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Time to say goodbye

Am Jahresende wird der Brexit vollzogen. Wie es dazu kam.

Im Schatten der weltweiten Corona-Pandemie und des Dramas um die US-Präsidentschaftswahlen rückt eine tiefgreifende Veränderung für Europa näher: Der Brexit.

Von Eva Schissler
 

Was ein Referendum im Sommer 2016 entschied, wird Ende des Jahres Realität: Mit oder ohne Handelsabkommen verlässt das Vereinigte Königreich mit Ablauf der Übergangszeit den Binnenmarkt und die Zollunion der Europäischen Union. Es ist zu erwarten, dass der Brexit erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft und Politik des Landes haben wird. »Ohne ein Handelsabkommen müssen britische Unternehmen tiefgreifende Anpassungen vornehmen und wirtschaftliche Kosten bewältigen. Einige könnten dabei pleitegehen«, sagt Dr. Chitralekha Basu, Juniorprofessorin für Empirical Democratic Theory am Cologne Center for Comparative Politics. Wenn erneut Zollschranken errichtet werden, droht Inflation. Bei einer Unterbrechung der Lieferketten könnten sogar Versorgungsengpässe entstehen.

Es ist ein riskantes Unterfangen, für das sich die Briten entschieden haben. Selbst mit einem Handelsabkommen werden die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Auswirkungen weitreichend sein – verschärft durch Corona. Während sich die Konsequenzen am Horizont abzeichnen, lohnt ein Blick zurück: Warum entschied sich das Land für den EU-Austritt und wie demokratisch ist seine Umsetzung?

Eine lange Geschichte der EU-Skepsis

Dass das Ergebnis des Volksentscheids vom 23. Juni 2016 knapp ausfallen würde, erschien klar. Doch nur wenige Beobachter sahen voraus, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich tatsächlich für den Brexit entscheiden würde: 52 Prozent stimmten für den EU-Austritt, 48 Prozent wollten, dass das Vereinigte Königreich Mitglied der Union bleibt. »Die meisten hatten erwartet, dass die ›Remainer‹ am Ende an Boden gewinnen würden. Aber das Pendel schwang in die andere Richtung aus«, sagt Basu.

Die »Brexiteers« hatten im Vorfeld eine aggressive populistische Kampagne gefahren. Doch aus der Europäischen Union auszutreten war keine neue Idee: Bereits 2010 und 2011 befürworteten laut Umfragen 40 Prozent der britischen Bürgerinnen und Bürger entweder ein lockereres Verhältnis zur EU oder einen vollständigen Austritt. Basu hat an den Universitäten Oxford und Cambridge studiert und beobachtet seit Jahren die politischen Entwicklungen im Land: Eine skeptische, EU-feindliche Stimmung sei so alt wie die Europäische Gemeinschaft selbst und die Anfänge des gemeinsamen Marktes in den 1980er Jahren.

Umfragen – Die britische Marktforschungs- und Data Analytics-Firma YouGov hat seit 2010 regelmäßig Umfragen zum Wahlverhalten in einem EU-Referendum durchgeführt. Zeitweise hatte das »Leave«-Lager schon lange vor den Kampagnen, die dem Referendum vorausgingen, eine Mehrheit.

Doch warum war die »Leave«-Kampagne so viel effektiver und führte zu dem Überraschungsergebnis? Basu zufolge lag dies vor allem daran, dass sie bestehende Ängste schürte, zum Beispiel vor Einwanderung. Neben der Wirtschaftslage sei dies – zumindest in Teilen der britischen Öffentlichkeit – ein altes Reizthema. »Ein beträchtlicher Teil der Wähler und Wählerinnen sah Einwanderung seit Anfang der 2000er Jahre als eine der drängendsten Fragen an«, erklärt Basu. Als Mitglied der EU und des Binnenmarkts musste das Vereinigte Königreich die Kontrolle über seine Einwanderungspolitik abgeben. Nach dem EU-Beitritt Polens und anderer osteuropäischer Länder nahm die Einwanderung nach Großbritannien in den 2000er Jahren, besonders nach 2003, erheblich zu. »Es war eine sehr sichtbare Veränderung, und manche Bürger waren mit dem Tempo des Wandels unzufrieden«, meint die Wissenschaftlerin. Da viele der Menschen aus Osteuropa kamen, machten die Briten die EU-Mitgliedschaft und die Freizügigkeit dafür verantwortlich.

