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USA – ein gespaltenes Land wählt

Photo: pexels.com

Kurz vor der Präsidentschaftswahl zeigen sich zwei Parteien, die zunehmend auf den Rand ihrer Anhängerschaft zusteuern, statt auf die politische Mitte. Wird es ihnen so gelingen, die wichtigen Nicht-Wählerinnen und -Wähler zu mobilisieren? Ein Lagebericht in unübersichtlichen Zeiten von Professor Dr. Thomas Jäger.


Prekäre Weltmacht

Die US-Präsidentschaftswahlen werden in Europa genau beobachtet, weil ihr Ausgang folgenschwere Auswirkungen auf die sicherheits- und wirtschaftspolitische Lage in den EU-Staaten hat. Für manche von ihnen waren US-Wahlen in der Vergangenheit bedeutungsvoller als Entscheidungen im eigenen Land. Aufgrund des enormen Einflusses, den die USA international geltend machen können, gilt es deshalb, die Folgen der amerikanischen Wahlentscheidung abzuschätzen.

Noch sind die USA die einzige Weltmacht, die über einen ausgeglichenen Mix an Ressourcen verfügt – militärisch und wirtschaftlich stark, durch Bündnisse weltweit vernetzt und mit hoher diplomatischer und kultureller Sichtbarkeit –, aber genau diese herausgehobene Stellung wird zunehmend prekär. Der Aufstieg Chinas und die innere Polarisierung befördern derzeit politische Alternativen in der amerikanischen Politik.
 

Von politischen Gegnern zu Feinden

Für die Entwicklung der USA beschreiben die Parteien im Wahlkampf völlig andere Wege und zeigen unterschiedliche Prioritäten auf. Die Wählerschaft hat eine echte Wahl. Das hängt erstens damit zusammen, dass nur zwei Parteien Aussicht auf Erfolg haben, die Republikaner, in den letzten Jahren deutlich nach rechts gerückt sind, und die Demokraten, in gleichermaßen zunehmend linke Positionen vertreten. Wobei das rechts-links-Spektrum im Vergleich zu Europa insgesamt deutlich nach rechts verschoben ist. Zwischen diesen Parteien besteht derzeit ein tiefer Bruch. Überparteiliche Zusammenarbeit gehört zu den seltensten Ereignissen.

Das hat vor allem drei Ursachen, die in der derzeitigen Polarisierung mündeten:

  • Erstens steigerten sich die USA seit den sechziger Jahren in einen Kulturkrieg hinein, der beide Seiten heute erklären lässt, die andere sei „unamerikanisch“. Die Anführer von Demokraten und Republikaner sprechen von der Gegenseite nicht mehr als politischem Gegner, sondern als Feind. Das hallt bei ihren Anhängern wider.

  •  Zweitens schufen die Medien in den letzten zwei Jahrzehnten audiovisuelle und digitale Echokammern, in denen beide Seiten ihre Weltsicht aushärten und gegen kritische Argumente immunisieren können. Die Darstellungen der Tagesereignisse bei MSNBC und Fox News stammen von unterschiedlichen Planeten.

  •  Drittens spitzten sich die innerparteilichen Debatten zu, so dass immer rechtere und linkere Kandidatinnen und Kandidaten gewählt wurden. Nicht mehr die Überzeugung der parteiungebundenen Wählerschaft, sondern die Mobilisierung der eigenen Anhänger wurde zum Dreh- und Angelpunkt der Wahlkampagnen. Das heißt, dass die Kandidatinnen und Kandidaten nach einer erfolgreichen innerparteilichen Vorwahl nicht in die Mitte rückten, sondern in den Reihen der eigenen Anhänger die Mehrheiten suchten.

Joe Biden versucht mit seiner Kampagne derzeit sowohl dieser Logik der Polarisierung zu folgen, als auch, sie zu durchbrechen. Donald Trump folgt alleine der Logik der Polarisierung.

Biden muss zwischen zwei Fallgruben balancieren

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Eigentlich wollte Joe Biden als der Versöhner einer tief gespaltenen Nation in den Wahlkampf ziehen. Trump schien sich, so die Analyse von Bidens Team, im Amt selbst derart unmöglich gemacht zu haben, dass nur eine politisch verlässliche Alternative angeboten werden müsse, um ihn zu schlagen. Als genau diesen Gegenkandidaten sah Biden sich selbst. Aber sonst war kaum einer in der Partei damit glücklich. Denn Biden steht in der demokratischen Partei ganz rechts. Er hat mit Polizeireform, Green New Deal und allgemeiner Krankenversicherung wenig am Hut. In den ersten Vorwahlen wurde er auch deshalb auf die hinteren Ränge verwiesen. In North Carolina gelang ihm ein Sieg und Corona erledigte den Rest, weil die Demokraten wussten, dass sie das Schisma von vor vier Jahren, als Clinton und Sanders auch nach dem Parteitag gegenseitig abgeneigt blieben, verhindern mussten. So wurde Biden ihr Kandidat.

