Achim Truger ist Professor für Sozioökonomie und Mitglied im Sachverständigenrat der »Wirtschaftsweisen«. Der Alumnus der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät plädiert für weniger Exportorientierung und massive öffentliche Investitionen in Deutschland. Dass das auf Kosten der nachkommenden Generationen geschieht, hält er für einen Trugschluss.
Das Gespräch führte Eva Schissler
Herr Professor Truger, Sie haben sich in Ihrem VWL-Studium in Köln auf den Bereich öffentliche Finanzen spezialisiert. Warum gerade diesen?
Als ich mein Studium im Wintersemester 88/89 begann, gab es einen riesigen Ansturm auf die WiSo-Fakultät. Die Grundlagenveranstaltungen waren daher gigantisch. Ich komme nicht aus einem akademischen Elternhaus und das war für mich enorm einschüchternd. Im Hauptstudium wurde es überschaubarer und wir hatten mehr Kontakte, auch zu den Professoren. Ich habe dann viele Veranstaltungen bei Klaus Mackscheidt belegt, der den Lehrstuhl für wirtschaftliche Staatswissenschaften mit Schwerpunkt Finanzwissenschaft innehatte. Dort gab es einige außergewöhnlich engagierte Assistentinnen und Assistenten. Und Professor Mackscheidt war in der Lehre sehr interessant, sodass ich dann selbst in der Finanzwissenschaft gelandet bin.
Nach dem Studium habe ich am Seminar für Finanzwissenschaft bei Klaus Mackscheidt promoviert und parallel am Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstitut, einem An-Institut der Uni, verschiedene Projekte gemacht, unter anderem zur ökologischen Steuerreform.
Heute sind Sie Professor an der Universität Duisburg-Essen und Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, den sogenannten »Wirtschaftsweisen«. Worin besteht die Arbeit des Rates?
Wir sind ein unabhängiges Expertengremium, das die Bundesregierung, die Wirtschaftspolitik und die gesamte Öffentlichkeit berät. In unserem Mandat sind vier wirtschaftliche Ziele festgelegt: Preisstabilität, hoher Beschäftigungsstand, angemessenes stetiges Wirtschaftswachstum und außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Wann immer wir in Bezug auf diese Ziele Probleme oder Verbesserungsmöglichkeiten sehen, äußern wir uns dazu.
Vor allem verfassen wir ein Jahresgutachten, das immer von einer großen medialen Aufmerksamkeit begleitet wird. Wir übergeben es in der ersten Novemberhälfte der Bundesregierung, und im Januar muss sie dann dazu Stellung nehmen. Der Titel des letzten Gutachtens klingt sehr mahnend und warnend: »Versäumnisse angehen, entschlossen modernisieren«.
Um welche Versäumnisse geht es da konkret?
Es liegt auf der Hand, dass bei vielen zukunftsorientierten Ausgaben – Infrastruktur, Verkehr, Verteidigung – viel versäumt wurde und das Land jetzt modernisiert werden muss. Tätig werden muss die Politik in verschiedenen Bereichen. Dazu gehören eine Stärkung des Güterverkehrs, die Dekarbonisierung und die Verbesserung der Infrastruktur insgesamt. Aber auch Themen wie schulische Bildung oder Wohnungsnot in Ballungsräumen sind eng mit Wohlstand und Wachstum verknüpft.
Die Ampelkoalition ist an der Frage der Finanzierung dieser Investitionen durch eine Reform der Schuldenbremse zerbrochen. Kann eine Modernisierung überhaupt ohne neue Schulden gelingen?
