbeit mit Dr. Markus Poschmann von der Generaldirektion Kulturelles Erbe RLP, Direktion Landesarchäologie/Erdgeschichte und Professor Dr. Euan N.K. Clarkson von der Universität Edinburgh (Schottland) untersuchte Dr. Brigitte Schoenemann die fossilierten Augen des Seeskorpions Jaekelopterus rhenaniae, die in der Sammlung des Instituts für Geologie und Mineralogie der Universität zu Köln liegen.