Das Urheberrecht der digitalen Wissensgesellschaften
Kann die konventionelle Rechtssprechung noch dem modernen Informationszeitalter standhalten?
Internetdienste wie Wikipedia und Google Books haben unseren Umgang mit Wissen revolutioniert. Doch mit den neuen Möglichkeiten, die ihnen das Netz bietet, stoßen sie immer wieder an rechtliche Grenzen. Das Urheberrecht stammt aus einer analogen Zeit und ist nicht auf digitale Wissensgesellschaften ausgelegt. Es muss sich ändern, wenn es nicht vom Leben überholt werden will.
„Sie ist wie eine Bibliothek oder ein öffentlicher Park. Sie ist ein Ort, den wir alle aufsuchen können, um zu denken, zu lernen, und unser Wissen mit anderen zu teilen.“ Was sich anhört wie die Gründung einer neuen Universität beschreibt das meistbenutzte Onlinelexikon Wikipedia. Mit diesen Worten wirbt Jimmy Wales, Gründer der Online-Enzyklopädie, für die Zukunft des Wissens. So hört sich also gesellschaftlicher Fortschritt im Internet an. Doch der digitale Weg in die Zukunft kann steinig sein. Die Grundidee von Wikipedia ist, dass jeder die in der Enzyklopädie veröffentlichten Artikel bearbeiten kann. Dazu gehört auch die Verknüpfung mit anderen Inhalten, die sich außerhalb von Wikipedia im Internet befinden. Das betrifft insbesondere die Verlinkung von Bildern.
„Ohne die Möglichkeit einer Kombination mit Inhalten außerhalb der Online-Enzyklopädie hätte sich Wikipedia nicht weiterentwickeln können und wäre langfristig zum Scheitern verurteilt gewesen“, betont Professor Dan Wielsch. Der Rechtswissenschaftler lehrt und forscht seit 2009 an der Universität zu Köln am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtstheorie. Er ist unter anderem Mitgründer des internationalen Forschungsnetzwerkes „Private Law Theory“, das die Rolle des Privatrechts in einer globalen Gesellschaft untersucht. Einen seiner weiteren Schwerpunkte bilden neue Entwicklungen im Recht des geistigen Eigentums.
Die Probleme sind nicht unlösbar
Als Jimmy Wales 2002 das Wikipedia- Projekt initiiert hatte, gab es im konventionellen Urheberrecht keine passende Möglichkeit, die von einer Vielzahl von Autoren erzeugten Artikel und Beiträge frei miteinander zu kombinieren. Größere Sinneinheiten sollten sich dezentral entwickeln können. Deshalb griff Wales auf Lizenzmodelle zurück, die in der Open- Source-Software-Bewegung entwickelt worden waren. Der Grundgedanke dieser Open-Source-Lizenzen besagt, dass man als Autor der Öffentlichkeit eine Nutzungsberechtigung für seine erstellten Inhalte einräumt. Außerdem darf jeder die Inhalte verändern. Allerdings nur, wenn das Resultat unter die gleichen Bedingungen gestellt und ebenfalls der Öffentlichkeit frei zugänglich gemacht wird.
Nun etablierte sich in den folgenden Jahren aber außerhalb von Wikipedia mit den Lizenzen der gemeinnützigen Organisation Creative Commons ein anderes offenes Modell als Standard. Obwohl die beiden Lizenzmodelle eine ähnliche Intention haben, sind sie zunächst einmal inkompatibel. Die Koexistenz dieser beiden Modelle verlangte letztendlich eine Wiederveröffentlichung sämtlicher Inhalte weltweit bei Wikipedia, so dass sie mit dem äußeren Rechtsregime kompatibel wurden. „So etwas wirft in der Tat schwierige urheberrechtliche Probleme auf, die meines Erachtens aber nicht unlösbar sind“ sagt Wielsch. „Hier sehe ich meine Aufgabe als Rechtswissenschaftler, zu untersuchen, wie man diese neuen Formen der kollaborativen Wissensproduktion rechtlich stabilisieren kann.“
Kein Staat kann das ganze Netz kontrollieren
Ein weiteres Problem für viele Internetdienste stellt das jeweils geltende staatliche Recht dar. Man könnte davon ausgehen, dass sich private Lizenzmodelle an das demokratisch legitimierte Recht eines Staates anpassen müssen. Doch ganz so einfach ist die Rechnung nicht. Die Aktivitäten im Internet bilden eine Eigendynamik und lassen sich nicht durch einzelne Akteure steuern. Wenn überhaupt, so kann eine Nation höchstens innerhalb der eigenen Grenzen das Nutzerverhalten mehr oder weniger kontrollieren. Will ein Staat dennoch an den Maßstäben für das Internet mitwirken, so muss er den privaten Rechtsordnungen gegenüber aufgeschlossen sein. Das geht nur, wenn er den eigenen Regelungsanspruch dosiert.
