An fremden Personen und Gruppen fällt uns zuerst auf, was sie von uns unterscheidet. Das kann dazu führen, dass Stereotype entstehen und wir »die Anderen« ablehnen. Der Sozialpsychologe Dr. Hans Alves erforscht soziale Vergleichsprozesse. Denn keiner von uns begegnet seiner Umwelt ganz ohne Vorurteile.
Von Jan Voelkel
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat Jahr für Jahr mehr zu tun. 2019 sind erneut mehr Hilferufe wegen Diskriminierung eingegangen als im Jahr davor. Am häufigsten ging es dabei um rassistische Diskriminierung. Jeder Dritte der insgesamt 3.580 Fälle, in denen Menschen von Benachteiligung im Alltag oder am Arbeitsplatz wegen ihres Aussehens, Geschlechts, der Religion oder anderer Faktoren berichteten, hatte mit Rassismus zu tun. Diese ernüchternde Tendenz ist seit Jahren steigend. Seit 2015 haben sich die Fälle mehr als verdoppelt – von 545 auf 1.176. Es scheint, als nähmen Diskriminierung und Ausgrenzung in unserer Gesellschaft allgemein zu. Gleichzeitig ist die Diskussion darüber ins öffentliche Bewusstsein gerückt: Die Black Lives Matter-Bewegung oder Debatten über strukturellen Rassismus in Polizei und Bundeswehr machen immer wieder Schlagzeilen. »Zunächst einmal sind Vorurteile und Ressentiments etwas völlig Normales«, sagt der Sozialpsychologe Dr. Hans Alves. Das mag provokant klingen. »Aber um etwas zu verändern, ist es wichtig zu verstehen, wie Vorurteile überhaupt entstehen.«
In seiner Forschung geht Alves den Herausforderungen gesellschaftlicher Vielfalt und den psychologischen Prozessen nach, die bei der Entstehung negativer Einstellungen und Stereotypen gegenüber Minderheiten wirken. Damit ist er mitten drin in den gesellschaftlichen Debatten, die uns jeden Tag umgeben. Nicht zuletzt die Relevanz des Themas brachte ihm einen ERC Starting Grant ein – einen der begehrtesten europäischen Förderpreise für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Theorien über die Bildung von Vorurteilen gibt es in der Sozialpsychologie zwar schon lange. Die meiste Forschung ging bisher allerdings davon aus, dass eine – wenn auch unbewusste – Motivation dahintersteckt: Wir möchten, dass es der eigenen Gruppe besser geht als den anderen, möchte Ressourcen und Wohlstand nicht teilen, um sie zu schützen. »Ich habe da einen anderen Ansatz, der zusätzliche Erklärungen bietet und ohne die Annahme auskommt, dass die Leute egoistisch motiviert sind«, sagt Alves. Stereotype seien universell und entstünden durch bestimmte kognitive Prozesse: »Unsere Wahrnehmung und die Art und Weise, wie wir Informationen verarbeiten, sind einfach darauf angelegt.«
Die Unterschiede machen uns aus
Wenn wir fremden Menschen oder Gruppen begegnen, vergleichen wir sie mit Bekanntem und bewerten sie daraufhin. Der Knackpunkt: Anstatt auf die Gemeinsamkeiten zu schauen, ticken wir offenbar so, dass wir die Unterscheide am ehesten wahrnehmen. Denn erst über das, was uns unterscheidet, erfahren wir, was andere Gruppen ausmacht. »Wenn ein neues Handy auf den Markt kommt, schauen wir darauf, was das neue Modell besonders macht. Die Information, was im Vergleich zum Vorgänger gleich geblieben ist, hilft für unsere Bewertung nicht weiter«, erläutert Alves. Die Unterschiede charakterisieren das Produkt. Das ist dem Sozialpsychologen zufolge in der sozialen Welt genauso.
» Unterschiede nehmen wir am ehesten wahr.«
So ordnen wir unsere Umwelt und unterscheiden ständig und in allen Lebensbereichen zwischen »Uns« und »den Anderen«: Europäer und Amerikaner, Männer und Frauen, Vegetarier und Fleischesser, Köln-Fans und Gladb... Naja, Sie wissen schon. Letztlich unterscheiden wir auch zwischen Deutschen und Ausländern oder Einheimischen und Flüchtlingen. Und an dieser Stelle kann es problematisch werden.
