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»Das Völkerrecht hat einen langen Atem«

Völkerrechtler Prof. Claus Kreß zu den Prozessen gegen Folterer des syrischen Regimes

Im Februar 2021 wurde der Syrer Eyad A. vom Oberlandesgericht Koblenz zu einer Haftstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt, im Januar 2022 folgte die Verurteilung seines Landmannes Anwar R. Die Urteile gelten als historisch, denn hier wurden erstmalig Angeklagte wegen systematischer Folter im Auftrag des Assad-Regimes verurteilt. Der Völkerrechtler Professor Dr. Claus Kreß erstattete dem UNSicherheitsrat Bericht. Seine Prognose: Man wird weitere Täter zur Rechenschaft ziehen.

Das Gespräch führte Robert Hahn

Herr Professor Kreß, Sie haben Ende November letzten Jahres beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen über die Koblenzer Strafprozesse berichtet. Wie kam es dazu?

Claus Kreß: Die Sitzung vom 29. November folgte einem besonderen Format, das sich in der Praxis des Sicherheitsrates herausgebildet hat, um auch solche Debatten führen zu können, die zumindest einer Vetomacht im Rat unliebsam sind. In diesem Fall wählte Estland dieses Format, und der »Internationale, Unabhängige und Unparteiische Mechanismus der Vereinten Nationen (VN) zur Unterstützung der Strafverfolgung von Völkerrechtsverbrechen in Syrien« (IIIM) leistete bei der Vorbereitung der Sitzung Unterstützung.

Dabei sollte auch das im Februar 2021 vom Oberlandesgericht Koblenz gefällte Strafurteil zur Sprache kommen. Das Besondere: Das Gericht hatte nicht nur eine Verurteilung wegen Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgesprochen, sondern auch festgestellt, dass sich die Taten des Angeklagten in einen Angriff gegen die Zivilbevölkerung in Syrien eingefügt hatten, der vom Assad-Regime ausging.

Welches Ziel hatte die Sitzung?

Claus Kreß: Ich vermute, dass es einmal darum ging, den Opfern der Verbrechen in Syrien zu zeigen, dass der Sicherheitsrat ihr Leid nicht aus den Augen verliert. Zum zweiten wollte man vermutlich Russland signalisieren: Wir lassen trotz der Blockade des Sicherheitsrats bei den in Syrien begangenen Untaten nicht locker. Schließlich ging es um die Botschaft an andere Staaten: Es ist unter Umständen möglich, auf der nationalen Ebene zur Ahndung solcher Verbrechen tätig zu werden – auch und vielleicht gerade dann, wenn der Sicherheitsrat nicht handelt.

Was genau wollte der Sicherheitsrat von Ihnen wissen und wie ist Ihr Bericht aufgenommen worden?

Claus Kreß: Ich sollte über den ersten Koblenzer Prozess berichten und ihn völkerrechtlich einordnen. Ich war einer von vier Berichterstattern. Die Chefin des Syrienmechanismus, die französische Juristin Catherine Marchi-Uhel, berichtete über dessen Arbeit. Besonders eindrucksvoll waren die Berichte von zwei syrischen Opfern. Ihre Schilderungen machten den Schrecken in Syrien anschaulich – und zugleich standen sie dafür, dass es trotz der brutalen Repression nicht gelungen ist, die tapferen Stimmen des Arabischen Frühlings verstummen zu lassen.

Was meinen Bericht angeht, so geschieht es nicht alle Tage, dass die Arbeit einer nationalen Strafjustiz in demjenigen Gremium, das für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens zuständig ist, eine solche Beachtung findet.

