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Wasser kommt, Wasser geht

Das Leben an einem Flussdelta ist von Unbeständigkeit geprägt. Der Kölner Ethnologe Dr. Franz Krause hat den Alltag einer Dorfgemeinschaft in Kanada beobachtet. Dabei lernte er auch eine besondere Form des Glücksspiels kennen.

Luftaufnahme eines Flussdeltas

Als Souvenir von seinem letzten Feldaufenthalt hat Dr. Franz Krause eine maßgeschneiderte Mütze mitgebracht. »Es ist die wärmste Mütze der Welt«, versichert er. Sie ist aus Bisamrattenpelz handgefertigt und kommt aus der »Bisamrattenhauptstadt«, dem 600-Seelen-Dorf Aklavik in der Kanadischen Arktis, 6.400 Kilometer Luftlinie von Köln entfernt. Die Temperaturen fallen in Aklavik im Winter gewöhnlich auf minus 35 Grad Celsius, sinken manchmal sogar auf minus 50 Grad. Die Bisamratte, die lange Zeit die Lebensgrundlage der Aklaviker sicherte, schmückt daher neben der Bibel auch das Ortswappen. Doch weil Pelz aus der Mode gekommen ist, heißt es für die Bewohnerinnen und Bewohner der kleinen Gemeinde: Umdenken.

Kreativität und Flexibilität ist in Aklavik in vielerlei Hinsicht gefragt. Der Ort liegt am knapp 2.000 Kilometer langen Mackenzie River inmitten einer erstaunlichen Landschaft von Wasser- und Landzungen. Hier im Mackenzie-Delta breitet sich der Fluss in unzählbare Verästelungen und Nebenflüsse aus. Der Rhythmus des Wassers changiert mit den Jahreszeiten von einer dicken Eiskruste zu Tauwasser und bestimmt das Tagewerk, dominiert Alltagsentscheidungen, er prägt die lokalen Infrastrukturen. Für Krause ist das abgelegene Dorf deshalb ein idealer Untersuchungsgegenstand.

Familie, fischen, fernsehen

Der Ethnologe interessiert sich für die sogenannten hydrosozialen Beziehungen, die zwischen Menschen und Wasser entstehen.  Wasser ist keine stabile, keine beständige Ressource, sondern immer in Bewegung. Irgendwo gräbt es Dinge fort, anderswo schafft es neues Land. Menschen entwickeln verschiedene Strategien, um mit dieser Ungewissheit umzugehen , erklärt Krause.

Von August bis Dezember 2017 war der Nachwuchsgruppenleiter des Projektes Delta gemeinsam mit seiner Frau und den Zwillingen in Aklavik einquartiert. Der nächstgrößere Ort mit Anbindung an das kanadische Flugliniennetz heißt Inuvik. Von dort sind es etwa 120 Kilometer entlang der Flüsse und Kanäle des Deltas. Im Sommer führt der Weg mit dem Boot über den Fluss, im Winter, sobald das Eis eine Dicke von mindestens 35 Zentimetern erreicht hat, wird der gefrorene Fluss offiziell zu einer Eisstraße ernannt. Dann fährt sogar ein Eistaxi hin und her.

»Was ich dort als Ethnologe mache, nennt sich teilnehmende Beobachtung. Ich bin beim Fischen, Jagen, bei Dorfversammlungen, beim Familienleben und Fernsehen, oder im Kindergarten dabei und erlebe die sozialen Interaktionen der Bewohnerinnen und Bewohner aus persönlicher Perspektive.  Auf diese Weise wertet Krause aus, welche Rolle der Fluss für die Menschen im Ort spielt, das heißt, welche hydrosozialen Strukturen sich herausgebildet haben.

Abgeschnitten heißt jetzt abhängig Ursprünglich lebten die Menschen in Aklavik nomadisch. Wenn sich abzeichnete, dass das Wasser steigt, packten sie ihr Hab und Gut zügig zusammen und siedelten mit den Schlittenhunden auf höhergelegene Regionen um. Heutzutage sind sie sesshaft, bequemer unterwegs, und haben die Schlittenhunde gegen kraftvolle Motoren ausgetauscht. Diese treiben die großen Schlitten, schnellen Boote und PS-starken Geländewagen an, die nun einfach dazugehören.

Nicht nur durch die technologische Aufrüstung seien ganz andere Formen der Abhängigkeit entstanden – auch die kanadische Regierung habe viel zur neuen Realität in Aklavik beigetragen, reflektiert Krause:  Ich hätte nicht gedacht, wie sehr die eigentlich total abgeschnittene indigene Gruppe vom Rest von Kanada abhängig ist , sagt er.

