Aufgewühlt und leergefischt
Fische und andere Meerestiere gelten als gesunde Eiweißquellen. Doch die Fischerei ist in Verruf geraten, weil viele ihrer Methoden nicht nachhaltig sind. Ein Forschungsprojekt mit Kölner Beteiligung untersucht die Auswirkungen der besonders schädlichen Bodenschleppnetzfischerei in der Ostsee.
Von Eva Schissler
Das Meer ist keine Landschaft, es ist das Erlebnis der Ewigkeit, soll Thomas Mann mal gesagt haben. Der Ostseefreund hatte in dem litauischen Örtchen Nida auf der Kurischen Nehrung ein Sommerhaus. Doch so ewig, wie es dem großen Romancier damals vielleicht erschien, ist das Meer keinesfalls. Ganze Ökosysteme verändern sich – unter anderem aufgrund des Klimawandels. Auch die Ostsee ist betroffen: Flora und Fauna sind vielfältigen, durch den Menschen verursachten Veränderungen ausgesetzt. Das bleibt nicht ohne Folgen für das ökologische Gleichgewicht des maritimen Lebensraums.
Zerfurcht wie eine Elefantenhaut
Die Ostsee ernährt auch seit jeher die Menschen, die an ihren Küsten leben. Heute wird Fischerei jedoch in industriellem Ausmaß betrieben. Große Trawler fischen das Meer leer – nicht nur in der Ostsee, sondern auf allen Weltmeeren. Besonders effektiv, aber auch invasiv, ist die sogenannte Grund- oder Bodenschleppnetzfischerei. Dabei werden Netze großflächig über den Meeresboden gezogen.
Die Ausbeute ist groß, doch groß ist auch der Schaden, den sie anrichtet: Es geht viel Beifang mit in die Netze und der empfindliche Meeresboden wird aufgewühlt und zerstört. »Schaut man sich Bilder des Meeresgrundes beispielsweise am Fehmarnbelt an, sieht es aus wie eine Elefantenhaut: da ist kaum ein Bereich, der nicht mit Furchen durchzogen ist«, sagt Maria Sachs, Doktorandin am Lehrstuhl für Allgemeine Ökologie von Professor Dr. Hartmut Arndt am Institut für Zoologie.
Am 2. Juni stach das Forschungsschiff Elisabeth Mann Borgese – benannt nach der bedeutenden Meeresforscherin und jüngsten Tochter des Schriftstellers Thomas Mann – zu einer vierzehntägigen Forschungsreise von Rostock aus in See. Die Expedition dokumentiert umfangreich die Beschaffenheit des Meeresgrundes. Auch Sachs war mit an Bord. Sie untersucht im Rahmen ihrer Doktorarbeit, wie sich die von der Bodenschleppnetzfischerei verursachte Störung der Sedimentstruktur durch Sedimentumlagerungen auf das maritime Ökosystem auswirkt – vor allem auf Kleinstlebewesen am Meeresboden.
Forschungsreise – Die Fahrt ist Teil einer Pilotmission der Deutschen Allianz Meeresforschung e.V. (DAM) unter der Leitung des Leibniz-Instituts für Ostseeforschung in Rostock-Warnemünde (IOW). Weitere beteiligte Einrichtungen sind das Thünen-Institut, die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, das Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, das Helmholtz-Zentrum Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum, die Universität Rostock und die Universität zu Köln.
Es ist das erste Mal, dass eine solche Expedition den Einfluss von Fischerei auf Lebensräume wie Sandbänke, Riffe und Muschelbänke in der Ostsee systematisch erforscht. Neben geophysikalischen und geochemischen Eigenschaften wird dabei auch das gesamte bodennahe Nahrungsnetz untersucht. Dabei geht es in erster Linie um einen Vergleich zwischen Schutzgebieten und Gebieten, die nicht unter Schutz stehen. In den deutschen Gewässern der Nord- und Ostsee sind mehrere Meeresschutzgebiete eingerichtet beziehungsweise deren Einrichtung vorbereitet worden. Dort darf etwa kein Müll abgeladen werden und es ist untersagt, fremde Arten einzuführen. Doch gefischt werden durfte bis vor kurzem immer noch – auch mit Grundschleppnetzen. Viele Fische, die in der Nähe des Bodens leben, wie Schollen und Dorsche, sind auf dem Weltmarkt gefragt.
