24. Juni 2016: der Tag des Brexit-Schocks. Die britischen Wähler haben mehrheitlich für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Premierminister David Cameron kündigt seinen Rücktritt an, Führungskrisen bei den Tories und der Labour Party erschüttern die Öffentlichkeit, wendige Politiker suchen ihre Möglichkeit, Brüssel reagiert verärgert. Ein Land und die Union sind im Aufruhr. Im Fernsehstudio des Senders Phoenix steht Wolfgang Wessels und gibt Antworten und Erklärungen. Der Politikwissenschaftler vom Jean-Monnet- Lehrstuhl sagt: „Wir müssen versuchen, mit Vernunft neue Regelungen zu finden.“ Im Interview erklärt er, weshalb die EU doch demokratisch ist und warum Boris Johnson auch keine schlechte Wahl als Premierminister gewesen wäre. Er meint: „Das ist nicht das Ende der Union.“
Herr Professor Wessels, hat sich seit dem Brexit Ihr Arbeitsalltag verändert?
Ach wissen Sie, wir hatten schon öfter Krisen, die in der Öffentlichkeit und den Medien besondere Aufmerksamkeit hervorriefen. Diesmal gab es einen besonders starken Ausschlag, das muss ich zugeben, aber ganz außergewöhnlich ist das natürlich nicht.
Was wird sich nun im Verhältnis der Europäischen Union zu Großbritannien verändern?
Das hängt davon ab, wer auf beiden Seiten die Verhandlungspartner sind. Meine Hoffnung ist, dass beide Seiten nüchtern an die Verhandlungen herangehen und die Interessen vergleichen. Es gibt ein starkes Interesse der Briten, weiterhin am europäischen Binnenmarkt teilzunehmen. Und es gibt auch auf europäischer Seite Interessen, mit den Briten zu kooperieren. Wenn man vernünftig verhandelt, dann kann man doch ein relativ stabiles Verhältnis erwarten, bei dem viele Probleme angesprochen werden, es aber auch deutlich wird, dass die Briten nicht mehr mit am Tisch sitzen. Das müssen sie eben akzeptieren.
Direkt nach dem Brexit haben viele europäische und nationale Politiker verkündet, dass es keinerlei „Rosinenpickerei“ für die Briten geben werde. Kann es für einen so wichtigen Handelspartner wirklich keine Sonderregelungen geben?
Ich gehe nicht davon aus, dass es ein Modell geben wird, wie wir es zum Beispiel mit Norwegen oder in etwas anderer Form mit der Schweiz haben. Dafür ist Großbritannien zu wichtig – auch für andere Fragen, die wir im internationalen Kontext zusammen angehen müssen. Das bedeutet aber auch, dass die EU dafür etwas verlangt: Für gewisse Rechte muss es auch Pflichten geben. Das muss ausgehandelt werden. Das wird nicht einfach sein, denn es wird in Großbritannien weiterhin einen innenpolitischen Druck von den Brexit-Anhängern geben, nach dem Motto: „Wenn Ihr zu viele Zugeständnisse macht, wofür scheiden wir dann aus?“ Die EU-Seite wird dagegen den freien Zugang zum Arbeitsmarkt fordern. Bei solchen Verhandlungen weiß man natürlich nie genau, wie es am Schluss endet.
Glauben Sie, dass sich die Briten gegen die EU durchsetzen können?
Ich bin relativ optimistisch, dass wir auf beiden Seiten kluge Beamte haben, die Formeln finden, die sicherlich sehr komplex aussehen werden, die aber einen ausreichenden Konsens darstellen. Wichtig ist, dass sowohl in Großbritannien als auch in der EU die Bereitschaft besteht, aufeinander zuzugehen. Das Ergebnis muss auch noch eine Mehrheit im EU-Parlament bekommen und den europäischen Ministerrat passieren, das wird nicht einfach zu machen sein.
