Wandel im Veedel
Wie Deutschlands Städte sich durch den demographischen Wandel verändern
Die Deutschen sterben aus: Schenkt man aktuellen Bevölkerungsprognosen Glauben, so schrumpft die deutsche Bevölkerung alle 90 Sekunden rechnerisch um einen Menschen. Wie wirkt sich das auf die Städte in der Bundesrepublik aus? Welche neuen Probleme stellen sich, wenn viele Städte demnächst leer oder überaltert sind? Und sind tatsächlich alle Städte gleichermaßen betroffen? Professor Frank Schulz-Nieswandt erforscht den demografischen Wandel in Deutschland am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie – er zeichnet ein differenziertes Bild der Städte im Wandel.
Seit 2007 leben global genauso viele Menschen in Städten wie auf dem Land. Besonders in Asien und Afrika erreicht die Verstädterung derzeit Höchstgeschwindigkeit. Megastädte wie Mumbai, Schanghai, Jakarta oder Lagos sind sichtbare Zeichen dieser fortschreitenden weltweiten Urbanisierung. In Deutschland hingegen führt der demografische Wandel dazu, dass die Bevölkerung in vielen Städten rückläufig ist. Frank Schulz-Nieswandt, Professor für Sozialpolitik und Methoden der qualitativen Sozialforschung am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie sowie des Seminars für Genossenschaftswissenschaften an der Universität zu Köln, beschäftigt sich nicht nur mit dem demografischen Wandel, sondern auch mit Alternsforschung und Wohnformen im Alter. „Wir haben lange Zeit den demografischen Wandel immer nur als Alterung diskutiert – was man jetzt jedoch zunehmend erkennt, sind die Schrumpfungsprozesse. Denn der demografische Wandel führt unweigerlich dazu, dass Deutschland schrumpfen wird: Die Bevölkerung geht zurück und damit einher geht auch eine Verringerung der Erwerbstätigen, Stichwort Fachkräftemangel“, so Schulz-Nieswandt. Die Erkenntnis, dass Deutschland sich demografisch erheblich wandeln wird, ist nicht neu – Experten diskutieren seit Jahren immer neue, düstere Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes wird die Bevölkerung der Bundesrepublik bis zum Jahr 2060 von heute etwa 82 Millionen Menschen auf dann rund 65 bis 70 Millionen Menschen sinken. Betroffen sind aber nicht nur strukturschwache Regionen irgendwo im Osten Deutschlands: Auch andere Städte und Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern schrumpfen.
Komplexes Zusammenspiel aus Alterung und selektiver Ab- oder Zuwanderung
„Diese Schrumpfung läuft kleinräumlich sehr unterschiedlich ab“, erläutert Schulz-Nieswandt, „und zwar sowohl im Städtischen wie im Ländlichen. Im Ländlichen werden sich Schrumpfungen von mehr als 40 Prozent vollziehen, im Städtischen wird die Situation nicht ganz so drastisch sein – und es wird auch Städte geben, die wachsen werden, zum Beispiel Köln.“ Köln als viertgrößte Stadt in Deutschland gehört zu jenen Metropolregionen, die Wachstumspotenzial haben, ähnlich wie München, Leipzig oder Frankfurt. „Diejenigen Städte, die es schaffen, Bevölkerung zu attrahieren, etwa durch selektive Zuwanderung, die werden wachsen. Solche Zuwanderungsprozesse sind in der Regel arbeitsplatzorientiert“, erklärt der Kölner Soziologe. Insgesamt gibt es also ein Nebeneinander von bevölkerungswachsenden und bevölkerungsschrumpfenden Städten und zwar in allen Größen von Städten und auch Stadtvierteln. „Entgegengesetzte Dynamiken finden sich also dicht beieinander“, so die Erkenntnis von Schulz-Nieswandt, der den Blick vor allem auf die Wanderungsprozesse richtet: „Die Attrahierung durch die Arbeitsplatzsituation löst die meisten Wanderbewegungen aus. Aber es gibt weitere Wanderungsprozesse, zum Beispiel die Abwanderung älterer Generationen in gentrifizierte Räume, in denen reichere Schichten ihre Alterswohnsitze einrichten oder abe netzwerkorientierte Altenwanderung, bei denen Ältere ihren jüngeren Netzwerken hinterherwandern.“ Er spricht deshalb von einem komplexen Zusammenspiel aus natürlicher Alterung und selektiver Ab- oder Zuwanderung. Neben der unmittelbaren Gleichzeitigkeit von Wachstum und Schrumpfung überlagern sich rund um deutsche Städte zwei weitere Prozesse: Suburbanisierung und Reurbanisierung. Über Jahrzehnte haben sich an den Rändern der Ballungsräume Wohnsiedlungen gebildet. Besonders in den alten Bundesländern wanderten seit den 1960er Jahren Bevölkerungsanteile aus den Kernstädten in suburbane Räume. In den 1990er Jahren gab es den vorerst letzten Höhepunkt dieser Suburbanisierung. Aktuell hingegen werden diese Suburbanisierungstendenzen von einer neuen Dynamik der Reurbanisierung überlagert. Der Professor möchte dennoch nicht gleich von einer „Renaissance der Städte“ in Deutschland sprechen. Wie urban ist Deutschland also?
