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Auf der Jagd nach dem Glück

Kölner Forschung nimmt die Glücksspielstörung unter die Lupe

Internationale Studien zeigen, dass sich sucht- und substanzbezogene Störungen bei vielen Menschen in der Pandemie verschlechtert haben. Kölner Forschung nimmt die Glücksspielstörung unter die Lupe, denn dabei laufen im Gehirn zum Teil ähnliche Prozesse ab. Und Glücksspiel findet sich auch da, wo man es nicht erwartet.

Eva Schissler

Alkohol, Schlaftabletten, illegale Drogen. Substanzbezogene Störungen haben während der Coronapandemie zugenommen. Das ist naheliegend: Psychische Belastungen wie Stress, Existenzängste oder Einsamkeit und Frustration sind Auslöser und Beschleuniger für all ihre Formen. Sie ermöglichen eine Flucht aus dem Alltag, sind eine Art Selbstmedikation. Wer eh schon ein bisschen zu viel trinkt, wird nun vielleicht noch mehr trinken.

Dass die Pandemie weite Teile des Lebens in den digitalen Raum verlagert hat, hat vieles erleichtert. Doch es steht zu befürchten, dass auch der gesteigerte Internetkonsum bei manchen Menschen Suchtpotentiale verstärkt haben könnte. Denn neben den substanzgebundenen Störungen gibt es auch nicht-substanzgebundene Störungen wie die Glücksspielstörung sowie problematische Internet- und Computerspielnutzung. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) warnt in ihrer aktuellen Drogenaffinitätsstudie vor einem beträchtlichen Anstieg der problematischen Computerspiel- und Internetnutzung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung spricht sogar von »der Droge der Zukunft«. Die Studie stammt aus dem Jahr 2019, also noch vor der Pandemie. Aktuelle Zahlen für das Jahr 2020 liegen noch nicht vor, doch eine Verschärfung der Lage ist zu befürchten.

Drogenaffinitätsstudie – In mehrjährigen Abständen führt die BZgA eine deutschlandweite Repräsentativbefragung der 12- bis einschließlich 25-jährigen Bevölkerung durch. Die langfristige Untersuchung erfasst Konsum, Konsummotive, Einstellungen und situative Bedingungen des Rauchens und des Konsums von Alkohol und illegalen Drogen. Seit 2011 erfasst die Studie außerdem Computerspiele und Internetnutzung. Sie zeigt, dass seit 2015 die problematische Computerspiel- und Internetnutzung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen gestiegen ist.


Man kann zwei Drittel seines Einkommens verspielen

Durch eine rechtliche Neuerung steht aktuell das Glücksspiel im Internet besonders im Fokus. Da während der beiden Lockdowns in Deutschland auch die Casinos und Spielhallen schließen mussten, sind womöglich viele Glücksspieler:innen auf Online- Casinos ausgewichen. Bisher war dieser Markt weitgehend unreguliert, die Anbieter bewegten sich mit Lizenzen aus EU-Drittstaaten in einem rechtlichen Graubereich. Um diesen Markt zu regulieren, haben die Bundesländer den Glücksspielstaatsvertrag erneuert. Eine Motivation dahinter war sicherlich auch, dass ihnen bislang erhebliche Steuereinnahmen entgangen sind. Nun können Online-Casinos auch kontrolliert und zum Spielerschutz verpflichtet werden – zumindest theoretisch.

Glücksspielstaatsvertrag – Der »Staatsvertrag zum Glücksspielwesen in Deutschland« (GlüStV) ist ein Vertrag zwischen den 16 Bundesländern, der einheitliche Rahmenbedingungen für die Veranstaltung von Glücksspielen schafft. Ursprünglich trat er 2008 in Kraft. In der aktuellen Novellierung, die seit dem 1. Juli 2021 gilt, sind Online-Poker, Online-Casinos oder Online- Automatenspiele unter Auflagen erlaubt. Tischspiele wie Roulette oder Blackjack bleiben verboten.

