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Bedrohte Tierwesen und wo sie (noch) zu finden sind

Von Urwesen in der Tiefsee bis zu Krabbeltieren in der trockensten Wüste der Welt: Teams aus der Kölner Zoologie erforschen die biologische Diversität, loten Zusammenhänge des rasanten Artensterbens aus und entwickeln Rettungsmaßnahmen im Wettlauf gegen die Zeit. Ein Blick in die Forschungsvielfalt.

Von Martina Windrath

Das Forschungs-U-Boot taucht in der Nähe der Insel Madeira auf fast 1.000 Meter ab. Mit an Bord der Spezialkonstruktion wie aus einem James-Bond-Film: Hartmut Arndt, Kölner Meeresbiologe, Limnologe und Professor für Zoologie und allgemeine Ökologie. Er geht der Schöpfung auf den Grund. Die kapitalen Haie stehen dabei nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern fürs bloße Auge unsichtbare Einzeller. Das Forschungsteam legt Fressköder für sogenannte Geißeltierchen aus. »Die Braunalge ist eine wichtige Nahrungsgrundlage für größere Organismen. Verwertbar gemacht wird sie von Einzellern, die die aufsitzenden Bakterien fressen und die Energie erst verfügbar machen«, erläutert der Biologe, wieder zurück von dieser abenteuerlichen Expedition. Die kleinsten Meereslebewesen haben also eine enorme Bedeutung für den Kreislauf des Lebens auf dem ganzen Planeten. 

Eine Klimawandelprofiteurin: die invasive asiatische Tigermücke breitet dort aus, wo ökologische Nischen frei werden.

Die Arbeitsgruppen um Arndt erkundeten in den vergangenen zwanzig Jahren viele Tiefseebecken des Atlantischen und des Pazifischen Ozeans und endeckten dabei sogar in 5.000 Metern Tiefe bisher unbekannte Arten der Mini-Organismen. Bei einem Datenvergleich wiesen sie erstmals – und völlig unerwartet – die enorme Artenvielfalt dieser Lebewesen in der Tiefsee nach. Die nur zwei bis zehn tausendstel Millimeter kleinen Einzeller, auch Protisten genannt, sind neben Bakterien Ursprung allen Lebens, der Artenvielfalt und Biodiversität. Ihre Lebensräume sind jedoch immer stärker bedroht und schrumpfen rapide. 

Raum zur Regeneration 

Je größer die Biodiversität, desto stabiler sind die Ökosysteme, die letztendlich auch die Lebensgrundlage für uns Menschen bilden. Doch Artensterben und die Bedrohung der biologischen Vielfalt gehören zu den größten Herausforderungen unserer Zeit. Das UN-Artenschutzabkommen von Montreal legte gerade einen Rahmen fest, um Flora und Fauna weltweit besser zu schützen. Um die besonders bedrohten Arten und Lebensräume zu identifizieren und zu erhalten, braucht es zunächst eine fundierte Forschung. 

Vieles ist noch nicht bekannt, aber sicher ist laut Arndt, dass sich nicht allein Erderwärmung und Sauerstoffentzug negativ auf die Tier- und Pflanzenwelt auswirken. Vor allem vom Menschen gemachte Eingriffe sind ein Problem: in den Weltmeeren Plastikmüll oder die Fischerei mit Schleppnetzen, an Land Abholzung, Rohstoffabbau und Zersiedelung. 

Der Ökologe berichtet von Untersuchungen bis hinunter in den Marianengraben, dem tiefsten Meerespunkt im westlichen Pazifik, ebenso begeistert wie von Entdeckungen auf der Ökologischen Rheinstation. Nachdem das externe Forschungslabor der Kölner Uni modernisiert wurde, können die Fachleute nun auch an Bord molekularbiologisch die Urwesen untersuchen. »Ähnlich wie in den Tiefseeböden enthält der Rhein noch viele unentdeckte Arten und eine große Vielfalt der Organismen. Jede Probe, die wir auf der Rheinstation analysieren, enthält wieder neue«, so Arndt. 

