Baupläne zur Selbstheilung
Mit der schnellen Entwicklung von COVID-19-Impfstoffen feiertedie mRNA-Technologie ihr Debüt. Aber ihr Potenzial ist noch viel größer. Weltweit entwickeln Wissenschaftler:innen Therapien und Impfstoffe auf mRNA-Basis. Darunter sind Impfstoffe gegen Malaria, Grippe, Mukoviszidose oder Tuberkulose und vielfältige Ansätze, um Krebs zu behandeln. Kölner Forscher:innen ordnen ein,welche Impfstoffe und Therapien sich am Horizont abzeichnen.
Von Mihaela Bozukova, Anna Euteneuer, Eva Schissler
Es kommt natürlich in all unseren Zellen vor und ist für das Funktionieren des gesamten Organismus überlebensnotwendig: das Botenmolekül mRNA. Zur Jahreswende 2020/21 geriet es ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit, als zwei kaum bekannten Biotechnologie- Unternehmen mit ihren mRNA-Impfstoffen der Durchbruch im weltweiten Kampf gegen COVID-19 gelang. Seither ist von einer medizinischen Revolution die Rede. Die Hoffnungen sind entsprechend groß.
Forscher:innen sehen in der neuen Technologie bei der Alternsforschung, bei der Behandlung genetischer Erkrankungen oder in der Krebstherapie großes Potential. Durch Alter oder Krankheit abgestorbenes oder fehlerhaftes Gewebe soll mittels mRNA-Therapien wieder fit gemacht werden. »Zellreprogrammierung ist ein spannendes Thema«, sagt Professor Dr. Björn Schumacher vom Exzellenzcluster für Alternsforschung CECAD. »Dadurch könnten etwa bei Parkinson funktionale Nervenzellen wiederhergestellt werden.« Der Genetiker erwartet daher, dass die Technologie in naher Zukunft auf unterschiedlichen medizinischen Gebieten Durchbrüche erzielen wird.
Alter Erreger, neuer Piks
Neben diesen neuen Anwendungsbereichen soll mRNA weiterhin im Kampf gegen virale, bakterielle und parasitäre Infektionskrankheiten zum Einsatz kommen. Ein großer Vorteil ist, dass sie schnell zu entwickeln und zupassen ist. Hoffnung besteht etwa bei der saisonalen Grippe. Bislang muss bei der Entwicklung des jährlichen Influenzaimpfstoffs die Virusvariante vorhergesagt werden, die sich wahrscheinlich verbreiten wird, denn der Produktionsprozess im Hühnerei ist langwierig und muss vor der Ausbreitung des Virus beginnen. Um die Wahrscheinlichkeit einer korrekten Vorhersage zu erhöhen, werden vier verschiedene Influenzavirusvarianten im Impfstoff abgebildet.
»Wenn sich aber eine andere Virusvariante durchsetzt und die Grippesaison beherrscht, dann sehen wir hohe Kranken- und Todeszahlen, da der Impfstoff nicht schützt«, sagt Professor Dr. Oliver Cornely, der das EU-finanzierte Impfstoff-Forschungsnetzwerk VACCELERATE an der Universitätsmedizin Köln leitet. »Die mRNA-Technologie würde es ermöglichen, den Impfstoff schneller anzupassen und zu produzieren, möglicherweise wäre er sogar gegen mehr als nur vier Grippevirusvarianten wirksam.«
VACCELERATE – Das von der Europäischen Union mit 26,5 Mio. Euro geförderte Konsortium wurde im Februar 2021 als klinisches Forschungsnetzwerk für die Koordinierung, Durchführung und Beschleunigung von Impfstoffstudien gegründet. Es wird an der Universitätsmedizin Köln koordiniert und dient der künftigen Pandemievorsorge. Im ersten Jahr konzentrierte sich das Netzwerk ausschließlich auf Impfstoffe gegen COVID-19, in Zukunft werden auch andere Krankheiten hinzukommen.
Ist mRNA also eine Universalwaffe, die in Zukunft alle anderen Impfstoffe ersetzen wird und auch gegen Erreger zum Einsatz kommt, für die es bisher keine vorbeugende Impfung gibt? Cornely glaubt, dass lange erprobte Impfstoffe mit hoher Wirksamkeit, zum Beispiel gegen Masern, Mumps und Röteln sowie gegen Hepatitis A und B, erhalten bleiben. Hoffnungen setzt er in mRNA-Impfstoffe gegen virale Erreger wie Ebola, Tollwut, HIV und Dengue. »Auch gegen unterschiedliche Herpesviren, etwa das Epstein-Barr-Virus, oder gegen bakterielle Infektionen wie Streptokokken und Parasiten wie Toxoplasma wäre die Entwicklung von mRNA-Impfstoffen vorstellbar«, sagt der Infektiologe.
