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Das Chaos im Gehirn messen

Künstliche Intelligenz: Neue Wege, um Psychosen zu diagnostizieren

Eine ungewohnliche Kooperation bringt Medizin und Geisteswissenschaften zusammen, um neue Wege zu finden, Psychosen zu diagnostizieren. Moglich wird das auch durch Kunstliche Intelligenz. Sie liefert Daten daruber, was eigentlich »normal« ist.

Eva Schissler

Es fängt schleichend an: Ein Gesicht auf einem Werbeplakat sendet eine geheime Botschaft, deren Inhalt jedoch unklar ist. Wochen später entsteht der Eindruck, die eigenen Gedanken würden kontrolliert. Möglicherweise kommen noch fremde Stimmen im Kopf, ein Gefühl des Krabbelns auf der Haut oder scheinbar verzerrte Gesichter auf der Straße hinzu.

Wir Menschen verlassen uns auf unsere Sinneswahrnehmung und auf unsere Fähigkeit, alltägliche Eindrücke und Zusammenhänge richtig zu erkennen und zu deuten. Zweifelt jemand diese Fähigkeit an, denken wir vielleicht zunächst an »Gaslighting«: Die Person will uns eine falsche Realität einreden, obwohl wir doch das Gegenteil sehen, hören und spüren.

Bei der Psychose ist es umgekehrt. Das Gehirn empfängt wirklich falsche Sinneseindrücke, kann nicht mehr einordnen, was logisch zusammenhängt und was nicht. Es ist eine beängstigende Situation, in der nahestehende Menschen oft kein Gehör finden, wenn sie diese Gedanken anzweifeln. Zu logisch erscheint das Konstrukt, mit dem psychotische Patient*innen versuchen, aus den falschen Eindrücken ein sinnvolles Gesamtbild zusammenzufügen.

Genaue Zahlen gibt es nicht, doch Schätzungen zufolge erkranken circa drei Prozent aller Menschen im Verlauf des Lebens mindestens einmal an einer Psychose. Die Gründe dafür sind vielfältig: Neben körperlichen Ursachen wie einer Gehirnverletzung, einem Hormonungleichgewicht oder dem Konsum psychoaktiver Substanzen kann eine Psychose auch ganz ohne äußere Einflüsse auftreten. Obwohl es eine genetische Veranlagung gibt, ist der genaue Auslöser in diesen Fällen unklar. Manche Menschen erleiden nur eine einzige psychotische Episode, andere mehrere, und wieder andere finden gar nicht mehr aus dem Zustand heraus. In den meisten Fällen helfen Medikamente und Psychotherapie, die geistige Gesundheit wiederzuerlangen.


Mehr als Kommunikation

Um eine Psychose zu diagnostizieren, sind Psychiaterinnen und Psychiater auf den Selbstbericht von Patient*innen angewiesen. Die Diagnose ist zwar relativ zuverlässig, doch sie unterliegt auch im besten Fall der subjektiven ärztlichen Einschätzung. Die Linguist*innen Professor Dr. Klaus von Heusinger und Dr. Derya Çokal vom Institut für deutsche Sprache und Literatur I sowie der Psychiater Professor Dr. Joseph  Kambeitz wollen im Rahmen des Forschungsprojekts »LAMBDA:  Language Markers and Brain Dysfunction in Early Psychosis« dazu beitragen, bessere Diagnosewerkzeuge zu entwickeln. Joseph Kambeitz, Leiter des Früherkennungs- und Therapiezentrums für psychische Krisen (FETZ) an der Uniklinik, sagt: »Da vieles in der Psychiatrie über Sprache läuft, ist eine Kooperation mit der Linguistik naheliegend.«

 

Auf dem Weg zu einer besseren Psychosediagnostik: Joseph Kambeitz, Derya Çokal und Klaus von Heusinger

Das Team geht von der Annahme aus, dass Sprache über den Selbstbericht des Betroffenen hinaus wichtige Hinweise auf eine Psychose geben kann. Denn Sprache ist nicht nur ein Mittel zur Kommunikation, sie bringt auch zum Ausdruck, ob die sprechende Person in der Lage ist, strukturiert zu denken. Darüber hinaus gehört zu den typischen Anzeichen einer Psychose, dass Betroffene Stimmen hören oder dass sie im Gespräch einen Themenwechsel nicht sprachlich anzeigen, sondern zwischen verschiedenen Themen hin und her springen. Somit ist der Bezug zur Sprache bereits im Krankheitsbild offenkundig.