Wer Diversität verstehen will, muss erst einmal mit Mikromillimeterarbeit beginnen: Die Einzeller werden mit Pipetten isoliert, kultiviert, einem geänderten Salzgehalt oder anderen variablen Faktoren ausgesetzt, analysiert. Das Institut für Zoologie besitzt eine der größten Sammlungen solcher Isolate weltweit. Mit ihrer Hilfe wollen die Wissenschaftler*innen unter anderem verstehen, wie es möglich ist, dass in einem Liter Wasser oder einem Kubikzentimeter Boden rund 1.000 Arten gefunden werden, wie so viele entstehen und überleben können. Eine Hypothese ist die, dass nie zur selben Zeit alle auf einmal in gleicher Menge auftreten, dass ein natürliches Chaos herrscht, bei dem eine Art in der Häufigkeit ihres Auftretens schrumpft, sich aber später wieder erholen kann. Umso wichtiger ist es laut Arndt, dass Naturschutzgebieten genug Platz für die Vielfalt eingeräumt wird. Nur so könnten sich die Reste einer Spezies selbst regenerieren. 

Genomik als Frühwarnsystem 

Ganz Nordrhein-Westfalen kämpft mit schwindenden Lebensräumen, was vielen Arten zu schaffen macht. »Es gibt wahnsinnige Dürren jeden Sommer und relativ milde Winter«, erläutert Ann-Marie Waldvogel. »Menschengemachte Ursachen wie Klimaveränderungen und Landnutzungsänderungen wirken sich negativ auf die Vielfalt aus.« Die Juniorprofessorin für Ökologische Genomik und ihr Team am Institut für Zoologie analysieren das genetische Erbgut von Tieren und bauen die Genomforschung zu einer Art Frühwarnsystem aus. 

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Professor Arndt mit einer Kollegin und dem Tiefsee-Fotografen Joachim Jakobsen bei einem Tauchgang vor Madeira. Hier erforscht der Biologe kleinste Lebewesen am Meeresgrund, die für das marine Nahrungsnetz unentbehrlich sind. Doch ihr Lebensraum wird durch Umwelteinflüsse und Verschmutzung immer stärker zurückgedrängt.

Welche Tiere können sich aus welchen Gründen besser anpassen als andere? Welche invasiven, eingewanderten Arten setzen sich durch, mit welchen Auswirkungen auf das ökologische Gefüge? Wo gibt es bereits alarmierende Verluste? In verschiedenen Studien geht das Waldvogel-Lab auf die Suche nach Antworten. Ein Muster lässt sich bereits erkennen: genetische Vielfalt wirkt wie eine Art Schutzschirm. Je vielfältiger in der genetischen Ausstattung eine Art ist, desto robuster ist sie gegenüber Bedrohungen. Wenn eine Art mit einem großen Verbreitungsgebiet in all ihren lokalen Populationen über eine hohe genetische Vielfalt verfüge, habe sie bessere Chancen, gesund zu bleiben. Isoliert vorkommende Populationen hingegen können bei einem Wandel der Umweltbedingungen schnell verarmen. Waldvogel: »Inzuchtmuster sind ein schlechtes Zeichen.«

In einer aktuellen Studie weist Waldvogel mit Kolleg*innen nach, dass eine »Gewinnerin « der globalen Erwärmung zum Beispiel die invasive asiatische Tigermücke (Aedes albopictus) ist. Sie breite sich wegen des Verlusts der Frostwinter hierzulande enorm aus. Durch die menschengemachte Belastung von Naturräumen seien schon viele Nischen freigeworden, sodass invasive Arten leichtes Spiel haben. Etwa im Rhein vermehrt sich die Grundel Knipowitschia caucasica explosionsartig.

Das Genomik-Lab geht mit seinem Schwerpunkt neue Wege. Trotz aller Rufe nach Innovation ist es jedoch nicht einfach, Fördermittel für Forschung zu erschließen, die neue Wege geht. Das Artenschutzabkommen macht der engagierten Genomforscherin Hoffnung auf mehr politische und finanzielle Unterstützung. Darin ist festgeschrieben, dass die genetische Diversität der domestizierten und wilden Arten beibehalten werden müsse. Das setzt voraus, die Arten und Populationen auch genetisch zu erfassen und auszuloten, wie sie sich am besten an Klimawandel und andere Bedrohungen ihrer Lebensräume anpassen können.

Wie der genomische Fußabdruck bestimmter Arten im Zeitvergleich aussieht, ist ein neues Projekt in Kooperation mit dem Leibniz Institut für die Analyse des Biodiversitätswandels in Bonn und Hamburg. Dabei werden Genome von rund fünfzig Jahre alten, im Museum konservierten Nagetieren, Vögeln, Insekten und Muscheln entschlüsselt. »Dann gehen wir ins Feld, sammeln die Tiere nochmal und erhoffen uns, dass wir durch den Vergleich mehr über die Muster des Artenschwunds lernen können: wann es schwierig wird und wie früh ein Schutz-Management ansetzen muss. Denn wenn die Arten bereits auf der Roten Liste stehen, ist es für viele schon zu spät.«

Rote Liste – Die Weltnaturschutzunion (IUCN) stellte Ende 2022 die neueste Aktualisierung der Roten Liste der bedrohten Tier- und Pflanzenarten vor. Insgesamt werden derzeit mehr als 150.000 Arten erfasst. Von diesen wurden mehr als 42.100 Arten in Bedrohungskategorien eingestuft.