Belastbare Befunde für den Meeresschutz
Das Kölner Team ist für die sogenannte Nano- und Mikrofauna verantwortlich – Geißeltierchen, kleine Amöben und Wimpertierchen im Größenbereich von 1 bis 200 Mikrometern. Diese hoch diverse Organismengruppe wurde bislang in der Forschung nur wenig berücksichtigt. »Wenn der Meeresgrund durch die Schleppnetze aufgewühlt wird, werden diese kleinen Tiere teilweise in tiefere, anaerobe Sedimentschichten ›untergepflügt‹ und sterben dort. Dadurch fehlt dann einigen Krustentieren, von denen sich wiederum die Fische ernähren, die Nahrungsgrundlage«, sagt Sachs. Ein intakter Meeresboden ist aber nicht nur für das Nahrungsnetz wichtig. Er dient auch als »Kläranlage«, die dem Wasser überschüssige organische Substanzen entzieht und Schadstoffe bindet.
Zunächst wählten die Forscher:innen Flächen zur Untersuchung aus: im Fehmarnbelt, einer Wasserstraße zwischen der Südküste der dänischen Insel Lolland und Fehmarn, und an der Oderbank, einer in der Pommerschen Bucht gelegenen Sandbank. Um belastbare Daten vorlegen zu können, welchen Effekt der Wegfall der Fischerei hat, werden regelmäßig Bodenproben in den Meeresschutzgebieten sowie in den Vergleichsgebieten genommen. Wie entwickeln sich Gebiete, wenn keine Fischerei mehr stattfindet? Erholen sie sich schnell oder dauert es lange? Und wie unterscheidet sich die Zusammensetzung des Meeresbodens?
Da aufgrund von Corona nur jeweils halb so viele Menschen mit an Bord durften, musste die Mission in zwei Fahrten aufgeteilt werden. Professor Dr. Hartmut Arndt war im zweiten Teil der Ostsee-Expedition vom 11. bis zum 16. Juni in den gleichen Gebieten der Ostsee unterwegs. Während Maria Sachs die molekularbiologischen Untersuchungen im ersten Fahrtabschnitt durchführte, nutzte Hartmut Arndt den zweiten Fahrtabschnitt, um Direktbeobachtungen der sensiblen Mikrolebewelt am Mikroskop an Bord durchzuführen. Das ist auch auf hoher See möglich, denn auf dem Schiff stehen über 97 Quadratmeter an Laborfläche für Forschungsarbeiten zur Verfügung. »Das sogenannte Sandlückensystem der Oderbank zeigte eine Vielfalt von Lebensformtypen, die bereits im Größenbereich von wenigen Mikrometern verschiedene Ebenen der Nahrungspyramide aufwiesen. Besonders beeindruckend war das zahlreiche Auftreten der Mikrofauna in Sedimentschichten, die eigentlich gar keinen Sauerstoff mehr enthielten«, sagt Arndt.
Damit der Fisch sich nicht in den Schwanz beißt
Nach Abschluss der Mission wird das Team auf der Grundlage der gesammelten Daten Empfehlungen für die verantwortlichen Entscheidungsträger:innen in Deutschland erarbeiten. Da die Schutzgebiete an den Grenzen zu den Nachbarländern Dänemark, Schweden und Polen liegen, wird in Zukunft auch die internationale Kooperation immer wichtiger werden.
Doch was sagt die Fischerei dazu? Lange schon herrsche ein Antagonismus vor. »Es heißt oft, Wissenschaft und Naturschutz wollten den Fischereibetrieben ihre Lebensgrundlage entziehen. Doch eigentlich entzieht die übermäßige Fischerei der Fischerei selbst ihre Lebensgrundlage«, sagt Sachs. Noch dominiere eher der Interessenkonflikt, aber man versuche, ins Gespräch zu kommen, so die Doktorandin.
Die Fischerei ganz abzuschaffen – darum geht es den Wissenschaftler:innen überhaupt nicht. Vielmehr wollen sie auf der Grundlage solider Daten eine Perspektive für mehr Naturverträglichkeit entwickeln, um die Umwelt zu schützen und der Fischerei eine gute und nachhaltige Grundlage zu bieten. Denn letztendlich ist ein gesundes Ökosystem im Sinne aller.
Von 2020 bis voraussichtlich 2023 laufen zwei PILOTMISSIONEN DER DEUTSCHEN ALLIANZ MEERESFORSCHUNG E.V. (DAM) zum Einfluss der Grundschleppnetzfischerei auf Meeresschutzgebiete in Nord- und Ostsee. Die Projektleitung für die Mission »MGF Nordsee« liegt beim Alfred-Wegener- Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven, für die Pilotmission »MGF Ostsee« beim Leibniz- Institut für Ostseeforschung in Rostock- Warnemünde (IOW). Beide Missionen, die auf Initiative des und in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Naturschutz durchgeführt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert werden, sind Teil der DAM-Forschungsmission »Schutz und nachhaltige Nutzung mariner Räume«. Die DAM ist eine Allianz des Bundes mit den fünf norddeutschen Ländern Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern zur Förderung und Koordinierung der deutschen Meeresforschung.