Jahrzehntelang schlummerte in der Theaterwissenschaftlichen Sammlung ein reicher Fundus an Glasplattennegativen. Dank der Einwerbung von Fördergeldern des Landes NRW konnten diese nun erschlossen und digitalisiert werden. Ein faszinierendes Panoptikum der Theater- und Fotografiegeschichte tritt zutage.
Zwei Treppen nach oben, einmal quer über den Dachboden, drei Treppen wieder runter und dann nach rechts. Wer das Labyrinth von Schloss Wahn betritt, den erwartet eine Fülle von Materialien bis in den letzten Winkel hinein. Nicht ohne Grund gehört die Theaterwissenschaftliche Sammlung, die das Schloss seit den 50er Jahren beherbergt, zu den größten Dokumentationsund Forschungszentren der Theaterwissenschaft weltweit. Grundstock bildet dabei die Sammeltätigkeit ihres Gründers Carl Niessen, der von 1919 bis zu seinem Tod im Jahr 1969 unzählige Objekte zu verschiedensten Bereichen des Theaters zusammengetragen hat – von Programmheften und Rezensionen über Masken und Marionetten bis hin zu anschaulichen Bühnenbildentwürfen, Fotografien und Gemälden. Seit 2012 wird die Sammlung von Professor Peter W. Marx geleitet.
Nora Probst, Mitarbeiterin am Institut für Medienkultur und Theater, kennt die verschlungen Wege im Schloss in und auswendig. Zielstrebig steuert sie auf einen kleinen Raum zu, in dem sich hunderte kleine Pappschachteln in einem Regal bis unter die Decke stapeln. Diese Schachteln sind mittlerweile leer. Denn die Glasplattennegative, die sich noch bis vor wenigen Wochen darin befanden, stehen im Zentrum eines von Marx initiierten Projekts, das von der Landesregierung Nordrhein-Westfalens und der Universität zu Köln zwischen November 2013 und Januar 2015 mit rund 60.000 Euro gefördert wurde. „Aus diesem eher kleinen Etat konnte ein beachtliches und öffentlich zugängliches Erschließungsprojekt realisiert werden – mit substantiellem Nutzen für die Theaterforschung“, so Marx. Und Probst ergänzt: „Wir sind froh, dass wir dank der Förderung zügig mit den Maßnahmen beginnen konnten. Der Bestand war bereits vom Verfall bedroht.“ Zusammen mit vier studentischen Hilfskräften hat die Wissenschaftlerin die insgesamt 3800 Aufnahmen aus der Zeit zwischen 1914 und 1932 behutsam gereinigt, vermessen, gescannt und nach neuesten Erkenntnissen in säurefreie Mappen umgelagert. Die digitalen Reproduktionen wurden anschließend auch online archiviert – der Erhalt der Bilder ist damit doppelt gesichert.
Glasplattennegative mit Silbergelatinebeschichtung gehörten zwischen 1840 und 1940 zu den gängigsten Trägermaterialien der Fotografie. Sie zeichnen sich durch eine enorme Tiefenschärfe sowie eine erstaunlichedigitalen Fotografie ihresgleichen sucht. Werden sie jedoch nicht mit äußerster Sorgfalt behandelt, korrodieren die empfindlichen Silbergelatineoberflächen und es entstehen irreparable Schäden. „Diesen Prozess konnten wir nun stoppen“, erklärt Probst.
Ein Glücksfall. Denn was in den Schachteln lagerte, entpuppte sich als faszinierender Fund zu zwei Bereichen gleichzeitig: dem Münchner Theaterleben der 1920er und 1930er Jahre sowie dem Fronttheater des Ersten Weltkriegs. „Wir haben schon lange geahnt, dass jene Glasplattennegative unsere fotografische Sammlung bereichern würden. Jetzt haben wir Gewissheit“, schildert Probst. „Sowohl aus fotografiegeschichtlicher als auch aus theaterwissenschaftlicher Perspektive sind sie von großer Bedeutung.“ Nach einer Reihe aufschlussreicher Außenaufnahmen aus dem Kriegstheater betrifft dies vor allem die Münchner Bilder. Denn diese könnten, so die Wissenschaftlerin, die Theatergeschichte Münchens gerade durch ihre Vielschichtigkeit um spannende Aspekte ergänzen.
Die Materialien reichen dabei von ‚Cartes de Visites‘ und Autogrammbildern über Pressefotografien und Plakatmotive bis hin zu Dokumentationen von Werkstätten und Bühnenbildern. Der Forschung geben sie damit eine Vielzahl neuer Impulse. Vor allem eine Reihe von Aufnahmen, die im wahrsten Sinne hinter die Kulissen blicken lassen, betrachtet Probst als echte Neuentdeckungen. Aber auch Porträts, skurrile Personeninszenierungen und experimentell anmutende, foto-künstlerische Bearbeitungen machen die Sammlung zu einem imposanten Panoptikum der Theater- und Fotografiegeschichte. Die optischen Effekte werden dabei aberwitzigerweise gerade durch die ungewollten Korrosionsschäden noch eindrücklicher.