Zu vielen dieser Erreger wird bereits geforscht. Moderna arbeitet etwa an einem Vakzin gegen HIV – ein Virus, das neben Malaria und Tuberkulose weltweit noch immer zu den Krankheitserregern mit den höchsten Todeszahlen gehört. Bisher war die Suche vergeblich, denn ein Impfstoff muss gegen verschiedene HIV-Typen wirksam sein.
Impfen gegen Krebs
Dass therapeutische mRNA in einer Viruspandemie ihr Debüt feiern würde, hätte wohl kaum jemand gedacht, der schon länger mit der Technologie vertraut ist. Als Uğur Şahin und Özlem Türeci vor zwölf Jahren BioNTech gründeten, bestand das eigentliche Ziel der Firma darin, eine individualisierte Krebsbehandlung zu entwickeln. BioNTech veröffentlichte bereits 2015 in »Nature« erste Erkenntnisse zu neuartigen Prinzipien in der Krebsimmuntherapie und deren Umsetzung mit individuell maßgeschneiderter mRNA. Sprich, eine Impfung gegen Krebs. Diese Art der Impfung unterscheidet sich von den herkömmlichen vorbeugenden Impfungen gegen Infektionskrankheiten, denn sie kommt nur bei bereits erkrankten Krebspatient:innen zum Einsatz. Nach der Behandlung mit anderen Therapien soll sie verhindern, dass der Krebs zurückkehrt.
Şahin war bereits damals überzeugt, dass eine solche Impfung möglich ist. In einer Pressemeldung erklärte er, neue Erkenntnisse deuteten darauf hin, dass »die meisten Krebsarten beim Menschen durch eine Krebsimmuntherapie erfolgreich behandelt werden könnten«. Dennoch besitzt jeder Tumor einen eigenen Satz an Mutationen, die zunächst identifiziert werden müssten. Daher brauche es zielgerichtete Impfansätze, die auf jeden einzelnen Patienten zugeschnitten sind.
Şahin gab jedoch das Ziel aus, »eine personalisierte Krebsimmuntherapie bezahlbar und allgemein verfügbar zu machen«.
Heute, sieben Jahre später, gibt es in der Krebsforschung Fortschritte. BioNTech erprobt insgesamt 19 Krebsmedikamente und -produkte in klinischen Studien, sechs davon in Phase II von III vor offizieller Zulassung des Medikaments. Dazu kommen Studien anderer Unternehmen, darunter Moderna und CureVac. Weltweit sind hunderte Therapien und Impfstoffe auf mRNA-Basis unterschiedlicher Unternehmen und Forschungseinrichtungen in der Entwicklung.
Fitnessprogramm für spezialisierte Immunzellen
Die Entwicklung individualisierter Krebstherapien auf mRNA-Basis dauert jedoch ungleich länger, als das Immunsystem auf ein Virus wie SARS-CoV-2 abzurichten. Das liegt daran, dass Krebserkrankungen deutlich komplexer sind. Die Individualität der Tumore macht es schwer, dem Immunsystem Merkmale für die Bekämpfung zu präsentieren. Zudem haben Tumorzellen zu einem sehr großen Anteil die gleichen Proteine wie normale Zellen. Es gilt also, die Unterschiede herauszufinden, damit im Idealfall nur Krebszellen abgetötet werden, keine normalen Körperzellen. Denn so funktioniert bereits die Chemotherapie, die alle Zellen angreift, die sich schnell teilen. Dazu gehören neben Krebszellen auch Haut, Haare und andere Gewebe.
Die Kölner Universitätsmedizin wirkt an Forschungskooperationen zur Krebsbehandlung mithilfe von mRNA mit. Zurzeit werden Patient:innen für die BioNTech-Studie BNT211-01 rekrutiert, in der ein mRNA-Impfstoff zum Einsatz kommen soll.
BioNTech Studie – Hinter dem kryptischen Namen BNT211-01 verbirgt sich eine kombinierte Therapie von CAR-T-Zellen (Chimäre Antigenrezeptor-T-Zellen) und mRNA für das Protein Claudin 6, das Zellen eng miteinander verbindet.
Es geht um das Protein Claudin 6, das auf Tumorzellen von Hoden-, Eierstock-, Magen-, Gebärmutter- und Lungenkrebs zu finden ist und eine wichtige Rolle bei der Entstehung und dem Fortschreiten der Erkrankung spielt. Das Protein ist wichtig bei der Entstehung von Geweben in Embryonen, bei erwachsenen Menschen sollte es aber nicht mehr vorkommen. Die Hoffnung ist, dass Claudin 6 als Vehikel genutzt werden kann, um die Krebszellen zu identifizieren und abzutöten.
Den Patient:innen wird zunächst Blut abgenommen. Das Blut wird gefiltert und T-Zellen werden entnommen. Diese spezialisierten Zellen des Immunsystems greifen gezielt infizierte Zellen an. Nun werden die gefilterten Zellen im Labor auf Claudin 6 trainiert: Sie werden von T- zu CAR-T-Zellen, bevor sie wieder in den Blutkreislauf der Patient:innen zurückgeführt werden. Dort bekämpfen sie dann mit Claudin 6 »infizierte « Zellen.