Vieles, was der Staat macht, sollte nicht über Kredite finanziert werden. Aber gerade bei zukunftsorientierten Ausgaben, von denen kommende Generationen profitieren, ist es sinnvoll, diese Generationen auch an der Finanzierung zu beteiligen. Die Schuldenbremse war seit ihrer Einführung immer umstritten, und ich gehörte schon früh zu ihren Kritikern. Das heißt allerdings nicht, dass man sie ersatzlos streichen und es gar keine Regeln mehr geben sollte. So, wie sie eingeführt wurde, ist sie allerdings zu streng. Es gibt nicht genügend Spielräume zur Finanzierung von öffentlichen Investitionen oder Zukunftsausgaben. Außerdem braucht es in der Erholungsphase nach der Wirtschaftskrise infolge der COVID-19-Pandemie mehr Spielraum zur Konjunkturstabilisierung. Die Finanzpolitik darf nicht sofort wieder auf die Bremse treten, sondern muss vorsichtig wieder zur finanziellen Strenge zurückkehren.
Der Sachverständigenrat vertrat zuletzt den Standpunkt, dass etwas höhere Schulden für Investitionen in die großen Bereiche Bildung, Verteidigungsfähigkeit und Infrastruktur sinnvoll sind. Aus meiner Sicht käme auch noch die Widerstandsfähigkeit gegen den Klimawandel hinzu.
Ist das Sondervermögen von 500 Milliarden Euro, das im März im Bundestag beschlossen wurde, ein Schritt in die richtige Richtung?
Ja, das ist es. Die Verfechter der strengen Schuldenbremse sind mittlerweile in die Defensive geraten. In der Politik haben sich die SPD und sie Grünen schon länger offensiv für eine Reform ausgesprochen. Die CDU hat sich lange Zeit schwergetan, aber dass Friedrich Merz nun gemeinsam mit diesen Parteien eine Grundgesetzänderung angestoßen hat, ist absolut richtig – nicht nur in Anbetracht der veränderten Weltlage. Auch die ganzen Nachholbedarfe und Versäumnisse bei den öffentlichen Investitionen können in den laufenden Haushalten gar nicht untergebracht werden.
Neben dem Sachverständigenrat sprechen sich im Übrigen auch weitere Gremien schon lange für eine stabilitätsorientierte Form der Schuldenbremse aus. Die Bundesbank ging in der Vergangenheit deutlich über unsere Empfehlungen hinaus. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Internationale Währungsfonds (IWF) waren ebenfalls für eine Reform.
Der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands beruhte lange Jahre auf Sicherheitsgarantien durch die USA, billiger Energie aus Russland und Export vor allem nach China. Alle drei Pfeiler wanken gerade oder sind schon eingestürzt. Wie kann sich das Land neu aufstellen?
Die Frage ist tatsächlich, wie es mit diesem stark industriellen und exportorientierten Geschäftsmodell weitergeht. In einer Phase, in der die Weltwirtschaft sich gut entwickelt hat, viele Schwellenländer sich weiter industrialisierten und entsprechend Maschinen kauften, war das super. Besonders China war ein enormer Exportund Wachstumsmotor für Deutschland. Heute hat China in den Bereichen, in denen Deutschland stark war, aufgeschlossen. Das Land expandiert im eigenen Markt, aber auch auf Drittmärkten, und macht Deutschland dort Konkurrenz.
Bürokratieabbau ist immer gut und der Fachkräftemangel sollte behoben werden. Akut brauchen wir aber eine expansive Finanzpolitik und wir müssen die Infrastruktur auf Vordermann bringen. Zur Infrastruktur gehört auch die Energiewende, sodass erneuerbare Energie wirklich günstig wird. Die Industrie braucht in dieser Frage eine klare Perspektive. Wenn diese Investitionen gelingen und insgesamt die öffentlichen Haushalte nicht in Kürzungen getrieben werden, dann wäre das gleichzeitig ein Wandel in Richtung binnenwirtschaftlicher Orientierung, der die extrem riskante außenwirtschaftliche Orientierung etwas eindämmen würde.
Bremsen in Deutschland auch die hohen Lohnnebenkosten das Wachstum aus?