Naturschutz zum Anfassen

Hier kommt der Kölner Zoologe Thomas Ziegler mit ins Boot, Außerplanmäßiger Professor am Institut für Zoologie und Biozentrum der Universität und Leiter des Aquariums des Kölner Zoos sowie Koordinator von Biodiversitäts- und Naturschutzprojekten in Vietnam und Laos. Sein Herzensanliegen: Artenschutz zum Anfassen. Er nimmt zur Erklärung einen Baby-Tigergecko aus dem Terrarium und hebt die winzige Echse stolz in die Höhe wie einen großen Schatz. Der Gecko-Nachwuchs ist schließlich der lebende Beweis für den Erfolg des Erhaltungsprogramms für die bedrohte Art. Die Kölner arbeiten dabei mit der La Sierra Universität in den USA zusammen.

In einer bundesweit einzigartig intensiven Kooperation des Biozentrums mit dem Zoo gibt Ziegler sein Knowhow auch an Studierende weiter – und muss zu Beginn oft Überzeugungsarbeit leisten. Denn nicht wenige meinen, Artenschutz sei nur durch Naturschutz voranzubringen. »Aber es ist fünf vor 12«, warnt der Zoologe. Naturschutz sichere zwar langfristig die Lebensräume, doch für viele Arten käme das zu spät. Gerade in den Tropen sei der Schwund besonders rasant durch menschengemachte Gefahren wie Abholzung der Tropenwälder, Verstädterung und Gewässerverschmutzung. »Wir müssen jetzt etwas tun und die junge Generation dafür begeistern, mitzumachen. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, Arten zu entdecken, zu schützen. Denn man kann nur schützen, was man kennt. Und wo es nicht rechtzeitig passiert, werden die Zoos überlebenswichtig «, sagt der Zoologe.

Ein Cat Ba Tigergecko im Kölner Zoo. Er kommt nur auf der gleichnamigen Insel in der Halong Bucht im Norden Vietnams vor. Die bedrohte Eidechse war ein gutes Argument, die Insel als UNESCO Biosphärenreservat unter Naturschutz zu stellen.

Ziegler und sein Team engagieren sich für Zoos als moderne Arche. Sie bauen das Aquarium zu einem international vernetzten Artenschutzzentrum aus und setzen sich seit Jahren für ein neues Zooverständnis ein. Es stellt den Erhalt, die Nachzucht und Wiederansiedlung etwa in Naturschutzgebieten in den Mittelpunkt. »Ich forsche nur noch zum Thema Artenschutz«, so Ziegler.

Das Kölner Zentrum ist eine Nachzuchtstätte für mittlerweile über hundert weltweit vom Aussterben bedrohte Arten, es informiert auch über die natürlichen Lebensräume der Arche-Bewohner und erforscht den Stand ihrer Bedrohung. Dafür werden keine Tiere aus der Wildnis entnommen; sie stammen etwa aus behördlichen Beschlagnahmungen oder dem Tausch mit anderen Tiergärten.

Eine Erfolgsstory ist ebenfalls die des bedrohten Mitchell-Warans, ursprünglich in Australien zuhause. Die Warane fressen die dort von Menschen invasiv eingebrachten Aga-Kröten und verenden an deren Gift, weswegen es in der Natur fast keine mehr gibt. Ein großer Gewinn sind daher die 19 Kölner Jungtiere. Ein neues Gelege liegt bereits im Inkubator.

Mit aufwendiger Technik und Knowhow werden die Kinderstuben bedrohter Tiere gehegt und gepflegt. Dazu gehört nicht zuletzt der neue Nachwuchs der Philippinenkrokodile. Er wird in Kürze zur Aufstockung der stark geschwächten natürlichen Bestände auf die Philippinen zurückgeschickt. Ganz im Sinne der Kampagne »Reverse the Red«: Mach die Rote Liste rückgängig!

