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Nicht immer ist ein Erdbeben schuld

Archäoseismologen erforschen die Ursachen von Gebäudeschäden

 

Eingestürzte Wände, verdrehte Säulen und abgesenkte Fundamente: Derartige Schäden an Tempeln, Mausoleen oder Sarkophagen können ein Hinweis auf vergangene Erdbeben sein. Aber der Kölner Seismologe Klaus-G. Hinzen vom Institut für Geologie und Mineralogie weiß: Nicht alles, was zunächst wie ein Erdbebenschaden aussieht, ist auch einer.

 

Klaus-G. Hinzen und sein Mitarbeiter Stephan Schreiber blicken gespannt auf den großen Flachbildschirm im Arbeitsraum der Erdbebenstation Bensberg. Beide Forscher tragen rot-grüne 3D-Brillen – sie betrachten eine virtuelle dreidimensionale Rekonstruktion der Archäologischen Zone Köln, des Ausgrabungsareals in der Kölner Innenstadt. Vor ihren Augen erstrecken sich unter anderem die Überreste des Prätoriums, des römischen Statthalterpalasts mit einem zentralen achteckigen Raum, umgeben von anderen römischen und mittelalterlichen Bauwerken. Von den Gebäuden sind meist nur noch die Fundamente erhalten.

Für den ungeübten Betrachter erscheint die Ausgrabungsstätte wie ein heilloses Durcheinander aus Mauerresten, aber Hinzen und Schreiber finden sich im 3D-Modell zurecht wie in ihrem Wohnzimmer. Sie deuten auf einzelne Stellen: Hier war der 175 Meter lange römische Abwasserkanal, dort die ehemalige Synagoge mit der Mikwe, einem jüdischen Ritualbad, hier ein 12 Meter tiefer römischer Brunnen.

Auf dem 3D-Bild der Forscher sind selbst kleinste Einzelheiten zu erkennen. Besonders interessiert sind die Wissenschaftler an den Gebäudeschäden: Die Fundamente des Prätoriums weisen zahlreiche, zum Teil massive, Risse auf. Außerdem stehen einige Fundamente schräg, sie sind um bis zu sieben Grad nach Osten gekippt. Auch der römische Brunnen ist tief unten geneigt. Insgesamt scheint sich der Untergrund des Areals Richtung Rheinufer bewegt zu haben.

„Die Hypothese war, dass ein Erdbeben diese Schäden verursacht hat“, sagt Klaus-G. Hinzen. „Wir gingen davon aus, dass die Erderschütterungen den Hang haben verrutschen lassen, wodurch die Gebäude zum Teil einstürzten.“ Aber die Forscher wollten der Sache genauer auf den Grund gehen. „Einige Archäologen sind wahre Erdbeben-Fans, andere mögen sie gar nicht“, sagt er und schmunzelt. War es also wirklich ein Erdbeben, das die Schäden verursacht hat? Solche Fragen klärt die noch relativ junge Forschungsdisziplin der Archäoseismologie.

 

Erdbeben, Wassermassen oder Plünderer?

 

Alle möglichen Kräfte können Bauwerke schädigen, beispielsweise Flutkatastrophen, Hangrutschungen, eine Feuersbrunst oder Kriegsgefechte. Im Jahr 2010 hat Hinzen mit seinem Team einen Sarkophag in der antiken Stadt Pinara im Südwesten der Türkei unter die Lupe genommen. Dieser war um sechs Grad aus seiner ursprünglichen Lage verdreht. Da die Region reich an Erdbeben ist, schien ein solches auf den ersten Blick auch die Ursache für die Drehung zu sein. Aber wie das Bensberger Team herausfand, ist der Schaden stattdessen wahrscheinlich bei einer Explosion entstanden – als sich nämlich Plünderer an dem Bauwerk zu schaffen machten.