Komplizierte Berechnungen und krumme Bananen

Der Brexit-Bus: Das Versprechen, eingesparte EU-Beiträge in den National Health Service zu investieren, beruhte auf unseriösen Zahlen.

Die »Leave«-Kampagne grub noch weitere altbekannte Themen wieder aus: Zum Beispiel, dass die EU dem Vereinigten Königreich absurde oder überzogene Vorschriften auferlege. Einige Behauptungen basierten auf glatten Lügen: etwa, dass durch EU-Gesetze geregelt sei, wie krumm Bananen sein dürften. »Diese Behauptungen waren zwar lächerlich, aber weit verbreitet«, sagt Basu. Wirtschaftsliberale Kreise – darunter konservative Abgeordnete und ihre Wähler – nahmen aber auch EU-Vorschriften zu Gesundheit und Sicherheit, Umweltstandards oder Arbeitnehmerrechte ins Visier. Sie seien eine Beschneidung der nationalen Souveränität, eine unzulässige Einmischung Europas in innere Angelegenheiten.

Auch der dritte Streitpunkt hat eine lange Geschichte: Die britische EU-Mitgliedschaft sei zu teuer und das Land bekäme nicht genug für sein Geld. Bereits in den 1980er Jahren hatte sich die Regierung unter Margret Thatcher bemüht, die britischen Beiträge zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu reduzieren. Drei Jahrzehnte später behauptete die »Leave«-Kampagne, dass das Vereinte Königreich bei einem EU-Austritt zusätzliche 350 Millionen Pfund pro Woche für den National Health Service zur Verfügung hätte. »Es gab keine Zahlen, die diese Behauptung untermauerten – die Berechnung wäre viel komplizierter gewesen. Aber Wähler gaben an, dass dies ihre Entscheidung beeinflusst habe. Das ist das wichtige daran«, sagt Basu.

Die »Remain«-Kampagne versuchte zwar, die finanziellen Beziehungen genauer zu erklären. Dabei kämpfte sie jedoch gegen tief verwurzelte, über Jahre verfestigte Überzeugungen an.

Die »Remainers« kamen in der Presse schlechter weg

Die Wahrnehmung dieser »Missstände« schien in den Jahren vor dem Referendum immer noch eine Minderheitenposition zu sein. Hier kam die britische Presse ins Spiel. »Großformatige Zeitungen wie die Times, die Financial Times, der Independent und der Guardian sind allesamt für den Verbleib in der EU. Aber bei vielen populäreren Zeitungen – einschließlich fast aller Boulevardzeitungen – ist das nicht der Fall«, sagt Basu. Diese Zeitungen vertraten schon lange die Argumente der EU-Skeptiker. Im Ergebnis kamen die Argumente der »Remain«-Kampagne schlechter weg. Noch dazu brachte sie kaum positive Argumente für einen Verbleib in der EU hervor. Die Kampagne konzentrierte sich vor allem auf die wirtschaftliche Katastrophe, die bei einem Brexit drohe – etwas, das viele Menschen bis heute als übertrieben empfinden und nicht glauben.

Soll das Ergebnis einer Volksabstimmung für immer gelten? »Remain«-Befürworter wollen das nicht hinnehmen.

Mittlerweile nimmt der Einfluss dieser Zeitungen – wie auch in anderen Ländern – mit dem Aufkommen von sozialen Medien und anderen Onlinequellen ab. Basu: »Das bringt natürlich auch die bekannten Nachteile mit sich. Dennoch schmälert diese Entwicklung die Bedeutung der EU-skeptischen Zeitungen, die die britische Medienlandschaft schon so lange prägen.«

Direkte Demokratie ist ein zweischneidiges Schwert

Seit 2016 hat die britische Regierung aufgrund des innenpolitischen Drucks und des Drucks der EU-skeptischen Presse immer wieder bekräftigt, sie wolle den »Willen des Volkes« respektieren und umsetzen.

Worin dieser Wille besteht, ist für Chitralekha Basu allerdings alles andere als klar: »Es gab so viele Optionen: Binnenmarkt, Zollunion, bleiben und neu verhandeln, austreten. Aber die britische Öffentlichkeit konnte sich nur dafür entscheiden, zu gehen oder zu bleiben.« Diese beiden Optionen hätten jedoch nicht die Bandbreite dessen erfasst, was es zu entscheiden galt.