Welche Qualitäten sollte die neue Premierministerin mitbringen?
Wichtig scheint mir zu sein, ob Theresa May ausreichend Unterstützung mobilisieren kann, das Ergebnis der Verhandlungen durchzusetzen. Boris Johnson wäre auch eine gute Lösung gewesen. Der hätte dann hart verhandelt und gesagt: Das ist jetzt das, was wir bekommen konnten. Viele Brexit-Anhänger hätten das dann akzeptiert. Deshalb ist er ja auch in die Regierung geholt worden.
May steckt jetzt in einer Zwickmühle. Die Premierministerin war gegen den Brexit, muss aber eine starke Position innerhalb der Konservativen und ein Programm haben, mit dem die Konservativen die nächste Wahl gewinnen können. Das scheint mir viel wichtiger zu sein als ihre persönliche Position. Häufig ist es auch so, dass die schärfsten Gegner einer Sache nachher, wenn sie in Verantwortung genommen werden, dann doch eine sinnvolle Politik betreiben.
Wird es Vorgespräche geben?
Die offizielle Position die alle betont haben ist, dass es keine geben wird. Die EU fordert damit eine klare Aussage des Scheidens. Das ist taktisch erst einmal sinnvoll; ob es in den Verhandlungen praktisch ist, muss man dann sehen. Die Kommission wird die Verhandlungen durchführen. Fraglich ist, ob die Kommission oder der Rat dabei federführend ist. Das ist in den offiziellen Dokumenten nicht geklärt. Der Rat wird es sich nicht nehmen lassen, auch aktiv zu werden, so dass die bilateralen Beziehungen von Großbritannien zu wichtigen EU-Staaten auch eine Rolle spielen werden. Es wird also eine übliche Verhandlungskonstellation geben: Kommission oder Rat können nur agieren, wenn sie die Unterstützung der Mitgliedsstaaten haben.
Wie wird sich das Machtgefüge in der EU nach dem Ausscheiden Großbritanniens verändern?
Das Gewicht von Deutschland wird größer werden. Unsere Regierung will das zwar nicht, denn wenn man mehr Macht hat, dann hat man auch mehr Verantwortung. Führungsmacht muss man auch durch entsprechende Angebote unterfüttern: Man muss dann selbst auch bereit sein zu helfen. Die Zunahme von Einfluss bringt also nicht nur Vorteile. Die deutsche Machtzunahme löst in kleineren Mitgliedsstaaten bestimmt nicht nur Freude aus. Viele kleinere osteuropäische Staaten haben Großbritannien als Gegengewicht zu Deutschland und der deutschfran zösischen Achse begriffen. In diese Rolle könnte jetzt Italien geraten.
In der Presse wurde eine Systemkrise der EU beschworen. Manche plädieren für eine Verlagerung von Zuständigkeiten zurück auf die Nationalstaaten und unterstellen der EU sogar ein Demokratiedefizit.
Ich sehe das als eine sehr bedauerliche und sehr bedrohliche Diskussion. Wir sollten nicht vergessen, dass die heutige EU-Politik uns nicht vom Himmel heruntergefallen ist. Sie ist den Europäern auch nicht von der EU-Kommission oder den USA aufgedrängt worden, sondern die 28 Staaten der EU haben sie zusammen beschlossen. Die von uns gewählten Regierungshäupter im Europäischen Rat haben sie beschlossen, das von uns gewählte EU-Parlament und die von uns gewählten nationalen Parlamente haben sie auch ratifiziert.
Wir suchen in Europa immer sehr viel Konsens, um keinen der 28 Mitgliedsstaaten zu isolieren. Alle haben ein gewisses Gewicht, das führt zu Kompromissen und diese Kompromisse führen zur Komplexität. Die gibt es allerdings auch in der bundesdeutschen Politik, zum Beispiel beim Finanzausgleich. Das sind aber die Kosten von Demokratie.