Die Forscher*innen suchen nach Mustern, die spezifische Fehler in der Verarbeitung von Sprache ausdrücken. »Wir wollen einen linguistischen Biomarker identifizieren, der für die Gehirndysfunktion typisch ist, die zur Psychose führt«, sagt Derya Çokal, Postdoktorandin am Sonderforschungsbereich 1252 »Prominence in Language«, in dem Klaus von Heusinger zwei Projekte leitet.

Als Biomarker von Erkrankungen dienen im besten Fall Gene, Proteine oder Hormonveränderungen. Bei mentalen Erkrankungen sind sie oft nicht so konkret. Dass bestimmte Sprachfehler typisch für mentale Störungen oder Fehlfunktionen sind, ist für andere Krankheiten jedoch bereits erwiesen. »Seit dem 19. Jahrhundert gibt es Studien über die Aphasie, besonders bei Kriegsversehrten, die eine Gehirnverletzung erlitten hatten«, sagt Klaus von Heusinger. Bei dieser Krankheit können Betroffene entweder gar nicht mehr sprechen, oder aber das Gesagte ergibt keinen Sinn.

Das ist auch nach einem Schlaganfall typisch. »Die Ärzte schlussfolgerten, dass bestimmte kognitive Fähigkeiten durch bestimmte Hirnareale und ihr Zusammenspiel kontrolliert werden«, so der Linguist. Seither seien die Methoden und Fragestellungen differenzierter geworden, doch das Grundmodell treffe auf viele mentale Störungen zu. Studien über Alzheimer zeigten etwa typische Fehler im Gebrauch von Pronomen, die den Beginn der neurodegenerativen Erkrankung anzeigen.


Künstliche Intelligenz und Hightech-Geräte

Die Kölner Gruppe ist nicht die einzige, die die Psychose aus linguistischer Perspektive in den Blick nimmt, doch eine besondere Kombination von Methoden macht das vergleichsweise kleine Projekt einzigartig: Das Team sammelt Sprachproben von Patient*innen in der Frühphase einer erstmalig auftretenden Psychose sowie von einer Kontrollgruppe. Diese Konzentration auf das Frühstadium ist wichtig, um die reinen Symptome einzufangen, bevor eine Diagnose, eventuelle Krankenhausaufenthalte oder der weitere Verlauf das Ergebnis beeinflussen.
Diese Proben werden daraufhin mit großen Sprachmodellen (Large Language Models) abgeglichen. Diese Modelle beruhen auf einer großen Ansammlung von Beispielen alltäglicher Sprache durch Künstliche Intelligenzen wie ChatGPT. Sie sagen statistisch wahrscheinliche Wiederholungen von Syntax und Sprachfluss vorher und können so typische Merkmale normaler Sprache identifizieren.

Gemeinsam mit dem internationalen Projektpartner Professor Dr. Wolfram Hinzen in Barcelona hat das Team auch Sprachproben aus dem Englischen, Spanischen und Türkischen ausgewertet – nach den Kriterien des DISCOURSE-Konsortium (Consortium for Research in Thought, Language and Communication in Psychosis), sodass am Ende generalisierbare Ergebnisse standen. »Untersuchungen zur Schizophrenie haben bereits gezeigt, dass sich die Sprachstörungen immer gleichen – auch bei Sprachen mit völlig unterschiedlicher Struktur und Syntax«, sagt Çokal.

Zusätzlich werden die Hirnaktivitäten der Proband*innen per Magnetresonanztomographie (MRT) untersucht: Im Scanner hören sie eine Geschichte, deren narrative Struktur gestört ist. Diese Inkohärenz würde normalerweise Stress für die Sprachverarbeitung verursachen. Das Forschungsteam vermutet, dass die Gehirne von gesunden und psychotischen Proband*innen unterschiedlich auf diese Dissonanz reagieren, da bei der beginnenden Psychose die Netzwerke, die für Kohärenz zuständig sind, gestört sind.