Wielsch untersucht deshalb solche privaten Rechtsordnungen in ihrem Verhältnis zu dem staatlich geschaffenen Recht: „Viele Vorschläge, in denen das Urheberrecht generell infrage gestellt wird, schütten das Kind mit dem Bade aus und verfehlen den Gedanken nachhaltiger Bedingungen für kreative Prozesse“, gibt der Rechtswissenschaftler zu. „Es geht gar nicht darum, das geltende Recht in weiten Teilen abzuschaffen. Es soll stattdessen der modernen Wissensgesellschaft angepasst werden.“
Das Regelwerk des Internets
Vieles, was im Internet passiert, liegt in der Hand von privaten Organisationen. Rechtlich gesehen unterscheiden sie sich kaum von einem eingetragenen Verein für Vogelzüchter. Trotzdem treffen sie oft Entscheidungen, die denen eines Gesetzgebers gleichkommen. Nur weil diese internationalen Organisationen irgendwo ihren Sitz haben, orientieren sie sich noch lange nicht an dem Hoheitsrecht eines Staates. Das ist in etwa vergleichbar mit dem Internationalen Olympischen Komitee. Es hat seinen Sitz in der Schweiz, richtet aber weltweit die Olympiaden aus. Das heißt aber nicht, dass das Schweizer Recht eine besondere Rolle für die Arbeit des Komitees spielt – genauso wenig wie jedes andere nationale Recht, egal in welchem Land die Olympiade ausgetragen wird.
Maßgeblich sind die selbst geschaffenen Regelwerke des internationalen Sports. Genau so gibt es auch bestimmte Regeln des Internets. Um diese Regeln auf Augenhöhe mit dem staatlichen Recht zu stellen, arbeitet Wielsch an einer Aufwertung privater Rechtsmodelle mit. Genau gesagt geht es um die Erstellung eines Rechtskommentars zur neuen Version des Lizenzmodells von „Creative Commons“. Das ist eine juristische Praxis, die bisher „richtigen“, staatlichen Gesetzen vorbehalten ist. Für die Regelwerke privater Organisationen sind solche Kommentare daher eine besondere Anerkennung: „Wenn jetzt ein Kommentar zu einem privaten Regelwerk entsteht, dann behandeln wir dieses Regelwerk ja so, als wenn es ein Gesetz wäre“, sagt Wielsch.
Freier Zugang zu Wissen?
Google ist ein weiterer Internetdiensteanbieter, der für viele Nutzer nicht mehr wegzudenken ist. Mit seinem Projekt „Google Books“ ist er dabei, die weltweit größte digitale Bibliothek zu schaffen. Doch im Gegensatz zu Wikipedia werden die Autoren hier in der Regel nicht freiwillig Teil des Projektes. Die Digitalisierung der Bücher erfolgt über zwei Wege: Zum einen kooperiert das Unternehmen mit Verlagen und erhält die Rechte für eine Verbreitung über das Internet. Daneben scannen Mitarbeiter von Google seit 2005 aber auch komplette Bibliotheksbestände. Das geschieht zwar mit der Zustimmung der jeweiligen Bibliotheken, die Genehmigung der Autoren oder Rechteinhaber der digitalisierten Bücher wurden dazu jedoch nicht eingeholt.
Normalerweise gibt es im Urheberrecht ein „opt-in“-Modell. Derjenige, der ein Werk verwenden möchte, darf es ohne die vorherige Zustimmung des Rechteinhabers nicht tun. Google hat diese Regel im Grunde genommen umgekehrt und ein „opt-out“-Modell geschaffen. Wenn ein Rechteinhaber Einwände gegen die Pläne von Google hat, wird das berücksichtigt. Zunächst wird aber so lange digitalisiert, bis niemand widerspricht. Dies ist eine rechtlich zweifelhafte Praxis und wurde deswegen auch Gegenstand eines Gerichtsverfahrens in den USA.
Laut Wielsch darf man den Nutzen einer solch gigantischen Bibliothek dennoch nicht unterschätzen: „Man kann die Vorgehensweise des Unternehmens sicherlich kritisieren. Google erstellt aber als privater Akteur diese Bibliothek, die öffentliche Institutionen nicht zu schaffen in der Lage waren“, so der Rechtswissenschaftler.