Als Beispiel führt Krause den Sozialen Wohnungsbau an. Viele Menschen in Aklavik leben aufgrund des geringen Einkommensniveaus in diesen bereitgestellten Häusern, die sie weder selbst besitzen noch selbst gebaut haben. Die Sesshaftigkeit führte einerseits zu einer Art modernen Komforts, andererseits auch zu Kontrollverlusten, beschreibt Krause:  Wenn dann mal der Strom ausfällt oder die Wasserpumpe nicht funktioniert, wissen die Leute nicht, wie man das repariert. Da muss dann erstmal jemand aus Inuvik kommen. Und das kann Tage dauern, wenn bei schlechtem Wetter keine Flugzeuge fliegen. 

Kultureller Überlegenheitsdünkel im Kolonialismus

Für die Bewältigung des modernen Alltags hat traditionelles Wissen an Bedeutung verloren. Diese Entwicklung kam allerdings nicht aus eigenem Antrieb zustande, sondern wurde den Bewohnern Aklaviks mehr oder weniger staatlich aufgezwungen.

Der Verlust indigener Identität ist ein weiteres Beispiel für diese politische Steuerung, berichtet Krause von seinen gesammelten Einblicken.  Man hat den Bewohnerinnen und Bewohnern ihren ursprünglichen Lebensstil schwergemacht oder ihn für falsch erklärt.  

Vorangetrieben hat das unter anderem eine stark durchgreifende staatliche Schulpolitik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Ziel der Aktion war es, so Krause, dass man, wie es damals hieß, den ›Indianer aus dem Kind bekommen‹ wollte. Die Kinder sollten zu modernen kanadischen Staatsbürgern werden und wurden aus ihren Familien geholt und in Internate gesteckt.  

Diese sogenannten  residential schools  waren in kirchlicher Trägerschaft. Reden in der Muttersprache oder das Verfolgen kultureller Riten war in den Internaten strengstens untersagt, es drohten Demütigungen, Schläge bis hin zu Folter. Die viele Jahrzehnte später eingesetzte  Royal Commission on Aboriginal Peoples  befand, zutiefst erschüttert, eine Zeit geprägt von  Verunglimpfung der Kultur, Zerstörung von Selbstachtung und Selbstwertgefühl, Zerstörung von Familien . Sie kritisierte  die Auswirkungen dieser Traumata auf nachfolgende Generationen und die Ungeheuerlichkeit kultureller Überlegenheitsdünkel, die hinter dem ganzen Unternehmen steckten.  2005 verabschiedete die kanadische Regierung ein Wiedergutmachungsprogramm in Höhe von 1,9 Milliarden Dollar für die indigene Bevölkerung.

Aklavik, die kleine Gemeinde in den kanadischen Nordwest-Territorien im Delta des Mackenzie Rivers, ist Teil einer weltweiten Geschichte des Kolonialismus. So betrachtet, erscheint es auch schlüssig, dass Arktisforscher Krause – der Mann fürs Kalte – mit seiner Emmy Noether-Gruppe am Global South Studies Center (GSSC) der Universität zu Köln angedockt ist. Der große Forschungsverbund beschäftigt sich ›eigentlich‹ mit dem Globalen Süden.  Ich fülle am GSSC eine Lücke, weil sich niemand mit der Arktis befasst. Aber die Erfahrungen und Diskurse von Abhängigkeit und Kolonialismus sind recht ähnlich zu Afrika, Asien und Co. Es geht doch immer um die Rechte indigener Gruppen , erklärt er und fügt hinzu:  Vielleicht bietet meine Forschung einen Anreiz, den ›Süden‹ nicht nur geographisch zu denken, sondern auch thematisch mit Blick auf koloniale Abhängigkeiten, Handel und Landrecht.«

Wetten auf die Flut In Köln, nahe seiner Heimatstadt Aachen, fühlt sich der Wissenschaftler bis jetzt jedenfalls sehr gut aufgehoben. Einen Fluss gibt es hier auch – Anfang 2018 ist der Rhein sogar um einige Zentimeter über die Promenade gekrochen. Krause brachte das natürlich nicht aus der Fassung.  Was am Rhein ein seltenes Event mit vielen Schaulustigen ist, gehört in Aklavik einfach dazu , weiß der Flussforscher:  Überschwemmung ist sogar ›so‹ normal, dass jedes Jahr im Frühjahr eine Wette organisiert wird, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit denn die große Eisschmelze dieses Mal einsetzen wird. Man wartet nur auf die Flut. Dieses Tippspiel hat eine etwas andere Art von Eventcharakter als das Hochwasser in Köln.