Wenn es um derart weitreichende Entscheidungen für ein Gemeinwesen geht, befürworten viele Politologinnen und politische Philosophen statt der direkten Demokratie daher die repräsentative Demokratie. Bei so vielen komplizierten Fragen hätten gewählte Vertreter die Frage des EUAustritts entscheiden müssen, meint Basu: »Selbst die ›Remain‹-Kampagne war nicht in der Lage, der Öffentlichkeit alle Feinheiten zu erklären. Die Wahl hätte daher nicht auf ein einfaches Ja oder Nein reduziert werden dürfen.«

Ein weiteres Problem sieht sie darin, dass das Mandat bei weitem nicht klar ist. In einer parlamentarischen, legislativen Wahl entscheiden Wählerinnen und Wähler über Programme, die komplexe Positionen umreißen. Und selbst dann ist klar, dass es Nachverhandlungen geben wird, wenn Parteien in eine Regierung eintreten. Auch ist allgemein anerkannt, dass das gegebene Mandat irgendwann ausläuft: Bei der nächsten Wahl kann man seine Entscheidung überdenken. Aber wann läuft das Ergebnis eines Referendums ab? »Diese Form der Abstimmung sieht vor, dass die Öffentlichkeit einmal entscheidet und keine Möglichkeit hat, diese Entscheidung angesichts neuer Informationen zu überdenken. Es erscheint mir nicht sehr demokratisch, dass die Legitimität des Ergebnisses nie wieder in Frage gestellt werden darf«, reflektiert die Politologin.

Der politische Aktivismus nimmt zu

Das Brexit-Referendum hat die britische Gesellschaft entzweit. Und die Einstellungen sind erstaunlich stabil. Manche »Leavers « bedauern ihre Entscheidung – allerdings weniger, als man angesichts der Entwicklungen der letzten vier Jahre vermuten könnte. »Die meisten Menschen, die für den EU-Austritt gestimmt haben, glauben weiterhin, dass dies die richtige Entscheidung war«, sagt Basu – auch wenn aktuellere Umfragen einen knappen (aber wachsenden) Vorsprung von EU-Anhängern vor Brexit-Anhängern ausmachen. Auch für die britischen Medien gilt: Die Zeitungen, die vorher EU-skeptisch waren, sind es weiterhin – und sie beobachten genau, welche Zugeständnisse die britische Regierung gegenüber der EU macht und kritisieren sie dafür scharf.

Umfragen – Die BBC hat aus verschiedenen Umfragen errechnet, dass 86 Prozent derjenigen, die 2016 für den Austritt gestimmt haben, sich 2019 wieder so entschieden hätten. EU-Befürworter blieben zu 88 Prozent bei ihrer Meinung. Eine Mehrheit derjenigen, die nicht am Referendum teilgenommen haben, sind ebenfalls für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU.

Chitralekha Basu fällt es im Moment schwer, ein optimistisches Zukunftsszenario für das Land auszumachen. Viele Dinge, die der Brexit mit sich bringen wird, könnten in absehbarer Zeit nicht gelöst werden, und die Gräben würden sich wohl noch vertiefen. Aber eine Sache sieht sie positiv: Das Referendum hat den politischen Aktivismus beflügelt. Die Menschen gehen auf die Straße und beschäftigen sich mit dem Thema. Dadurch entsteht ein neues Bewusstsein für die Bedeutung der EU-Frage. »Der Brexit hat so viele Menschen politisiert, die vorher unpolitisch waren. Das kann sich auf lange Sicht positiv auswirken «, schließt sie.   


Juniorprofessorin Dr. Chitralekha Basu forscht und lehrt zu Wählerpolitiken und Repräsentation, zur historischen Entwicklung von Parteiensystemen und zu den Ursprüngen und Eigenschaften von öffentlicher Meinung. Sie hat an der University of Rochester (New York, USA) promoviert. Als Postdoktorandin war sie an der University of Nottingham, der Princeton University und der Universität Barcelona tätig. Seit September 2019 ist sie am Cologne Center for Comparative Politics der Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Fakultätdes Vereinigten Königreichs in der EU.