Die Hüterin der Menschenrechte
Seit drei Jahren ist die Völkerrechtlerin Angelika Nußberger Richterin am Europäischen Gerichtshof
Die Kölner Juraprofessorin Angelika Nußberger hat im Januar 2011 ihren Direktorenschreibtisch
im Institut für Ostrecht gegen die Richterbank des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg eingetauscht. 47 Richterinnen und
Richter aus 47 Nationen stehen dort im Dienste der Menschenrechte. Diese wahrhaft
europäische Mission ist der vorläufige Höhepunkt einer beeindruckenden Karriere – doch
wachsen mit der Aufgabe auch die Herausforderungen, wie die Kölner Völkerrechtlerin
zu berichten weiß.
Auf dem Schreibtisch von Angelika Nußberger liegen zwei große Stapel, die mit „in“ und „out“ gekennzeichnet sind, - Fälle, die die Kölner Völkerrechtlerin derzeit bearbeitet. „In Straßburg wird nicht nach juristischen Spezialgebieten unterschieden“, erzählt sie, „hier muss man auf allen möglichen Rechtgebieten fit sein.“ In ihrem ersten Fall habe sie sich dann auch mit dem bulgarischen Namensrecht auseinandersetzen müssen. Komplizierte zivilrechtliche Fallgestaltungen sind Tagesgeschäft in Straßburg. Ganze 130.000 Verfahren sind hier gegenwärtig anhängig; im Vergleich dazu behandelt der Europäische Gerichtshof in Luxemburg gerade einmal 1.500 Fälle im Jahr. „Wir haben aufgrund des hohen Andrangs zu unserem Gericht tatsächlich fast einhundert Mal so viele Eingänge wie unsere Luxemburger Kollegen“, berichtet Nußberger. „Auch wenn die Zahlen allein natürlich nicht sehr aussagekräftig sind.
Vor der großen Kammer, die mit 17 RichterInnen und Richtern besetzt ist, entscheiden wir im Jahr dann auch nur etwa zwei Dutzend Fälle.“ Das Gericht des Europarats, beheimatet im Straßburger „Human Rights Building“, ist als letzte Instanz zuständig für mögliche Menschenrechtsverletzungen aus ganz Europa.
Anders als die Europäische Union zählt der Europarat nicht 27 sondern 47 Mitgliedsstaaten – nur Weißrussland und der Vatikan sind nicht dabei, sehr wohl aber so unterschiedliche Länder wie die Türkei, Russland, Armenien, Aserbaidschan und Georgien. Daher werden in Straßburg auch 42 Sprachen gesprochen. Die Wahrnehmung des Europäischen Gerichtshofs wächst stetig. In Folge der Erweiterung nach Osteuropa bringt das auch immer mehr Verfahren mit sich. Entsprechend groß ist der Akteneingang in den Gerichtspostfächern. Angelika Nußberger bleibt gelassen.
Voller Zuversicht schildert sie ihre Arbeit als deutsche Vertreterin in dem 47-köpfigen Richterkollegium. In den sogenannten Einzelrichterverfahren – der häufigsten Verfahrensart, bei der jedem Richter Fälle aus bestimmten Staaten zugeteilt sind – ist sie zur Zeit zuständig für Fälle aus Frankreich, Estland und Schweden. Außerdem ist sie bei Kammerfällen, in denen sieben Richter entscheiden, als Deutsche immer an den gegen Deutschland gerichteten Verfahren beteiligt. „Dies ist besonders wichtig und spannend wegen des Verhältnisses des EGMR zum Bundesverfassungsgericht“, unterstreicht sie. „Hier gab es ja in den letzten Jahren einige Probleme, besonders in den Verfahren zur Sicherungsverwahrung.“ In der Tat: Ohne die Rechtsprechung des EGMR würde das lebenslange Wegsperren von Straftätern nach Verbüßung ihrer Strafe sicher weiterhin so praktiziert wie zuvor.
Nicht nur dieses Beispiel belegt den ungeheuren Einfluss des Menschenrechtsgerichts und seiner Richterinnen und Richter auf die nationale Rechtsprechung – und letztlich auch die Politik. Mit jedem Satz ist die Begeisterung in der Stimme der Richterin spürbar. „Bei all dem Arbeitsaufwand zeigt sich am Ende dann doch, dass unser Menschenrechtssystem in Europa funktioniert“, erzählt sie. Dabei hatte Angelika Nußberger bis vor nicht allzu langer Zeit gar nicht als Richterin gearbeitet. Bevor sie im Januar 2011 nach Straßburg wechselte, war sie Professorin für Öffentliches Recht, Ostrecht, Völkerrecht, Sozialrecht und Rechtsvergleichung.