Leider bewerten wir die Unterschiede, die wir wahrnehmen, oft negativ. »Positive Eigenschaften eignen sich nicht zur Differenzierung «, so Alves. Stellen Sie sich ein hübsches Gesicht vor. Gesichter, die wir als attraktiv wahrnehmen, ähneln sich und teilen bestimmte Eigenschaften. Sie sind symmetrisch, haben glatte Haut und bestimmte Proportionen. Da gibt es wenig Spielraum. Weniger attraktive Gesichter sind deutlich vielfältiger. Eine krumme Nase, ein Muttermal, große Ohren – das Negative hat eine viel größere Variation und ist daher oft das, was uns Menschen voneinander unterscheidet.
Schuldzuweisungen sind nicht zielführend
Ausgehend davon, dass wir bei Neuem und Fremdem auf die Unterschiede schauen, ist die Wahrscheinlichkeit daher hoch, dass wir nach dem Negativen gucken. So entstehen negative Bilder – ganz ohne Motivation. Alves spricht daher von »unschuldigen Erklärungen « für Vorurteile: Diejenigen, die Ziel der Vorurteile werden, tragen keine Schuld. Doch auch diejenigen, die Ressentiments bilden, tun dies oft nicht in böser Absicht. »Es ergibt wenig Sinn, sich die Schuld zuzuschieben. Dennoch können die Konsequenzen natürlich sehr negativ sein«, sagt der Forscher.
Die Vorurteile, denen viele Menschen begegnen, beruhen also auf ganz natürlichen kognitiven Prozessen. Demjenigen, der sich an die Antidiskriminierungsstelle wendet, ist mit dieser Erklärung sicherlich nicht geholfen. Aber um in den Dialog zu treten und zu schauen, wie man Dinge verändern kann, muss man Alves zufolge zunächst verstehen, wie eine verzerrte Wahrnehmung und Darstellung zustande kommt: »Da müssen andere Interventionen her als zu sagen: ›Mit euch rede ich nicht. Ihr seid Nazis.‹«
Mediale Berichterstattung verstärkt Vorurteile
Wenn Vorurteile ohne Motivation, sondern durch unsere selektive Wahrnehmung der Umwelt entstehen, liegt ein anderer Faktor auf der Hand, der uns prägt: der Medienkonsum. Nachrichten sind eine zentrale Informationsquelle, besonders für Dinge und Sachverhalte, die wir nicht in unmittelbarer Umgebung mit den eigenen Augen beobachten können. »Wenn man im täglichen Leben keinen Migranten begegnet, sondern Informationen nur über die Medien bekommt, würde wahrscheinlich auch ein Computer, der die Informationen gefüttert bekommt, zu dem Schluss kommen, dass dies eine potentiell gefährliche Gruppe ist«, meint Alves. Denn Medien berichten über das Besondere. Alltägliches hat keinen Nachrichtenwert. Die Schlagzeile »Migrant hat beim Bäcker zwei Roggenbrötchen gekauft« wird es nicht geben.
Bei der Berichterstattung über Straftaten werde die Minderheitenzugehörigkeit häufiger genannt, weil sie ein distinktes Merkmal ist. Begeht ein Deutscher eine Straftat, werde dies nicht explizit benannt. Das führe aber dazu, dass man die Assoziation Deutscher- Straftäter gar nicht erst aufbaut. Migranten werden hingegen verstärkt mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Es entsteht ein Missverhältnis in der Wahrnehmung. Alves: »Das führt auch oft zu einem Unverständnis. Leute auf der einen Seite sagen: ›Wie bescheuert seid ihr denn, dass ihr solche Vorurteile habt?‹ Und die auf der anderen sagen: ›Wie bescheuert seid ihr denn? Ich denk mir das ja nicht aus.‹« Im Endeffekt entstehen Spannungen gegenüber Minderheiten sowie innerhalb der Mehrheitsgesellschaft.
