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"Lügen sind nur die Spitze des Eisbergs"

Ein Gespräch mit dem Philosophen Sven Bernecker über  Erkenntnistheorie im postfaktischen Zeitalter

In öffentlichen Debatten scheinen belegbare Tatsachen immer weniger gegen die Macht des gefühlten Wissens ausrichten zu können. Deshalb wurde »postfaktisch« zum Wort des Jahres 2016. Der Philosoph und Humboldt-Professor Sven Bernecker meint jedoch, dass wir ohne Gefühle gar nicht in der Lage wären, Wissen zu erlangen. Und er zeigt, was die Erkenntnistheorie gegen Fake News ausrichten kann. 

Herr Professor Bernecker, gab es in der Philosophie nicht schon immer Debatten darüber, was Wahrheit und Fakten ausmacht? 

Da müssen wir zunächst zwischen den beiden Begriffen unterscheiden. Es gibt tatsächlich unterschiedliche Definitionen von Wahrheit. Die Korrespondenztheorie besagt, dass die Wahrheit in der Übereinstimmung mit der Realität besteht. Die pragmatische Theorie geht davon aus, dass wahr ist, was nützlich ist. Und die Konsenstheorie sieht die Übereinstimmung einer Aussage mit kompetenten Sprechern der Sprachgemeinschaft als Wahrheit an. Das sind nur einige Beispiele, und keine davon ist unumstritten. 

Und wie steht es mit den Fakten? 

Der deutsche Begriff für Faktum ist Tatsache, und dieser Begriff ist gerade einmal 220 Jahre alt. Er stammt aus der Theologie und bezeichnete die Erfahrung von gerechter Belohnung und Strafe, sofern diese Erfahrung als ein Beweis für Gottes gerechtes Handeln verstanden wird. Ursprünglich galten nur vergangene Ereignisse als Tatsachen und auch dann nur, wenn sie erfahren wurden. Heute bezeichnen wir auch gegenwärtige oder zukünftige Ereignisse, zum Beispiel die Polschmelze, als Tatsachen. Aber sind sie das wirklich? Eigentlich sind es Prognosen – wenngleich gut begründete. 

Die Debatte um den Klimawandel ist ein gutes Beispiel eines emotional aufgeladenen Diskurses. Inwieweit haben Gefühle überhaupt einen Platz im Erkenntnisprozess? 

Emotionen spielen eine sehr wichtige Rolle. Die Auswahl von Informationen erfolgt auf der Grundlage emotionsgesteuerter Präferenzen. Außerdem strukturiert unser emotionales Gedächtnis die Welt und erlaubt sehr schnelle Reaktionen. Wir reagieren beispielsweise auf eine schlängelnde Bewegung, ehe wir die Schlange überhaupt erkannt haben. Die emotionale Reaktion kommt also immer vor der kognitiven. Das geht auf unsere evolutionäre Entwicklung zurück. Außerdem wären wir ohne Emotionen gar nicht in der Lage, Entscheidungen zu fällen. Emotionen sind also keinesfalls Störfaktoren, son- dern ausschlaggebend für Informationsselektion und Entscheidungsfindung. Der seit der Antike vorherrschen- de Dualismus zwischen Gefühl und Kalkül gilt eigentlich als überholt. Die Erkenntnistheorie geht heute von der engen Vernetzung beider Aspekte aus. 

Haben sich Politik und Medien in den letzten Jahren tatsächlich verändert? Das Lancieren von Unwahrheiten und die emotionale Manipulation sind doch altbekannte Strategien. 

Das stimmt. Unwahrheiten und autokratische Politik sind nichts Neues. In der Politik geht es vielleicht gerade etwas plumper zu als gewöhnlich. Aber in den Medien ist tatsächlich ein Wandel zu beobachten. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 scheint sich die Presse stärker zu zensieren. Das mag auf Angstgefühle der Journalisten oder der Eigentümer der Medien zurückzuführen sein. Ein zweiter wichtiger Faktor ist, dass sich heute viele Fernsehsender und Zeitungen im Besitz von Einzelpersonen befinden. Und ein dritter Faktor schließlich ist die Geldknappheit. In vielen Ländern schwinden die Profitmargen, die Medienlandschaft wird kleiner und viele Medien sind vielleicht weniger bereit, eine unpopuläre, aber der Wahrheit zuträgliche Berichterstattung zu leisten. Das hat natürlich auch mit dem Siegeszug des Internet zu tun. 