„Menschen leben nicht abstrakt in einer Stadt, sie leben in Stadtteilen“
Urbanisierung bedeutet zunächst ganz allgemein die Ausbreitung und Verstärkung städtischer Lebens-, Wirtschafts- und Verhaltensweisen. „Urbanität im engeren Sinne meint den starken Wohnbesatz im Innenraum, die Verdichtung menschlicher Siedlung“, sagt Schulz-Nieswandt. Köln sei dafür ein sehr gutes Beispiel, denn die Kölner Innenstadt sei sehr dicht bewohnt, während manch andere Stadt nachts im Zentrum menschenleer sei, weil dort nicht gewohnt werde. „Köln hat also einen hohen Urbanitätsgrad, Frankfurt auf der anderen Seite einen niedrigeren – hier ist die Innenstadt ja sehr stark vom Finanzdienstleistungssektor in Beschlag genommen und es gibt relativ wenig Wohnraum.“ Auf einer landesweiten Ebene bezeichnet wiederum der sogenannte Urbanisierungsgrad, wie hoch der Anteil der Stadtbewohner an der Gesamtbevölkerung ist. In Deutschland wohnen circa dreiviertel der Menschen in urbanen Räumen, das entspricht ziemlich genau dem EU-Durchschnitt. Will man nun den Wandel der Städte in Deutschland begreifen, so muss man sich zunächst die Bedeutung derselben vor Augen führen. „Städte sind Räume der regionalen Clusterung“, hebt Schulz-Nieswandt hervor. Dort konzentriert sich Forschung und Entwicklung, Verwaltung und Dienstleistungsbereiche; hier entwickelt sich ein Großteil der Beschäftigung – und trotz aller Pendelbeziehungen wohnen die Leute natürlich gern so nah an ihrem Arbeitsplatz wie möglich. Gleichzeitig sind Städte nichts weiter als eine Ansammlung von Dörfern: „Die Menschen leben ja nicht abstrakt in einer Stadt, sie leben in Stadtteilen, in Köln sind das die Veedel. Wir sprechen deshalb in der Forschung von Sozialraum- und Quartiersbezug“, fasst der Sozialwissenschaftler zusammen. Die detaillierte Analyse von städtischen Wandlungsprozessen nimmt daher weniger die Stadt als Ganzes in den Blick, sondern vor allem die einzelnen Stadtteile und Quartiere.
Neue Gesichter des Alterns – neue Problemstellungen für die Stadtteile
In den einzelnen Quartieren einer Stadt kann man nun die Alterung der Bewohner und ihre Folgen besser in den Blick nehmen – eines der zentralen Forschungsthemen von Professor Schulz-Nieswandt. Mit den Alterungsprozessen der Bevölkerung verbindet sich eine Vielzahl an neuen Problemstellungen für die Stadtteile. „Die Menschen altern von Jahrgang zu Jahrgang anders“, erklärt Schulz-Nieswandt, „und so werden sich zukünftige Seniorinnen und Senioren von heutigen deutlich unterscheiden. Das Entscheidende für diese Entwicklung ist ein höheres Maß an Bildung, lebenslanger Kompetenzerwerb, aber auch Faktoren wie bessere Ernährung, mehr Bewegung und gesündere Lebensführung. Zudem haben zum Beispiel höhere soziale Schichten höhere Stressbewältigungsressourcen entwickelt. Durch all diese Dinge werden sich die Gesichter des Alterns verändern: Heutige 60-Jährige sind zum Beispiel im Durchschnitt so fit wie früher die 50-Jährigen.“ Dieser Prozess werde sich in Zukunft noch verstärken. „Das sind aber in der Tat Durchschnittswerte, nicht jeder bleibt im Alter fit. Wir sprechen deshalb in der Forschung von einer hohen interindividuellen Varianz.“ Ähnliches gelte für ökonomische Aspekte; die Altersarmut werde aber teils erheblich zunehmen, vor allem aufgrund vieler brüchiger Erwerbsbiografien der letzten Jahre. „Der demografische Wandel führt zwar zu einem hohen Anteil alter Menschen – aber die sind beileibe nicht alle dement und sitzen im Rollstuhl“, betont Schulz- Nieswandt, „das wäre ein völlig falsches Bild.“ Für die Städte sind die vielen Seniorinnen und Senioren dennoch eine Herausforderung: „Inklusion, Diversity Management – gerade in hoch verdichteten urbanen Räumen sind diese Dinge wichtig. Und das erreichen wir nur durch einen sozialen Lernprozess in den einzelnen Quartieren. Öffnen wir also unsere Stadtteile für mehr Diversität!“, fordert der Experte für Sozialpolitik. Er entwirft das Szenario von offenen Heimen und ambulant betreutem Wohnen direkt in den einzelnen Quartieren. So gäbe es viel bessere Austauschbeziehungen zwischen Alt und Jung. „Wir müssen uns fragen, wie wir ein gelingendes soziales Miteinander choreografieren, wenn wir eine höhere Differenzierung der Phänotypen der Menschen haben. Wie wächst wieder Heimat? Menschen sehnen sich in einer globalisierten Welt zunehmend nach regionaler Verankerung und Geborgenheit“, sagt Schulz-Nieswandt. Aus diesem Grund gebe es eine starke Aufwertung des Lokalen, des Konzepts der Nachbarschaft und zum Beispiel auch eine Renaissance der Genossenschaftsidee.
Den sozialen Wandel in den Städten managen
Zentral für eine Stadt der Zukunft mit vielen älteren und alten Menschen sind soziale Innovationen, also bessere Vernetzung der Seniorinnen und Senioren innerhalb der Stadtteile zu Ärzten, Nachbarn, Angehörigen, Freunden und im Rahmen von bürgerschaftlichem Engagement. „In der Forschung sprechen wir von sogenannten Caring Communities“, erläutert Professor Schulz-Nieswandt. Darüber hinaus werden neue intelligente Technologien, etwa im Bereich der Pflege und medizinischen Versorgung, eine zunehmend wichtigere Rolle einnehmen, ebenso wie eine altersgerechte Mobilitätssicherstellung. „Den sozialen Wandel in den Städten solcherart zu managen, wird sin den nächsten Jahren unsere vordringliche Aufgabe sein.“