Überhaupt musste ihr Werdegang nicht zwingend in die Richtertätigkeit münden. Nach jeweils abgeschlossenen Studiengängen in Slawistik und Rechtswissenschaften in München sowie dem zweiten juristischen Staatsexamen in Heidelberg promovierte sie 1993 in Würzburg über das Verfassungsrecht der Sowjetunion in der Übergangszeit – gerade in dieser Zeit ein wertvolles „Window of Opportunity“, welches die Juristin zu nutzen wusste. Eine wissenschaftliche Karriere war so fast schon zwangsläufig vorgezeichnet. Nach der Promotion war Angelika Nußberger bis 2001 wissenschaftliche Referentin am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht in München, wo sie sich schließlich habilitierte. Zur Professorin wurde die Mutter zweier inzwischen erwachsener Kinder dann in Köln. Hier leitete sie das traditionsreiche Institut für Ostrecht. 2009 war sie Prorektorin an der Universität zu Köln, bis sie zwei Jahre später der Ruf aus Straßburg ereilte. Angelika Nußberger wird nach ihrem Wirken am Europäischen Gerichtshof, für das sie bis 2020 beurlaubt ist, wieder an die Universität zu Köln zurückkehren.
Die Parlamentarische Versammlung wählt die Richterinnen und Richter des Europäischen Gerichtshofs. Vorgeschaltet ist ein nationales Auswahlverfahren, für das sich die Interessenten bewerben müssen. Aus den nationalen Bewerbungsverfahren bilden sich dann die besten Kandidaten für die Wahl heraus, auf welche der Heimatstaat dann (außer über seine Parlamentarier im Europarat) keinen Einfluss hat. „Ich selbst wäre gar nicht auf die Idee gekommen“, schmunzelt Angelika Nußberger. „Aber ein Bekannter gab mir den Tipp, es doch mal zu versuchen, weil die Amtszeit von Renate Jaeger, der damaligen deutschen EGMR-Richterin, bald ablaufen würde.“
Vom Europarat gewählt zu werden ist übrigens ganz entscheidend für die richterliche Unabhängigkeit in Straßburg. Denn so ist jeder EGMR-Richter kein echter „Vertreter“ seines Herkunftslandes, muss sich also auch nicht möglichen Weisungen aus der Heimat beugen. „Das ist besonders wichtig für unsere Arbeit“, betont Angelika Nußberger, „und in manchen Ländern bekommen Kollegen damit echte Schwierigkeiten. Es kann sein, dass man nach neun Jahren nach Hause zurückkehrt und dann plötzlich im eigenen Land eine politische ‚persona non grata’ ist.“ Dies musste selbst der ehemalige Gerichtspräsident – ein Engländer – erfahren: Sogar eher seriöse Blätter wie die „Times“ sparten nicht mit Kritik, weil britische Interessen zu kurz gekommen seien.
700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind neben dem Richterkollegium in der Kanzlei des Gerichts beschäftigt, von welchen besonders die 270 Volljuristen entscheidende Vorarbeit für die Fallbewältigung leisten. Erst nachdem die Akten von ihnen gesichtet wurden, landen sie auf dem Tisch des zuständigen Richters. Je nach den Umständen des Einzelfalls werden die Vorgänge dann unterteilt in Einzelrichterverfahren, in Ausschusssachen für eine Gruppe von drei Richtern oder in Kammerfälle. In außergewöhnlichen Angelegenheiten kann sogar die „Große Kammer“ zuständig sein. „Es ist immer etwas ganz Besonderes, mit so vielen brillanten Kollegen an einem Tisch zu sitzen“, findet Angelika Nußberger. „Besonders mühsam sind aber die Verfahren, die man als Einzelrichter zu bearbeiten hat.“. „Dies allein sind pro Richter schon knapp 2.000 Fälle im Jahr. Hier hat man keine Freiheiten, sondern muss einfach die Akten abarbeiten.“ Das ist vielleicht der größte Unterschied zum gewohnten Professorenberuf. Für neun Jahre hat Angelika Nußberger die mit der im Grundgesetz verankerten Wissenschaftsfreiheit verbundene „absolute Selbständigkeit“ gegen die Pflicht Fälle abzuschließen eingetauscht. Ein Umstand, den sie nicht bereut: „Wenn alle in Europa zusammenarbeiten, ist Europa einfach großartig!“
Björn Schiffbauer