Manche stören sich daran, dass das Mehrheitsprinzip nicht durchgängig zu Geltung kommt.
Die EU ist nicht als Mehrheitsdemokratie gedacht, wo man mit 51 zu 49 Prozent regiert. Dabei geht natürlich viel Transparenz verloren. Damit ist die EU kein Musterknabe, aber sie ist ein Produkt einer Politik, wie wir sie auch aus Deutschland kennen. Wir sollten uns deshalb davor hüten, Forderungen zu stellen wie: „Wir wollen jetzt den Präsidenten der EU-Kommission wählen, indem wir Referenden durchführen.“ Sie werden feststellen, dass alle kleinen Mitgliedsstaaten dagegen sind, denn die wissen genau: Wenn man eine Mehrheitsabstimmung macht, dann zählen die Deutschen, die Franzosen und die Italiener – aber die Stimmen der Malteser und der Niederländer, die gehen verloren. Wenn Sie zum Beispiel an CETA denken: Da hat die Kommission gesagt, dass Parlament und Ministerrat das Abkommen verabschieden können. Das führt zu Protest. Oder nehmen Sie das Beispiel mit den Geldern, die an Griechenland geflossen sind: Es sind nationale Gelder, das Budget der EU ist zu klein dazu. Da kann das EU-Parlament gar nicht entscheiden. Also, dass das EU-Parlament mehr Rechte haben soll, das können wir in der Wahrnehmung der Bürger so nicht feststellen.
Welche Aufgaben muss die EU in den nächsten Jahren bewältigen?
Da denke ich mal zehn Jahre zurück: 2006 gab es noch keine Wirtschaftskrise, keine Lehman Brothers, es gab keinen Ukrainekonflikt, die Migrationsbewegungen waren erkennbar, aber nicht in den Größenordnungen, wie wir sie jetzt haben. Damals wurde viel über Klimapolitik gesprochen. Es ist sehr wenig voraussehbar, welche Probleme wir auf Dauer haben werden, aber gerade das zeigt ja, wie wichtig diese Union ist. Es gibt für alle Probleme einen Raum, in dem man sich austauscht oder sogar gemeinsam etwas unternimmt. In den nächsten zwei oder drei Jahren sehe ich einen großen Bedarf in der Terrorismusbekämpfung, wo die Zusammenarbeit anscheinend nicht funktioniert. Was man da über die Zusammenarbeit von belgischen und französischen Sicherheitsbehörden erfahren hat, lässt einem die Haare zu Berge stehen. Da sieht man wieder die nationalstaatlichen Vorbehalte, die dazwischen treten, bloß, dass Terroristen sich nicht um solche Vorbehalte kümmern. Der Klimawandel wird ein Problem bleiben, die ökonomischen Unterschiede zwischen dem europäischen Norden und dem Süden werden uns weiter beschäftigen. Die Palette der gemeinsamen Probleme ist groß. Und bei den meisten sehe ich, dass man sie am besten durch die bewährten Verfahren der EU löst, einschließlich des europäischen Gerichtshofes, denn es ist international gesehen eine Besonderheit der EU, einen solchen Schiedsrichter zur Verfügung zu haben.
Viele Politiker und Leitartikler befürchten jetzt einen Domino-Effekt bei den „Exits“: Frexits, Nexits oder wieder mal den Grexit. Glauben Sie, dass der Brexit eine Kaskade von Austritten anstoßen wird?
Ich bin optimistisch, dass sich der Brexit nicht so stark auswirken wird. Eine Reihe von Reaktionen machen deutlich, dass man die Briten gerne in der EU gehalten hätte und ihr Ausscheiden bedauert, weil man sie braucht. Und zwar in einer EU, die man für grundsätzlich richtig hält. Ich fand es sehr interessant, dass der Brexit europaweit dafür stand, gemeinsam etwas an der Union zu verbessern. Das positive Grundgefühl für die Union ist viel stärker, als ich erwartet habe.