Der zentrale Grund für dieses bemerkenswerte Interesse an dem Koblenzer Urteil bestand in dessen Aussage, dass hinter dem ausgedehnten und systematischen Angriff gegen die Zivilbevölkerung in Syrien niemand anders steht als die syrische Regierung selbst. Das war zuvor, wenn ich recht sehe, weltweit von keinem anderen Strafgericht als Ergebnis einer umfänglichen Beweisaufnahme festgestellt worden. Daraus ergab sich die internationale Signalwirkung, die umso bedeutsamer war, als aufgrund der Haltung Russlands einstweilen nicht mit einem Verfahren vor einem internationalen Strafgerichtshof zu rechnen ist.

In ihren Stellungnahmen in der Sitzung haben zahlreiche Staaten ausdrücklich oder zwischen den Zeilen Anerkennung für die deutsche Strafjustiz zum Ausdruck gebracht. Die französische Vertreterin sprach von einem historischen Prozess.

Professor Dr. Claus Kreß berichtete vor dem UN-Sicherheitsrat. Deutschland hat bei den Koblenzer Verfahren als erstes Land umfangreiche Belege für syrische Staatsfolter vorgelegt

Gab es auch negative Stimmen?

Claus Kreß: Es gab keine einzige Stimme, die die deutsche Justiz oder Deutschland wegen dieses Urteils direkt angegriffen hätte, aber natürlich gab es auch nicht von allen Seiten Beifall. Im Vorfeld stellte sich die Frage, ob Russland überhaupt teilnehmen würde. Aber Russland war dabei und hat seine sattsam bekannte Position bekräftigt, wonach es keine Verbrechen des syrischen Regimes gibt. Dieses wehre sich vielmehr gegen eine anhaltende terroristische Bedrohung. Mit großer Kühle gegenüber internationalen Anstrengungen, die für die Verbrechen in Syrien Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, hat sich erwartungsgemäß auch China geäußert. Nicht ermutigend war, dass Indien einen recht ähnlichen Standpunkt wie China eingenommen hat. Die Stellungnahmen Russlands, Chinas und Indiens haben einen schonungslosen Blick auf die Schwierigkeit der internationalen Lage erlaubt, aber damit eben auch die Wichtigkeit einer Sitzung wie dieser deutlich gemacht.

Was ist das Besondere an den Koblenzer Urteilen?

Claus Kreß: Angeklagte waren jeweils ehemalige syrische Geheimdienstmitarbeiter, die ihre Taten auf Befehl der Staatsmacht begangen hatten, bevor sie sich von ihrem Regime abgewandt und nach Deutschland gelangt waren. In einer solchen Konstellation ist die Durchsetzung des Völkerstrafrechts zugleich besonders wichtig und besonders schwierig: Solange das verbrecherische Regime an der Macht ist, sind Prozesse gegen die eigenen Leute vor Ort ausgeschlossen. Wenn ein solches Regime überdies eine Vetomacht zum Verbündeten hat, dann findet zumeist auch lange Zeit kein internationales Strafverfahren statt. Das ist der Moment, in dem die Normen nur vor einem nationalen Gericht im Ausland durchgesetzt werden können.

Warum ist es außergewöhnlich, in diesem Fall ein nationales Gericht zu betrauen?

Claus Kreß: In einem solchen Fall fehlt dem auswärtigen Staat nach dem traditionellen, ganz dem Gedanken der staatlichen Souveränität verpflichteten Verständnis die Gerichtsbarkeit, um tätig zu werden. Denn es fehlt in einem solchen Fall ja an einer spezifischen Verbindung der Tat mit dem auswärtigen Staat, in Gestalt insbesondere von Tatort oder Staatsangehörigkeit von Täter oder Opfer. Vor einem nationalen Strafgericht genießen außerdem auswärtige Staatsorgane, die ihre Taten in amtlicher Funktion begangen haben, sogenannte funktionelle Immunität.

Weshalb konnten die Verfahren in Koblenz trotzdem durchgeführt werden?