Ein Erdbeben hinterlässt meist charakteristische Beschädigungen an Gebäuden: „Oft sind das kreuzförmige Risse im Mauerwerk, die von den Türen und Fenstern ausgehen“, beschreibt Hinzen, „oder die einzelnen Segmente einer Säule sind sinusförmig gegeneinander verschoben.“ Typisch sind auch umgefallene Pfeiler, deren einzelne Teile wie Dominosteine am Boden aufgereiht liegen. „Schnell entstehen außerdem Defekte an den Ecken eines Ziegelgebäudes, wo zwei Wände zusammenkommen und daher bei einem Erdbeben unterschiedlich gerichtete Kräfte aufeinandertreffen. Dort sind dann oft die Ecken herausgebrochen.“

Doch selbst, wenn die Lage zunächst offensichtlich scheint: Ein Wissenschaftler sollte stets versuchen, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, meint Hinzen: „Es ist wie bei einem Forensiker, der die Todesursache an einer Leiche untersucht. Nur wenn er nach einem bestimmten Gift als möglicher Todesursache sucht, kann er ein solches Gift auch finden. Und so müssen auch wir alle denkbaren Schadensszenarien durchspielen und uns immer fragen: ‚Was kann es noch sein außer einem Erdbeben?‘“ So hat sich die Arbeitsgruppe von Klaus-G. Hinzen im Rahmen eines DFG-Projektes in den letzten Jahren auch die Archäologische Zone Köln genauer angeschaut – und dabei festgestellt: Die Erdbebenhypothese ist gar nicht so plausibel wie zuvor gedacht.

 

Experimente im Computer

 

Die Spurensuche beginnt für die Archäoseismologen stets damit, alle Gebäudeschäden millimetergenau festzuhalten. Stephan Schreiber, der sich in seiner Doktorarbeit mit dem Köln-Projekt befasst hat, holt den Schatz der Forscher aus einer Kammer: den 3D-Laserscanner. Das Gerät ist etwa so groß wie ein Toaster. Es sendet einen Infrarot-Laserstrahl aus, der von seiner Umgebung, beispielsweise von einer Mauer reflektiert wird. Der Scanner registriert den zurückgeworfenen Strahl und berechnet über den Phasenunterschied zwischen der gesendeten und der empfangenen Lichtwelle die Entfernung zur Mauer. Das Scannen eines Bauwerks übernimmt in der Arbeitsgruppe der Vermessungsingenieur Claus Fleischer.

Nachdem das Gerät seine Umgebung einmal vollständig gescannt hat – was je nach Auflösung zwischen 15 Minuten und 2 Stunden dauert – versetzen die Forscher es an eine andere Stelle. So scannen sie innerhalb kurzer Zeit das Areal, das sie interessiert. Alle Daten aneinandergesetzt ergeben virtuelle 3D-Modelle von den Gebäuden und ihrer Umgebung.

Dann beginnt der aufwändige Teil der Arbeit: Computermodelle der Gebäude erstellen. Damit ist die Diplomandin Helen Kehmeier beschäftigt. Sie arbeitet schon seit Beginn ihres Studiums in der Arbeitsgruppe und hat schon mehrere Bauwerke am Computer nachgebaut. Sie ermittelt aus dem Modell der Scannerdaten die genaue Lage jeden Steins und überträgt diese dann in das Bauwerksmodell.

Ist das Gebäude modelliert, können die Berechnungen beginnen. Dabei hilft eine Software, die auf die archäoseismologischen Fragen abgestimmt ist. Helen Kehmeier simuliert beispielsweise die Wirkung eines Erdbebens auf ein römisches Grabhaus in Pinara. Sie vergleicht dann die berechnete Wirkung des Erdbebens mit den in der Grabung vorgefundenen Bauschäden. Das Ergebnis: Tatsächlich hat ein Erdbeben das Grabhaus geschädigt. Da das Bauwerk am Fuße einer Felsklippe liegt, wäre es auch möglich gewesen, dass ein Felssturz die Schäden verursacht hat. Aber die Modellierung hat gezeigt, dass das vermutlich nicht die Ursache war.

