Ranghohe Nazis im argentinischen Urwald. Diese Nachricht ging im Frühjahr um die Welt. Ein Team von Archäologinnen und Archäologen der Universität von Buenos Aires hatte einen schon lange bekannten Ruinenbau in Argentiniens Provinz Misiones genauer untersucht und sich mit einer brisanten Vermutung an die Öffentlichkeit gewagt: Könnte es sich um ein Versteck für flüchtige Nazi-Größen gehandelt haben?
Deutsche Münzen mit aufgeprägtem Hakenkreuz und einige Bruchstücke Meißner Porzellan wurden als mögliche Beweise herangezogen – die Nachricht schlug hohe Wellen. Während man zunächst sogar spekulierte, das Gebäude sei für Hitlers Privatsekretär Martin Bormann gebaut worden, ruderten viele Medien wenige Tage später bereits zurück. SPIEGEL Online bat schließlich Professor Dr. Holger Meding von der Uni Köln um Klärung.
Meding, Professor für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte, kennt sich aus mit Meldungen wie dieser. Seit den 1990er Jahren untersucht er die Historie deutscher Migrantinnen und Migranten in Lateinamerika. Unter anderem war er Leiter der Mitteleuropasektion der renommierten Untersuchungskommission CEANA, mit der die argentinische Regierung zur Aufklärung von NS-Aktivitäten beitrug. Den vorliegenden Fall müsse man, so Meding, unbedingt mit Vorsicht betrachten: „Die Wissenschaftler gehen hier einem alten Verdacht nach, der eng mit einem dichten Geflecht von Spekulationen und Legendenbildungen verwoben ist“, erklärt er. Seit mehr als 70 Jahren halte sich das Gerücht, es habe großangelegte Fluchtplanungen der Nazi-Elite für den Fall einer Niederlage im Zweiten Weltkrieg gegeben. „Dieser Verdacht ist natürlich nicht völlig aus der Luft gegriffen“, sagt Meding. Doch viele Hypothesen über Nazis in Argentinien fußen, so Meding, auf zeitgenössischer Kriegspropaganda: „Gerade die Theorien über groß angelegte Fluchtplanungen hochrangiger NS-Funktionäre wurden von den Alliierten ganz bewusst verbreitet, um einen Keil zwischen Soldaten und Führung zu treiben – eine gängige Maßnahme in Kriegszeiten.“ Doch für die reale Umsetzung entsprechend groß angelegter Pläne gibt es bislang keinen belastbaren Beweis.
Dass ranghohe Nationalsozialisten und NSKollaborateure nach 1945 tatsächlich erfolgreich in Argentinien untertauchten, steht allerdings außer Zweifel. Inzwischen geht die CEANA von mehr als 180 gesicherten Fällen aus. Die im Zusammenhang mit den neuesten Funden nun neu aufgelegte Legende von Martin Bormanns Flucht nach Argentinien, hält Meding allerdings für „hanebüchenen Unsinn“: „Von Bormann wissen wir ganz genau, dass er niemals in Argentinien war. Seine Leiche wurde 1972 in Berlin gefunden und zweifelsfrei identifiziert.“ Meding hat sich in verschiedenen Forschungsprojekten mit unterschiedlichen, bewiesenen Fällen von flüchtigen NS-Größen beschäftigt. „Wer sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Argentinien verstecken wollte, tat das in der Regel nicht in den ländlichen Gebieten, sondern in den Ballungsräumen“, betont der Wissenschaftler. In der Unübersichtlichkeit der großen Städte – vor allem in Buenos Aires – konnten Nazi-Größen wie Josef Mengele oder Adolf Eichmann jahrelang unentdeckt bleiben. Beide waren über die sogenannten Klosterlinien nach Argentinien gekommen – organisierte Fluchtrouten, über die ranghohe Nationalsozialisten meist über Italien nach Südamerika gelangten.
Einmal in Buenos Aires, gab sich Eichmann als Ricardo Klement aus, lebte mit seiner Familie in unscheinbaren Verhältnissen und arbeitete in untergeordneter Stellung bei Mercedes-Benz Argentina. Mengele reiste als Helmut Gregor nach Argentinien, bekam in Buenos Aires Papiere auf seinen richtigen Namen und kaufte sich in eine Pharmagesellschaft ein. Als Eichmann 1960 schließlich doch noch vom israelischen Geheimdienst aufgespürt und in Israel zum Tode verurteilt wurde, beschaffte sich Mengele abermals falsche Papiere und floh nach São Paulo. In Brasilien blieb er bis zu seinem Tod im Jahr 1979 unentdeckt.