Ohne Austausch keine Kreativität
Dabei ist das Vorgehen von Google gar nicht mal allein finanziell zu begründen. Für jede Publikation die Rechteinhaber ausfindig zu machen und Genehmigungen einzuholen, kostet sehr viel Zeit. Doch gerade für die sich rasant verändernde Wissensproduktion wird ein Zugriff auf digitale Buchbestände immer wichtiger. Aber nicht nur die Wissenschaft profitiert von einem erleichterten Zugang zu geistigen Schöpfungen. Wo kein Austausch stattfindet, ist auch die Kreativität von Kulturschaffenden stark beeinträchtigt. Kommunikation ist für die Erzeugung neuer Kulturgüter genauso essentiell. Künstler, Musiker und Schriftsteller brauchen eine Fülle an Materialien, auf die sie zugreifen können, um neue Werke zu erschaffen. Je schwieriger dieser Prozess wird, ohne dass man die Rechte Dritter verletzt, desto stärker werden kreative Aktivitäten eingeschränkt. Je weniger Kreativität möglich ist, desto weniger kann Neues entstehen, was sich wirtschaftlich verwerten ließe.
„Eigentlich ist es also eine Art Selbstauflösung, weil diese Vereinnahmung kultureller Produktivität durch ein wirtschaftlich ausgerichtetes Urheberrechtsystem letztendlich die Wurzeln der Kreativwirtschaft untergräbt“, sagt Wielsch.
Die Kriminalisierung der Gesellschaft
Das klassische Urheberrecht mag vor Jahrzehnten noch angemessen gewesen sein. Die Lesegewohnheiten haben sich in der letzten Zeit allerdings stark verändert. Immer seltener hat man wie früher nur das gedruckte Buch, sondern oft auch eine digitale Version. Hier ließen sich die alten Regelungen sogar noch relativ leicht übertragen. Eine viel größere Bedeutung hat allerdings die Tatsache, dass sich Menschen mittlerweile dank des Internets viel leichter über geschützte Inhalte austauschen können. Wielsch betont, dass das Urheberrecht nicht für die Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts geschaffen ist: „Es wird systematisch ausgeblendet, was die realen Bedingungen sind. Das Recht muss sich ändern. Wenn es das nicht tut, wird es vom Leben überholt. In Teilen ist es das ja jetzt schon“.
Ein Zeichen dafür ist, dass die Produktionsmittel sozusagen in die Hände der Nutzer gewandert sind. Heute kann jeder mit einem Computer oder Smartphone ohne Weiteres Texte und Bilder online stellen und somit urheberrechtlich relevante Handlungen in der Öffentlichkeit vornehmen. Wer sich im Internet mit seinen Mitmenschen etwa über geschützte Bilder austauscht, beginnt eine hybride Kommunikation. Auch wenn der Austausch unserem Verständnis nach privat ist, begeben sich die Anwender in einen öffentlichen Bereich, denn die Darstellung geschützter Werke im Internet kommt ihrer Veröffentlichung gleich und benötigt die Zustimmung des Rechteinhabers. Eine Zustimmung, die der private Nutzer von Internetdiensten in aller Regel nicht hat und ohne die der Rechteinhaber einen bis in den privaten Bereich hinein verfolgen kann. Das Urheberrecht macht selbst vor dem Kinderzimmer nicht halt, wenn es darum geht, die für Rechtsverletzungen Verantwortlichen zu ermitteln.
Lässt sich das Urheberrecht reformieren?
Doch selbst wenn ein Staat sein Urheberrecht ändern wollte, könnte er dies gar nicht einfach so tun. Während das Internet keine Grenzen kennt, gilt im Urheberrecht das Territorialprinzip. Das heißt, man erlangt den Urheberschutz für ein Werk zunächst einmal nur in dem Land, in dem man es geschaffen hat. Das Internet kennt allerdings keine Landesgrenzen. Deutschland hat sich deshalb wie viele andere Länder auch an internationale Verträge zum Urheberrecht gebunden, in denen jeder Vertragsstaat Urhebern aus anderen Nationen den gleichen Schutz von Werken gewährleistet wie den eigenen Bürgern. Selbst wenn sich in einem Land politische Mehrheiten für eine nutzerfreundliche Reform des Urheberrechtes finden sollten, bliebe die Frage, ob die anderen Vertragsstaaten mitziehen würden. Internationale Abkommen zu den Finanzmärkten oder zum Klimaschutz zeigen, dass dem meistens nicht so ist. In der Regel ist es ein zäher Prozess, die bestehenden Konventionen zu ändern.
Ein Internet ohne Dienstleistungen wie Google oder Wikipedia ist dagegen mittlerweile unvorstellbar. Private Rechtsregime, die auf Lizenzverträgen aufbauen, werden folglich auch in Zukunft eine zentrale Rolle für das Urheberrecht digitaler Wissensgesellschaften spielen. Die Aufgabe für die Rechtswissenschaft wird es auch sein, dieses von privaten Akteuren geschaffene Recht kritisch zu beobachten und Maßstäbe für seine Rechtfertigung zu entwickeln.
Sebastian Grote