Der Deutsche Presserat empfiehlt, in der Berichterstattung über Straftaten die Zugehörigkeit der Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann zu erwähnen, wenn dies für das Verständnis des Vorgangs nötig ist. Allerdings stecken Medienschaffende in einem Dilemma. »Wenn Journalisten die Nationalität nennen, entstehen schnell Vorurteile. Wenn sie diese Information aber weggelassen, sind heutzutage Teile der Leserschaft misstrauisch und gehen mitunter auf die Barrikaden«, erläutert Alves.
In seiner aktuellen Forschung untersucht er explizit die Entstehung von Stereotypen durch Medien. Bei der Sächsischen Zeitung etwa ging das im Zuge der »Flüchtlingskrise « so weit, dass die Redaktion 2016 beschloss, die Nationalität immer zu nennen – auch bei Deutschen. »Das ist eine Strategie, bei der ich auch in Experimenten testen möchte, ob und wie sie funktioniert«, so Alves.
Sächsische Zeitung – Vor dem Hintergrund der PEGIDA-Proteste und der sogenannten »Flüchtlingskrise « entschied die in Dresden erscheinende Sächsische Zeitung 2016, sich in Ihrer Berichterstattung über Straftaten nicht mehr nach dem Pressekodex zu richten. Stattdessen nannte sie immer die Nationalität der Beteiligten. Unter der Überschrift »Fakten statt Gerüchte « begründete die Chefredaktion die Maßnahme damit, dass man versuche, »Minderheiten zu schützen«, indem man keinen Raum für Gerüchte aufkommen lässt. Studien, ob diese Strategie aufgeht, gibt es bisher nicht. Viele große Medienhäuser kritisierten die Sächsische Zeitung damals für ihre Entscheidung. Eine Studie des Journalismusforschers Thomas Hestermann von Ende 2019 kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass Medien heute immer öfter die Herkunft oder Staatsangehörigkeit von Verdächtigen von Gewaltdelikten nennen. Die größte Verzerrung gab es demnach in der Fernsehberichterstattung 2017. Dort wurden ausländische Staatsangehörigkeiten 25 Mal so oft genannt, wie es nach der polizeilichen Kriminalstatistik plausibel wäre. 2019 war es immer noch 19 Mal so oft. Ähnlich ist die Tendenz in Berichten überregionaler Zeitungen.
Vorurteile mithilfe von Aliens erforschen
Wie genau Alves in Experimenten herausfinden will, wie Vorurteile entstehen und wirken, erscheint etwas skurril. Denn um kontrollierte Laborbedingungen zu schaffen, hilft nur die Abstraktion. Die Lösung: Aliens. Außerirdische assoziieren wir nicht mit bestimmten Charaktereigenschaften. Wir verbinden sie nicht mit bestimmten Kontexten und Vorgängen. Vielmehr dienen Sie als Leerstellen, die befüllt und verändert werden können. »Im Labor sitzen bei uns Versuchspersonen am Computer und lernen cartoon-artige Aliengruppen, deren Eigenschaften und Verhaltensweisen kennen«, sagt Alves. »Die Versuchspersonen sollen sich darüber eine Meinung und ein Urteil bilden. Das kann ich dann sehr sauber durch ganz bestimmte Variablen manipulieren. Welche Gruppe ist vertraut? Was kommt hinzu? Welche Gruppe ist in der Mehrheit und welche in der Minderheit?« So analysiert der Wissenschaftler präzise die Faktoren, die beeinflussen, welche Stereotypen ausgebildet werden.
Mehr Begegnung
Die gute Nachricht ist, Stereotype sind wandelbar und Vorurteile können abgebaut werden. Ebenso wie wir bei Fremdem am ehesten die Unterschiede wahrnehmen, werden die Gemeinsamkeiten deutlicher, je vertrauter Menschen und Gruppen werden. Im Umkehrschluss ist das auch der Grund, warum Vorurteile gegenüber Anderen besonders dort stark verbreitet sind, wo es wenige gibt, denen man im Alltäglichen begegnen kann. »Wenn das Neue aber nicht mehr neu ist, sondern vertrauter, dann wird der Unterschied zwischen Distinktem und Geteiltem weniger groß«, resümiert Alves, der den direkten Kontakt als wichtigstes Gegenmittel zur Spaltung der Gesellschaft sieht. Denn im Endeffekt gibt es bei aller Diversität, bei aller ethnischer und religiöser Vielfalt doch mehr, was Menschen miteinander gemein haben.