 

LAMBDA: Language Markers and Brain Dysfunction in Early Psychosis

Das Forschungsprojekt erforscht an der Schnittstelle von biologischer Psychiatrie, Linguistik und kognitiven Neurowissenschaften linguistische Indikatoren für eine Psychose. Es stellt Verbindungen zwischen diesen sprachlichen Markern und den zugrundeliegenden Hirnfunktionsstörungen dieser Erkrankungen her. Die Forschungsergebnisse fließen in Diagnose- und Prognoseverfahren der klinischen Psychiatrie ein und schaffen ein neues Verständnis der Rolle von Sprache im psychotischen Denken.
Neben Professor Dr. Klaus von Heusinger, Dr. Derya Çokal und Professor Dr. Joseph Kambeitz  gehören auch Professor Dr. Kai  Vogeley, der die AG Soziale Kognition an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie leitet, und Professor Dr. Wofram Hinzen von der Universitat Pompeu Fabra in Barcelona zum Team.

UOC FORUM

LAMBDA wird im Rahmen von UoC Forum, der internen Förderlinie des UoC Excellent Research Support Program, von 2023 bis 2025 mit circa 200.000 Euro gefördert. Die Förderlinie UoC Forum richtet sich an innovative Kooperationsprojekte, die den wissenschaftlichen Austausch innerhalb der Universität sowie mit Partnern der Research Alliance Cologne (RAC) unterstützen. Die ausgewählten Projekte sollen die strategische Entwicklung der Universität vorantreiben und kooperative Strukturen aufbauen. Die Förderlinie wird alle zwei Jahre ausgeschrieben. Die nächste Ausschreibung erfolgt im 3. Quartal 2024. erfolgt im 3. Quartal 2024.

Der Fokus liegt auf dem sogenannten Default Mode Network des Gehirns. Dieses Netzwerk ist typischerweise im Ruhezustand aktiv und wird unterdrückt, sobald wir uns konkreten Aufgaben widmen. Bei Psychosen werden besonders hier Veränderungen vermutet. Zudem werden Proband*innen im MRT verschiedene Sprachsequenzen präsentiert und das Forschungsteam untersucht die Reaktion des Gehirns auf Änderungen der Satzstruktur. Außerhalb des MRT lösen die Proband*innen zusätzlich Aufgaben und beantworten Fragen. Das ermöglicht es den Forschenden, Veränderungen in der freien oder gesteuerten Sprachproduktion bei psychotischen Erkrankungen zu untersuchen. »Auch hier stellen wir und unsere Projektpartner Menschen in verschiedenen Ländern die gleichen Aufgaben in ihrer jeweiligen Sprache«, sagt Derya Çokal.


Bessere Prognosen

Das Forschungsvorhaben ist auch ein Beispiel dafür, wie Künstliche Intelligenz – hier in der Form der großen Sprachmodelle – in der Medizin eingesetzt werden kann. Für Joseph Kambeitz und seine Kolleg*innen stellt sich dabei nicht nur die Frage nach der Diagnose, sondern auch nach dem weiteren Krankheitsverlauf. »Prognosen sind viel schwieriger«, sagt der Psychiater. »In den Lehrbüchern heißt es, ein Drittel der Patienten erleidet nur eine psychotische Episode, ein Drittel hat wiederkehrende Episoden und ein Drittel wird chronisch krank.« Doch einzelnen Patient*innen könne man nicht vorhersagen, zu welcher Gruppe sie gehören werden – eine große Belastung für die Betroffenen. Er hofft, dass KI in Zukunft auch präzisere Vorhersagen möglich macht.

Zunächst arbeitet das Team daran, eine bessere Methode für die Frühdiagnose zu entwickeln. So kann die medizinische Behandlung noch vor einer ausgewachsenen psychotischen Episode einsetzen. Das würde den weiteren Schaden für Patient*innen minimieren, schließlich geht die Krankheit oft mit Entfremdung, Jobverlust und sozialer Isolation einher. Ein psychiatrisches Diagnoseverfahren auf der Grundlage linguistischer Erkenntnisse würde laut Derya Çokal »einen erheblichen Fortschritt für die mentale Gesundheitsversorgung« bedeuten.