Claus Kreß: Das Völkerstrafrecht weicht von dem traditionellen Verständnis in der Form zweier Prinzipien ab, die in Koblenz mit Leben gefüllt worden sind: Das eine ist das Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit. Es beruht auf der Grundüberlegung, dass es einen kleinen Kreis von Straftaten gibt, die wir Völkerstraftaten nennen, die das Interesse der Internationalen Gemeinschaft als Ganzer betreffen. Über diese Straftaten kann jeder Staat universelle Gerichtsbarkeit ausüben, er kann mit anderen Worten Strafverfolgung auch ohne eine besondere Verbindung zur Tat betreiben.

Das zweite Prinzip ist die Unanwendbarkeit der funktionellen Immunität. Beide Prinzipien sind mit dem Völkerstrafrecht bereits seiner Grundidee nach verbunden. Insofern gehen sie zurück auf die Geburtsstunde des Völkerstrafrechts: den Nürnberger Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher. Ein herausragend wichtiger nationaler Strafprozess war später der Eichmann-Prozess in Israel. Dort haben die Richter die beiden Prinzipien mit großem Nachdruck bekräftigt. Doch bleiben Prozesse selten, die kraft universeller Gerichtsbarkeit gegen ausländische Staatsorgane geführt werden. Deren Bedeutung geht daher über die Anwendung der beiden genannten Prinzipien stets hinaus. Sie liegt auch in deren Bestätigung und damit deren Konsolidierung. Das gilt für die Nichtanwendung des Prinzips der funktionellen Immunität ganz besonders. Denn gegen dieses Prinzip ist auf der internationalen Ebene in den letzten Jahren von so manchem Staat auch Skepsis und Kritik laut geworden. Auch insoweit senden die Prozesse in Koblenz ein Signal aus.

Reichen die völkerrechtlichen Prinzipien alleine, um einen solchen Prozess führen zu können?

Claus Kreß: Dass diese Prozesse in Deutschland geführt werden konnten, lag zum einen daran, dass sich die Angeklagten und viele Zeugen in Deutschland befanden. Als sehr hilfreich erwies sich im Übrigen die zwischenstaatliche Zusammenarbeit der Strafverfolger und die Unterstützung durch den Syrien-Mechanismus. Nicht zuletzt stand dem Generalbundesanwalt die sogenannte Cäsar-Akte zur Verfügung, eine Datei mit fürchterlichsten Bildern zu Tode gefolterter Menschen. Sie wurde für den Prozess von Herrn Kollegen Rothschild, dem Leiter der Rechtsmedizin an unserer Universität, und seinem Team untersucht. Die Einschätzung, die Professor Rothschild als Sachverständiger im Prozess abgegeben hat, war von ganz herausragender Bedeutung, um ein Muster von Folterungen in den Gefängnissen des syrischen Geheimdienstes belegen zu können.

Wie sieht die Zukunft des Völkerstrafrechts in Syrien selbst aus?

Claus Kreß: Das Völkerstrafrecht ist zu seiner Durchsetzung sehr häufig auf einen langen Atem angelegt. Auch die Aufarbeitung der deutschen Untaten hat, um nur ein uns nahes Beispiel zu nennen, ausgesprochen lange gedauert. Im Moment sieht es in Syrien düster aus. Denn das Assad-Regime sitzt seit geraumer Zeit wieder ziemlich fest im Sattel. Irgendwann aber mag es auch in Syrien rechtsstaatliche Strukturen geben, die die Durchführung von Prozessen vor Ort möglich machen.

Diese Hoffnung hege ich nicht einfach ins Blaue hinein. In New York bin ich sehr eindrucksvollen jungen syrischen Oppositionellen begegnet, die einer besseren Zukunft ihres Landes verschrieben bleiben. Und dasselbe gilt für eine sehr kluge und kompetente aus Syrien geflüchtete Völkerrechtlerin, die seit Jahren Teil meines Teams ist. Es fehlt in Syrien also weder an intellektuellen Fähigkeiten noch an Idealismus. Es gilt, mit Geduld und Beharrlichkeit darauf zu setzen, dass sich die Rahmenbedingungen über die Zeit so verändern, dass beides zur Entfaltung gelangen kann.