Der Theorie nach haben die CAR-T-Zellen nach einer Weile die Tumorzellen mit Claudin 6 gefunden und zerstört. Doch dann lehnen sie sich zurück und stellen die Arbeit ein. Damit sie nicht verlernen, wie man die Tumorzellen tötet, falls der Tumor zurückkommt, müssen sie regelmäßig trainiert werden. Hier kommt die mRNA ins Spiel: mRNA mit dem Bauplan für Claudin 6 wird geimpft. Die CAR-T-Zellen sind wieder in Alarmbereitschaft und gehen das Problem an. So erkennen sie auch, wenn sich neue Tumorzellen mit Claudin 6 ausbreiten wollen.
»Wenn das alles funktioniert, könnte vielen Patient:innen mit Claudin 6-positiven Tumoren geholfen werden«, sagt Dr. Valeska Möntenich, die verantwortliche Studienärztin. BNT211-01 ist eine Klinische Studie der Phase IIa. Das bedeutet, dass die sichere Dosierung der Therapie bereits gefunden wurde und nun untersucht wird, ob die Therapie auch einen positiven therapeutischen Effekt hat und verträglich ist. »Wir werden wohl noch die nächsten ein bis zwei Jahre abwarten müssen, um abschätzen zu können, wie wirksam diese Behandlungsmethode bei Krebs sein wird«, sagt Professor Dr. Michael Hallek, Direktor der Klinik I für Innere Medizin und des Centrums für Integrierte Onkologie. »Durch die Erfolgsgeschichte der Entwicklung der Coronaimpfung wissen wir jetzt prinzipiell, dass man mit der mRNATechnologie eine Immunantwort herstellen kann«, sagt der Onkologe.
Centrum für Integrierte Onkologie – Das CIO wurde von der Deutschen Krebshilfe 2008 als eines der ersten universitären Krebszentren als Onkologisches Spitzenzentrum ausgezeichnet, damals in Kooperation mit der Uniklinik Bonn. Hier arbeiten alle Kliniken und Institute zusammen, die sich mit der Diagnose und Behandlung, aber auch mit der Erforschung von Tumorerkrankungen befassen. Seit 2018 gestaltet das CIO Köln zusammen mit den universitären Krebszentren aus Aachen, Bonn und Düsseldorf unter dem Namen »Centrum für Integrierte Onkologie – CIO Aachen Bonn Köln Düsseldorf« die Krebsmedizin für rund elf Millionen Menschen.
Es sind einzelne Beispiele einer weltweiten, dynamischen Bewegung zur Erschließung einer völlig neuen Klasse von Therapeutika. Mit der richtigen Kombination von Molekülen, so hoffen Forscher:innen in Köln und weltweit, könnte mRNA in Zukunft noch so mancher Krankheit den Schrecken nehmen.
mRNA verträglich machen
Bereits seit den 1990er Jahren träumen Wissenschaftler:innen von Möglichkeiten, maßgeschneiderte synthetische mRNA in menschliche Zellen zu schleusen, um die gewünschten Proteine herzustellen.
Mit im Labor entworfener mRNA kann man Zellen somit – zumindest theoretisch – den Bauplan für jedes beliebige Protein zuführen. Etwa für Bestandteile von Viren, um Infektionen zu bekämpfen, für Enzyme, um eine seltene Krankheit zu heilen, oder für Wachstumsfaktoren, um beschädigtes Gewebe zu reparieren. Die Zellen erhalten, ähnlich wie bei einer Software oder einem neuen Betriebssystem, Anweisungen in der für sie verständlichen Sprache.
Doch was in der Theorie einfach klingt, ist in der medizinischen Realität mit praktischen Problemen behaftet. In der Entwicklung therapeutisch nutzbarer mRNA bestand lange Zeit ein grundsätzliches Problem: das Immunsystem stößt synthetische mRNA ab. Das war jahrelang ein so großes Hindernis, dass nur wenige Forscher:innen überhaupt daran dachten, mRNA für Impfstoffe zu verwenden.
Der Durchbruch gelang der Biochemikerin Katalin Karikó und dem Immunologen Drew Weissman Anfang der 2000er Jahre. mRNA besteht aus sogenannten Nukleosiden. Eines davon ist Uridin. Ersetzt man es durch das sogenannte Pseudouridin, stößt das Immunsystem die synthetische mRNA nicht mehr ab und sie gelangt ungehindert in die Zellen.
Die mRNA-Impfstoffe gegen COVID-19 schleusen nach dem Prinzip von Karikó und Weissman synthetische mRNA in den Körper ein. Sie weist unsere Zellen kurzzeitig an, das berüchtigte Spike- Protein von SARS-CoV-2 herzustellen. Das trainiert unser Immunsystem, es im Ernstfall zu erkennen. Innerhalb weniger Wochen nach der Injektion löst sich die mRNA auf natürliche Weise und spurlos auf. Zurück bleibt eine starke Immunität gegen das Coronavirus.