Inwiefern? 

Das Internet hat grundlegend die Art und Weise verändert, wie wir uns Informationen aneignen. Wir machen uns nicht oft genug bewusst, dass Suchmaschinen wie Google uns keine objektive Auswahl anzeigen, sondern auf früheren Suchanfragen beruhen. Die Suchmaschine erfüllt Erwartungen. Und die sozialen Medien verzerren unsere Wahrnehmung durch »echo chambers«. Aber das ist ein komplexes Thema, mit dem sich die angewandte Erkenntnistheorie beschäftigt. 

Wie kann man angesichts der Flut von Informationen im Internet überhaut zwischen Fakten, Meinungen und Lügen unterscheiden? 

Lügen sind nur die Spitze des Eisbergs. Falschaussagen bezüglich konkreter Fakten sind relativ selten und in der Regel auch leicht zu entlarven. Zum Beispiel, dass der Irak Massenvernichtungswaffen besitzt oder dass sich bei Trumps Amtseinführung mehr Menschen befanden als tatsächlich da waren. Meistens kommen Falschaussagen durch verfälschende Verallgemeinerungen und Vereinfachungen zustande. Zum Beispiel, dass Großbritannien mehr in die EU einzahlt, als es herausbekommt. Das mag in einem Sektor so sein, aber nicht in allen. Andere Aussagen sind falsch, weil sie aus dem Kontext genommen werden. Außerdem gibt es Falschaussagen, die auf vagen oder unbestimmten Begriffen beruhen. Verzerrungen sind auch eine beliebte Form von Fake News. Der Vergleich, dass Deutschland mehr Flüchtlinge aufgenommen hat als Malta, maskiert den Unterschied in der Größe und Wirtschaftsmacht beider Länder. 

Was kann denn die Erkenntnistheorie zur Entlarvung von Fake News beitragen? 

Wenn es um die Entlarvung von reiner Falschheit geht, sind Faktenchecker gefragt. Aber es gibt eine Vielzahl an Fake News, die gar nichts mit Fakten zu tun haben. Da geht es eher um die Frage: Ist das relevant? Was wird zwischen den Zeilen gesagt? Was ist der Kontext einer Aussage und wie ist sie begründet? Auf diese Fragen kann die Philosophie vorbereiten – und auch konkrete Antworten liefern. Zum Beispiel, worin die angemessene Begründung einer Aussage besteht. Die Erkenntnistheorie hat im postfaktischen Zeitalter also einen wichtigen Stellenwert, wenn es um subtilere, aber weiter verbreitete Fälle von Fake News oder alternativen Fakten geht. 

Damit ist auch ein Aufruf an die Philosophie verbunden. In vielen Bereichen gibt es schon lange einen Anwendungsbezug, in der Ethik zum Beispiel. Die angewandte Erkenntnistheorie ist dagegen weniger etabliert. Mein Ziel ist es, die angewandte Erkenntnistheorie an der Uni Köln voranzutreiben.   


SVEN BERNECKER ist ein namhafter zeitgenössischer Erkenntnistheoretiker. Im Juli 2016 kam er als Alexander von Humboldt-Professor an die Universität zu Köln. Neben Kant, dem deutschen Idealismus und der Erkenntnistheorie gehören die Philosophie der Erinnerung und des Vergessens zu seinen wichtigsten Forschungsthemen. An der Universität baut er das Cologne Center for Contemporary Epistemology and the Kantian Tradition (CONCEPT) auf. Hier wollen Forscherinnen und Forscher Kant im Kontext der zeitgenössischen Erkenntnistheorie neu interpretieren. Im Gegenzug soll das Werk Kants in aktuellen erkenntnistheoretischen Debatten neue Impulse setzen