Studierende der Arbeitsgruppe machen etwa Populationsanalysen, wie verbreitet eine Art ist und wie bedroht. Einige Tiere kamen erst durch diese Detektivarbeit auf die Rote Liste, darunter der vom Team entdeckte Cat Ba Tigergecko der nur auf der Insel Cat Ba im Norden Vietnams vorkommt. Ziegler: »Die UNESCO hatte mich um Rat gefragt, ob die Insel Weltkulturerbe werden sollte. Da ist eine stark gefährdete Art ein gutes Argument.«

Sogar die Wüste lebt

Im Gegensatz zur enormen Vielfalt in der Tiefsee oder den Tropen gelten Wüsten allgemein als eher lebensfeindliche Regionen. Aber es gibt eine gute Nachricht: »So schlimm ist es gar nicht, einige sind sogar recht artenreich «, sagt Professor Reinhard Predel, der mit seinem Team am Institut für Zoologie auch im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1211 – »Evolution der Erde und des Lebens unter extremer Trockenheit« arbeitet. »Leben ist im Wasser entstanden, bis zur Besiedlung der Wüsten musste sich die Evolution einiges einfallen lassen.« Die Kölner Forschenden sind weltweit die ersten, die im hyperariden Kern der trockensten Wüste der Welt – der Atacamawüste – Tiere nachweisen konnten. Die überraschende und für Zoolog*innen sensationelle Entdeckung war eher ungewollt. Denn der ursprüngliche Plan war nachzuweisen, dass dort nichts lebt. Bei den gefundenen Tieren handelt es sich um eine bislang unbeschriebene Maindronia-Art. Das sind entfernte Verwandte der Silberfischchen, dem Laien als Kachelbewohner in heimischen Badezimmern bekannt.

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Fühlt sich in der trockensten Wüste der Welt pudelwohl: Maindronia, eine entfernte Verwandte der Silberfischchen. Eigentlich wollte das Kölner Forschungsteam beweisen, dass es an einem so unwirtlichen Ort wie im Zentrum der Atacama kein Leben geben kann.

Bis zum Sensationsfund 2021 waren weltweit nur drei Maindronia-Arten beschrieben, die stets in küstennahen Wüstenbereichen entdeckt wurden. Noch keiner hatte offenbar gezielt im Zentrum der chilenischen Wüste nach Tieren gesucht. In dieser Region, in der weder Pflanzen noch Flechten existieren, sieht es auf den ersten Blick sehr übersichtlich aus und man findet auch als Wüstenspezialist erst mal nichts. Die SFB-Forschungsgruppe stellte großflächige Fallensysteme in einem abgegrenzten Bereich auf und wartete, was passiert. Ein Jahr später zählten sie rund 2.000 der Krabbeltierchen.

Damit ergeben sich neue Forschungsfragen: Wie kann es Leben geben bei einer derart geringen Luftfeuchtigkeit? Woraus gewinnen die genügsamen Wüstentiere Wasser in einer Region, wo es nie regnet? Wovon ernähren sie sich? Vermutlich haben sich die mit ihren langen Fühlern bis zu sieben Zentimeter großen Tiere schon vor schätzungsweise 150 Millionen Jahren dem Leben unter extremen Trockenheitsbedingungen angepasst. »Denen geht es dort sehr gut, die sahen schon zur Dinosaurierzeit so aus«, sagt der Insektenexperte mit Blick auf die agilen Überlebenskünstler. Diese Tiere geben der Wissenschaft auch Aufschluss über globale Evolutionsmuster sowie Artenbildung unter dem Einfluss globaler Klimaschwankungen.

Den Anteil der die Schlagzeilen beherrschenden Erderwärmung am allgemeinen Artensterben hält der Forscher für geringer als in den Medien kommuniziert. »Die von den Menschen verursachte Vernichtung natürlicher Lebensräume und der damit einhergehende drastische Rückgang der globalen Biodiversität, inzwischen leider auch innerhalb von Naturschutzgebieten, ist das größere und auch viel komplexere Problem.« Leider zeigt das auch: Die Welt und die Vielfalt ihrer Arten sind »nicht mal einfach so« zu retten.

 

DAS ARTENSCHUTZABKOMMEN VON MONTREAL
Auf der Weltnaturkonferenz in Montreal haben rund 200 Vertragsstaaten im Dezember 2022 eine neue globale Vereinbarung zum Schutz der Natur getroffen. Um bis 2030 den Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen, sollen unter anderem mindestens 30 Prozent der weltweiten Land- und Meeresfläche unter Schutz gestellt werden, vor allem Gebiete mit hoher biologischer Vielfalt. Dreißig Prozent der geschädigten Ökosysteme an Land und im Meer sollen bis 2030 renaturiert, die Risiken durch in die Natur eingebrachte Pestizide und sehr gefährliche Chemikalien halbiert werden.