Professor Dr. Jan Peters ist skeptisch: »Online-Casinos sind jederzeit verfügbar und die Kontrolle durch das soziale Umfeld fällt weg. Auch ist kein geschultes Personal wie in einer Spielothek anwesend, das auffällige Spieler beispielsweise an Hilfeangebote verweisen könnte.« Der Psychologe untersucht an der Humanwissenschaftlichen Fakultät mit seiner Forschungsgruppe die Grundlagen von Entscheidungsprozessen – und den Einfluss von Verhaltensstörungen wie der Glücksspielstörung auf diese Prozesse. An dem neuen Staatsvertrag kritisiert er außerdem, dass das finanzielle Limit für einzelne Spieler:innen zu hoch sei. Der Vertrag sieht ein zentrales Spielerkonto vor, das auf monatlich 1.000 Euro begrenzt ist. Doch die gefährdeten Spieler seien häufig junge Männer mit einer eher geringeren Bildung und einem niedrigen Einkommen. Laut BZgA hatten 2019 37,5 Prozent der problematischen Spieler:innen ein Einkommen bis 1.500 Euro. »Es wird also als akzeptabel angesehen, wenn man zwei Drittel seines Einkommens verspielt. Das kann Menschen schnell in finanzielle Schwierigkeiten bringen«, sagt Peters.

Nicht jedes Glücksspiel führt in die Abhängigkeit, doch Automatenspiele haben ein vergleichsweise hohes Gefährdungspotential.

Egal, ob online oder in einer Spielhalle: Nicht jeder Mensch, der Glücksspiele spielt, entwickelt eine Störung, das ist Peters wichtig: Problematisch werde es, wenn die betroffene Person in finanzielle Not gerät, beruflichen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen kann, oder das Spielen zu Problemen mit Familie und Freunden führt. In der Art des Glücksspiels gebe es ebenfalls Unterschiede: »Verschiedene Spielformen unterscheiden sich im Hinblick auf das Gefährdungspotenzial. Beispielsweise ist der Anteil der Spieler mit problematischem Spielverhalten bei Automaten besonders hoch. Dies wird unter anderem mit der hohen Ereignisfrequenz bei dieser Spielform in Verbindung gebracht.«

Glücksspiel kann ähnlich wirken wie Drogen und Alkohol

Früher galt etwa der Trinker, oder der Familienvater, der sein ganzes Geld verspielt, als unmoralisch und charakterschwach. Heute weiß man: Sowohl substanzgebundene als auch nichtsubstanzgebundene Störungen gehen mit Veränderungen im Gehirn einher. Glücksspiel stimuliert das körpereigene Belohnungssystem. Peters interessiert sich besonders dafür, wie sich bei Glücksspieler:innen das Streben nach lang- oder kurzfristigen Belohnungen verändert: »Da laufen Prozesse im Gehirn ab, die ganz ähnlich sind wie bei den substanzbezogenen Störungen.«

Eine wichtige Rolle spielt der Botenstoff Dopamin, dessen Freisetzung einen gewissen Rausch auslöst. Drogen, die ein hohes Suchtpotential haben, beeinflussen direkt oder indirekt auch die Dopaminfreisetzung. Peters: »Ein zu hohes Dopaminlevel ist aber physiologisch nicht mehr adäquat, also steuert unser Körper gegen und baut die Dopaminrezeptoren zurück.« Wenn diese Rezeptoren nicht mehr da sind, geht auch der Effekt zurück. Daher muss mit der Zeit die Dosis erhöht werden, um den gleichen Effekt zu erzielen. Auch andere, natürliche Belohnungsreize haben dann möglicherweise nicht mehr die gleiche Wirkung.

Viele Computer- und Handyspiele enthalten Glücksspielelemente. Das steigert ihr Suchtpotential und wird deswegen von der Europäischen Union kritisch verfolgt.

Bei der Glücksspielstörung lassen sich ebenfalls Veränderungen im Dopaminsystem beobachten. Das macht das Störungsbild für Peters und sein Team besonders interessant: Warum verändert sich das Dopaminsystem, wenn es gar keine Substanz gibt? Eine Antwort könnte in der hohen Unsicherheit des Glücksspiels liegen – dem Kick des Risikos. Tiermodellstudien haben gezeigt, dass in Situationen mit hoher Unsicherheit das Dopaminsystem besonders aktiviert wird. Solchen Situationen ausgesetzt zu sein, führt bei Ratten auf physiologischer Ebene zu ähnlichen Veränderungen im Dopaminsystem wie die Verabreichung von Kokain über einen längeren Zeitraum. Die Droge und die »uncertainty exposure« (die Tiere sind einer sehr unsicheren Belohnungsverfügbarkeit ausgesetzt) haben ähnliche Effekte. »Das heißt nicht, dass die exakt gleichen Prozesse ablaufen, aber das Dopaminsystem scheint über unterschiedliche Pfade – einmal durch die Substanz und einmal über die Unsicherheit – auf ähnliche Weise verändert zu werden«, sagt Peters.