Die Lohnnebenkosten finanzieren zunächst Dinge, die für viele – auch die Wirtschaft – Vorteile bringen. Deutschland kann keine Billiglohnstrategie fahren, Kürzungen führen unweigerlich zu Problemen. Wir müssen auf hohe Pro duktivität setzen, um gegen China und andere Konkurrenten auf dem Weltmarkt anzukommen. Deregulierung und Privatisierung, Sozialkürzung, Staat klein halten, das funktioniert alles in der jetzigen Situation nicht. Was sollen allgemeine Steuersenkungen bringen, wenn eigentlich klar ist, dass investiert werden muss? Der neoliberale Ansatz hat sich überlebt und passt nicht mehr gut in die heutige Zeit. Eher sollten Unternehmen durch gezielte Investitionsanreize entlastet werden, sodass ihre weitere Entwicklung in die richtige Richtung geht – etwa in Richtung Klimaneutralität.
Halten Sie eine Vermögensteuer für sinnvoll, um Mittel für die nötigen Investitionen zu generieren?
Die Forschung zu den Auswirkungen einer ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung hat in den letzten Jahren sehr zugenommen. Die Risiken, wenn sehr viel Reichtum, und damit auch politische Macht, in den Händen weniger konzentriert sind, können wir aktuell an den Entwicklungen in den USA sehen. Eine Milliardärssteuer oder eine starke Reichensteuer einzuführen, wäre daher sehr sinnvoll, am besten international koordiniert.
In Deutschland liegt eine Reform der Erbschaftsteuer nahe, denn bei uns sind die Privilegien bei der Vererbung von Betriebsvermögen stark ausgeprägt. Mein Vorschlag wäre, eine Mindesterbschaftssteuer auf Betriebsvermögen von 15 Prozent einzuführen – mit großzügigen Stundungsmöglichkeiten, sodass die Betriebe nicht überfordert werden. Das allein könnte das Aufkommen der Erbschaftssteuer fast verdoppeln. Dieses Geld würde unmittelbar in die Länderhaushalte fließen und könnte dort zum Beispiel in die frühkindliche und schulische Bildung investiert werden.
Die Weltwirtschaft wird gerade durch eine erratische Zollpolitik der USA ins Chaos gestürzt. Wie schätzen Sie die Folgen für Deutschland und Europa ein?
Das Risiko, dass Präsident Trump in den USA die Zölle erhöht, haben wir schon in der Konjunkturprognose des aktuellen Gutachtens zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung behandelt. Wenn er wirklich die nun angekündigten Zölle auf Waren aus der EU erhebt und weitere Verhandlungen scheitern, stürzt Deutschland in die Rezession. Da rächt sich wieder die extreme Exportabhängigkeit Deutschlands.
Unabhängig davon, was andere Staaten jetzt tun: Verteidigungs- und klimapolitisch muss sich die EU auf ihre Stärken besinnen und selbstbewusst die Größe des eigenen Binnenmarkts in die Waagschale werfen.
Achim Truger ist seit 2019 Mitglied des Sachverständigenrates Wirtschaft. Seit 2019 ist er Professor für Sozioökonomie, Schwerpunkt Staatstätigkeit und Staatsfinanzen an der Universität Duisburg-Essen. Nach seiner Promotion an der Universität zu Köln 1997 war er als Leiter des Referates »Steuer- und Finanzpolitik« in der Hans-Böckler- Stiftung in Düsseldorf tätig. Von 2012 bis 2019 war er Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Makroökonomie und Wirtschaftspolitik an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin. Von 2015 bis 2017 war er Prodekan des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften an der HWR.
Achim Truger hat auf zahlreichen Gebieten der makroökonomischen Wirtschaftspolitik sowie der Finanzwissenschaft geforscht und publiziert und ist in der wissenschaftlichen Politikberatung für Regierungen, Parlamente, Gewerkschaften und NGOs von der internationalen bis zur kommunalen Ebene aktiv.
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