Biden steht in der demokratischen Partei ganz rechts.

Professor Dr. Thomas Jäger, Lehrstuhl für Internationale Politik und Außenpolitik, Universität zu Köln

Ihm traut die Partei nun zu, enttäuschte Trump-Wähler für die Demokraten zu gewinnen. Wenn gleichzeitig alle linken Wähler ihm mit der Faust in der Tasche ihre Stimme geben, weil sie Trump los sein wollen, müsste es reichen. Das ist die demokratische Kalkulation, die allerdings ein hohes Risiko birgt. Denn einerseits könnten die Linken sich Biden verweigern, so wie sie Clinton nicht wählten; und andererseits könnten Trumps frühere Wähler dem etwas blassen Biden den wirtschaftlichen Aufschwung nicht zutrauen. Biden versucht, zwischen diesen beiden Fallgruben zu balancieren.

Trump wird als viel energischer eingeschätzt und ihm wird die wirtschaftliche Erholung eher zugetraut.

Professor Dr. Thomas Jäger

Trump: schlechte Noten für Krisenmanagement

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Anders als Biden setzt Trump voll auf Polarisierung. Ihm kam – so paradox es klingt – das Impeachment gerade recht, um aufzuzeigen, dass die Demokraten alles tun, um an die Macht zu kommen. Das schloss die eigenen Reihen. Als Präsident, der seiner Wählerschaft eine florierende Wirtschaft präsentieren kann, wollte er in den Wahlkampf gehen. Die Pandemie hat diese Lage zerstört. Trump setzte von Beginn darauf, dass die Wirtschaft rasch – und das heißt für ihn, vor November – wieder Fahrt aufnimmt. Denn Biden liegt zwar in allen Umfragen vorne, in denen nach Kompetenzen auf verschiedenen Politikfeldern gefragt wird.

Bei zwei Fragen ist es jedoch umgekehrt: Trump wird als viel energischer eingeschätzt und ihm wird die wirtschaftliche Erholung eher zugetraut. Allerdings entwickelte sich die Pandemie zu einem riesengroßen Problem, weil das Krisenmanagement überaus kläglich war. Trump wollte es zuerst den Gouverneuren anhängen, aber das misslang. Bei einer Krise dieses Ausmaßes steht der Präsident in der Verantwortung. Dass er ihr gerecht wurde, meinen etwa dreißig Prozent der US-Bürger.

Das entspricht ungefähr Trumps Anhängerschaft, die ihm über die vier Jahre treu geblieben sind. Seine Zustimmungswerte in der Republikanischen Partei schwankten in diesem Zeitraum zwischen 85 und 96 Prozent. Die Republikaner sind heute Trumps Partei – und sie wollen Trump. Die abtrünnigen Republikaner sind nur ein versprengtes Häuflein.

Die Republikaner sind heute Trumps Partei – und sie wollen Trump.

Professor Dr. Thomas Jäger

Die Kandidaten müssen Nicht-Wähler überzeugen

Biden hingegen behauptet zwar, er sei die Demokratische Partei, aber das stimmt nicht. Zwei Drittel seiner Wählerschaft gibt an, Trump abwählen zu wollen; nur ein Drittel will Biden wählen. Der Blick auf unterschiedliche Wählergruppen ist dabei ebenso erhellend wie verwirrend: Wie viel Prozent Frauen in den Vorstädten Trump vor vier Jahren wählten und wie es derzeit steht? Wie viele Afro-Amerikaner in den südlichen Staaten nun Biden wählen wollen im Vergleich zu Clintons Zahlen vor vier Jahren? Das ist alles relevant, sucht aber im Detail eine Entscheidung, die ganz woanders fallen könnte.

Denn die Präsidentschaftswahlen entscheiden sich an der Mobilisierung der eigenen Anhänger. Das zeigt ein Blick auf die Wahlbeteiligung. Seit den Wahlen 2000 lag sie zwar immer über 50 Prozent, so 2016 bei 55,7 Prozent. Angesichts der hohen Zahl an Nichtwählern ist es für Wahlkampagnen jedoch weit lukrativer, die potentielle Wählerschaft zu mobilisieren, als die Anhänger anderer Parteien zu überzeugen. Das hat Cambridge Analytica 2016 unter anderem für Donald Trump übernommen. Und die App Trump2020 ist ebenso aufgebaut, dass sie Daten sammeln und auswerten kann, um individualisierte Werbenachrichten zu senden. Der Effekt wird erst im Nachhinein zu ermessen sein.