Neben dem Dopamin ist das Frontalhirn entscheidend, da es für die Verhaltenskontrolle und Handlungsplanung verantwortlich ist – Funktionen, die ebenfalls bei sucht- und substanzbezogenen Störungen beeinträchtigt sind. »Der präfrontale Kortex kann bei Entscheidungsprozessen immer noch auf das Dopaminsystem einwirken und das Verhalten beeinflussen«, sagt der Psychologe. Das ist etwa bei der Impulskontrolle wichtig: Wird eine sofortige Belohnung bevorzugt oder kann eine langfristigere, bessere Belohnung abgewartet werden? Bei Menschen mit Glücksspielstörung funktioniert diese Kontrolle meist schlechter, langfristige Handlungsplanung fällt ihnen zunehmend schwerer.

Verstecktes Glücksspiel

Peters beobachtet, dass die Grenzen zwischen Glücksspiel und anderen Spielformen zunehmend verwischen. Auch in Computerund Handyspielen finden sich mittlerweile Glücksspielelemente, etwa in der Form von Lootboxen. Eine Lootbox kann man zum Beispiel bei Onlinerollenspielen finden oder kaufen. Sie enthält möglicherweise das gewünschte seltene Schwert, mit dem man noch schwierigere Gegner in dem Spiel besiegen kann, aber eventuell auch Gegenstände, die Spieler:innen sich nicht erhoffen. »Die Unsicherheit bei Lootboxen sowie die Tatsache, dass Spieler echtes Geld dafür ausgeben, weist eine große Ähnlichkeit zum Glücksspiel auf«, sagt Peters.

Lootboxen – In Computerspielen finden sich in diesen »Beuteboxen « Gegenstände, die für das Computerspiel hilfreich sind. Doch der Fund ist nicht garantiert, sondern nur möglich. Spieler:innen bezahlen mit Spiel- oder Echtgeld also lediglich für die Chance, an die begehrten Gegenstände zu kommen.

Dass solche Glücksspielelemente ihren Weg in Computer- und Handyspiele gefunden haben, sieht er mit Sorge: »Auch bei vielen Spielen, die zum Beispiel bei Kindern im Grundschulalter beliebt sind, sind Lootboxen ein zentrales Element.« Psychologische Studien haben gezeigt, dass Computerspieler:innen, die viel Geld für Lootboxen ausgeben, auf klinischen Fragebögen zur Glücksspielstörung hohe Werte erzielen, also ein hohes Risiko haben. Auf EU-Ebene laufen deshalb bereits Überlegungen, Spielekomponenten wie Lootboxen einzuschränken. Doch noch sind sie weit verbreitet. Peters: »Fast alle großen Spiele haben in mehr oder weniger ausgeprägter Form Lootboxen.«

Der Kontext entscheidet

Um von der Störung loszukommen, benötigen Betroffene laut Peters Spielverzicht und Verhaltenstherapie. Und sie müssen fortan die Situationen meiden, die zu einem Rückfall führen könnten. Schon ein Glas Wein anzuschauen oder eine Spielothek zu betreten, kann die Dopaminausschüttung in Gang setzen. »Man weiß, gleich geht es los, gleich kommt der Kick«, sagt der Psychologe. »Wenn ein spielfreier Glücksspieler immer an den Spielhallen vorbeigeht, wo er früher gespielt hat, landet er irgendwann möglicherweise doch wieder drin. Da springt das Dopaminsystem wieder an.« Das liegt auch daran, dass Reize, die in der Vergangenheit mit einer Droge gepaart waren, sogar nach Jahren noch wirken. »Experimente mit Ratten haben gezeigt, dass allein schon der Kontext ein starkes Dopaminsignal auslösen kann.«

In aktuellen Studien erforscht Jan Peters mit seinem Team deshalb den Einfluss dieser Kontexteffekte bei Glücksspielern. Das Ergebnis: Lösen Probanden die gestellten Aufgaben in einer Spielhalle und nicht in einer neutralen Umgebung, verschiebt sich die Impulskontrolle dramatisch in Richtung von kurzfristigen Belohnungen. Die Kontrolle des Frontalhirns wird in einem Kontext, der mit der Störung assoziiert ist, ausgehebelt. Es ist also ein bisschen wie bei dem trockenen Alkoholiker, der sein Leben lang trotzdem Alkoholiker bleibt: Bei der Glücksspielstörung hilft langfristig nur strenge Spielhallenkarenz.