 

Vom Regen weggespült

 

Bei der Archäologischen Zone Köln interessierte sich Stephan Schreiber vor allem für den Hang, auf dem die Gebäude stehen. Er untersuchte, ob ein Erdbeben den Boden so bewegt haben kann, dass der Hang in Richtung Rheinufer abrutschte und die Gebäude mit sich riss. „Das hier ist ein Computermodell des Baugrundes in der Archäologischen Zone“, sagt er und zeigt auf den Bildschirm. In der Graphik sind die verschiedenen Schichten des Untergrunds nachgezeichnet, beispielsweise Kies, Sand, Aufschüttungen, Hochflutsedimente. Lässt Schreiber über dieses Modell eine Erdbebensimulation laufen, hinterlassen die Erschütterungen keine bleibenden Veränderungen: der Hang ist stabil. „Dabei sind wir von den stärksten Beben ausgegangen, die hier zu erwarten sind“, erläutert Schreiber. „Solche Erdbeben hätten in Köln und Umgebung mit Sicherheit schwere Schäden verursacht – der Hang jedoch bleibt dabei stabil.“ Daher ist es unwahrscheinlich, dass ein Erdbeben für die Schäden in der Archäologischen Zone verantwortlich ist.

Aber was war es dann? Erosionsvorgänge, vermutet Schreiber, denn der Boden unter der archäologischen Zone enthält große Areale feinen Sandes, sogenannte Feinsandlinsen. Stephan Schreiber hat in einem Modell starke Regenfälle simuliert und gesehen, dass versickerndes Wasser in diese Linsen gelangen und dort das Material auswaschen kann. Dadurch entstanden vermutlich Hohlräume im Erdreich – irgendwann kippte dem Prätorium und den anderen Gebäuden der Boden unter den Füßen weg. „Die derzeitige Datenlage weist eher auf eine unterirdische Erosion hin. Die halten wir für deutlich wahrscheinlicher als ein Erdbeben“, sagt Stephan Schreiber.

Hier wird deutlich: Die Bensberger Arbeitsgruppe testet, ob eine Hypothese plausibel ist oder nicht. „Hundertprozentige Sicherheit gibt es in der Wissenschaft nicht; es geht darum, auf Basis der vorhandenen Daten die richtigen Schlüsse zu ziehen“, sagt Hinzen.

 

Nur interessant oder auch nützlich?

 

Die Archäoseismologie will nicht nur Archäologen bei der Interpretation von Bauwerksschäden unterstützen. „Ein wichtiges Ziel ist es, mehr über die Erdbeben einer Region zu erfahren“, sagt Hinzen. Denn Erdbebengefahrenanalysen stützen sich auf die Kenntnis der Beben, die dort in der Vergangenheit aufgetreten sind. „Deutschland liegt zwar in einem Gebiet mit gemäßigter Erdbebenaktivität, aber auch im Rheinland gab es in der Vergangenheit Erdbeben, die Magnituden über 6,5 erreicht haben.“ Solche starken Beben kann es auch wieder geben. Je vollständiger der Katalog vergangener Erdbeben ist, desto sicherer wird die Prognose für die Zukunft. „In Deutschland, einem Intraplattengebiet, sind Erdbeben viel seltener als an aktiven Plattenrändern wie in Japan oder Kalifornien. Daher ist hier jedes einzelne Beben wichtig und wir müssen jeder Spur nachgehen.“

 

 

Infokasten:

Archäoseismologen können auch helfen, historische Fragen zu klären. In seinem neuesten Projekt schaut sich Klaus-G. Hinzen gemeinsam mit dem Archäologen Joseph Maran aus Heidelberg die antiken Paläste Midea und Tiryns in Griechenland genauer an. Dort stehen die Überreste von Palästen aus der mykenischen Hochkultur, die im zweiten Jahrtausend vor Christus das griechische Festland beherrschte. Als etwa 1200 v.Chr. die großen mykenischen Zentren, darunter Midea und Tiryns, zerstört wurden, bedeutete das auch den Untergang der gesamten Kultur.

Eine beliebte, wenn auch unbewiesene Theorie geht davon aus, dass ein Erdbeben die Städte zerstörte und damit für den Untergang einer ganzen Kultur verantwortlich ist. Ob diese Hypothese plausibel ist, will Hinzen herausfinden: „Wir wollen zwei Fragen klären. Zum einen: Sind die Schäden an den Palästen wirklich Erdbebenschäden? Und wenn ja, war das Erdbeben so stark und so weitreichend, dass es die Ursache für das Ende der mykenischen Kultur gewesen sein kann?“ Möglicherweise zeigt sich ja sogar hier: Erdbeben stiften viel Unheil – aber sie werden manchmal auch überschätzt.