Die Interpretationsversuche um die Ruine im Urwald von Misiones passen für Meding nicht mit Fluchtbeispielen wie diesen zusammen. Seiner Meinung nach lassen sich die Dinge auch anders erklären. „Misiones ist eine Region, in die vor allem in der Zwischenkriegszeit, unter anderem im Zuge einer regelrechten Kolonialisierungsplanung seitens der argentinischen Regierung, zehntausende Deutschsprachige aus unterschiedlichsten Gebieten eingewandert sind“, erklärt Meding. Wie jede Migration hat auch diese den Landstrich geprägt: Die Einwanderer brachten ihre Habe mit über den Ozean, gründeten Schulen, Behörden und Gemeindezentren. Deutsch wurde zeitweise zur vorherrschenden Sprache.
Eine letzte große deutsche Migrationswelle erfuhr Misiones zwischen 1937 und 1939, darunter vor allem „Volksdeutsche“ aus Polen. Es liegt nahe, dass in dieser prekären Weltlage auch Gelder mitgenommen wurden, um sie zu investieren. „Dass man Münzen aus den Jahren 1938 bis 1941 findet, braucht uns per se nicht zu verwundern“, erklärt der Historiker. „Die Herausforderung besteht darin, Funde wie diese sorgfältig historisch einzuordnen.“
Das Gebiet Misiones hinsichtlich seiner Verbindungen zu Nazi-Deutschland genauer unter die Lupe zu nehmen, hält jedoch auch Meding für sinnvoll. Im Zuge eigener Forschungsprojekte ist er auf viele NSDAPAktivitäten in der ländlichen Provinz gestoßen: „Wir wissen sicher, dass es in Misiones zwischen 1933 und 1939 einen Ableger der NSDAP gab, der von der argentinischen Regierung und den alliierten Geheimdiensten kritisch beäugt wurde. Die rund hundert Mitglieder dieses Verbandes waren sehr geschäftig.“ Gleichgeschaltete Schulen in Misiones zeigten die Hakenkreuzflagge, man verstand sich klar als Repräsentanz des „Dritten Reichs“. In den Archiven hat Meding Dokumente gesichtet, die eine bewusste Einflussnahme Nazi-Deutschlands auf die deutschen Siedler belegen – zum Beispiel durch die Entsendung NSDAPtreuer Pastoren nach Misiones. Alles sollte dazu beitragen, die Zustimmung zu Hitlers Plänen zu stärken und manch einen sogar zur Rückkehr zu bewegen.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs hielt sich rechtes Gedankengut im abgeschotteten Misiones verhältnismäßig lange. „Hier eine Kontinuität zu vermuten, in der geflohene Nazis Unterstützung finden konnten, ist also nicht ganz von der Hand zu weisen“, räumt Meding ein. Ein überzeugender Beleg stehe bislang jedoch aus. Wie unerlässlich eine akribische Recherche ist, zeigt auch der Fall zweier noch nach dem 8. Mai 1945 in Argentinien gestrandeter U-Boote, denen der Kölner Historiker nachgegangen ist. Ein Beweis für deutsche Invasionspläne? Für eine geheime NS-Basis in der Antarktis? Mit Hilfe von Augenzeugenberichten und Logbüchern konnte Meding den Hergang nachvollziehen: „Jene U-Boote befanden sich zum Zeitpunkt der deutschen Kapitulation auf hoher See und hatten noch volle Tanks. Die Besatzung entschied sich, soweit wie möglich in Richtung eines befreundeten Landes zu steuern, um so der alliierten Kriegsgefangenschaft zu entgehen.“ Den Spekulationen war mit diesen Erkenntnissen damit der Wind aus den Segeln genommen.
„Gerüchte über Nazis in Argentinien haben eine lange Tradition“, weiß Meding. „Bei einer gewissen Anzahl von Meldungen verdichten sich manche Nachrichten zu Quasi-Gewissheiten, die nicht mehr hinterfragt werden.“ Dank akribischer Archivarbeit hat Meding ein ums andere Mal herausgefunden, wie sich manche Dinge tatsächlich ereignet haben. Eine Rolle, die ihm nicht immer angenehm ist: „Als Historiker wird man häufig missverstanden – als wolle man etwas Brisantes unbedingt abmildern, vielleicht sogar verschleiern. Aber davon darf man sich nicht abhalten lassen, wenn es um die Suche nach der Wahrheit geht.“ Im neuesten Fall ist, so Meding, die Interpretation jedenfalls viel zu voreilig: „Das ist schade für das ganze Projekt. Solche Schnellschüsse zu verhindern, das ist Aufgabe einer sorgfältigen Wissenschaft.“