US-Bürger erwarten Lügen

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Für viele Europäer, die die Entwicklungen in den USA beobachten, ist nicht sehr überraschend, dass Joe Biden derzeit in den Umfragen vorne liegt. Vielmehr erstaunt, dass Donald Trump, dessen Wahl 2016 ein Ausrutscher gewesen sein soll, überhaupt noch den Hauch einer Chance auf Wiederwahl hat. Das liegt daran, dass 2016 eben kein Ausrutscher war, sondern die erwartbare Konsequenz der Polarisierung in der amerikanischen Politik, die von Trump dann nationalpopulistisch auf die Spitze getrieben wurde.

Hinzu kommt, dass die meisten US-Bürger sowieso nicht viel von den politischen Institutionen halten. Der Supreme Court und das Präsidentenamt kommen in den letzten Jahren mit etwas über einem Drittel Zustimmung noch ganz gut weg. Das Vertrauen in den Kongress hat sich in den letzten sechs Jahren verdoppelt: von sieben auf dreizehn Prozent. Wie immer diese Zahlen interpretiert werden – als Misstrauen, als Auswuchs von Ideologie – sie zeigen, dass eine gehörige Distanz besteht. Das mag mit erklären, warum Trumps „alternative Fakten“ nicht von allen so übel genommen werden. Viele erwarten eben nichts anderes.

Ein Blick in die Geschichte (und ich gehe nur bis Lyndon B. Johnson zurück, wer sich an ihn noch erinnert, ist jetzt achtzig) zeigt: Johnson log über den Vietnamkrieg; Nixon log bei Watergate; Ford und Carter scheiterten; Reagan log bei Iran-Contra; Bush log bei Steuererhöhungen; Clinton log bei Lewinsky; Bush log bei Nuklearwaffen im Irak; für Obama gibt es keine Mega-Lüge gegenüber der eigenen Bevölkerung, aber am Ende seiner Zeit gab es die Frage seiner Anhänger: Was haben wir aus den acht Jahren gemacht? Genau diese Frage will Trump seinen Anhängern beantworten können: Sechs zu drei Richter am Supreme Court; Wirtschaftsaufschwung in Sicht; Verteidigung der amerikanischen Geschichte gegen Identitätspolitik; US-Soldaten aus Kriegen abgezogen; harte Außenpolitik und besonders die Unterstützung Israels; nationale Interessen zuerst. Damit, so hofft er, kann er mit Blick auf seine Anhänger, für die diese Themen besonders bedeutsam sind, seine Corona-Lügen überdecken.

Eine Steigerung des Wahnsinns ist zu erwarten

Zwei Modelle waren bisher ziemlich gut darin, den Wahlausgang vorherzusagen. Der amerikanische Politikwissenschaftler Allan Lichtman bezieht eine Vielzahl von Faktoren ein und gelangt zum Ergebnis: Biden gewinnt. Sein Kollege Helmut Norporth konzentriert sich auf die Vorwahlen und prognostiziert: Trump gewinnt. Für eines dieser beiden Modelle gibt es nach dem 3. November eine Enttäuschung. Aber wer hätte vor einem Jahr gedacht, welche Entwicklungen Einfluss auf die Wahlen gewinnen und welche Ereignisse schon wieder vergessen sind:das Impeachment, der Konflikt mit Iran, der Handelskrieg mit China, die Corona-Pandemie, der Tod George Floyds, Proteste gegen Polizeigewalt, die Sammlung um Black Lives Matter, die Vakanz im Supreme Court, Trumps Steuern und seine Corona-Infektion... Und diese Aufzählung ist weder vollständig noch abgeschlossen.

Wer den Wahlkampf durch das Prisma einer Unterhaltungsshow betrachtet, mag denken, dass sich das Autorenteam für die letzten drei Wochen noch eine Steigerung zum Finale ausdenkt.
 

Über den Autor

Professor Dr. Thomas Jäger ist Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist unter anderem Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste sowie des Wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für politische Bildung. Jäger ist Herausgeber der „Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik“ und Gastkolumnist auf Focus Online. 2019 veröffentlichte er die Monographie „Das Ende des amerikanischen Zeitalters: Deutschland und die neue Weltordnung“.