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„Sprache ist schmutzig“

Das erste soziolinguistische Labor in Deutschland untersucht den Zusammenhang von Lebensstil und Sprechweise

Fahime Same und Josina Gausepohl in einer Gesprächssituation

Die Wohnzimmeratmosphäre des Labors soll eine natürliche Kommunikation ermöglichen. Mitarbeiterinnen Fahime Same und Josina Gausepohl in einer Gesprächssituation.

Ein Räuspern, eine Wiederholung, eine verschluckte Endung. Im Mittelpunkt des neu eingerichteten Sociolinguistic Lab am Romanischen Seminar der Uni Köln stehen auch jene Elemente unserer Alltagssprache, denen wir beim Sprechen kaum Beachtung schenken. 

Einmal darauf gestoßen, hört man sie immer und überall: Füllwörter wie „also“, „halt“ und ‚ja“ können Sprechende wie Zuhörende auf die Palme bringen – für den Kölner Sprachwissenschaftler Professor Aria Adli sind sie Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung. Im neuen Sociolinguistic Lab an der Uni Köln – dem ersten in Deutschland – sammelt und analysiert er zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern noch die leisesten Töne der menschlichen Sprache. Spricht jemand in ganzen Sätzen oder abgehackt? In welcher Reihenfolge werden die Wörter gesetzt? Welche Sprechmelodie wird genutzt? Phänomene, die uns im Alltag häufig entgehen, werden in Adlis Sprachlabor nach allen Regeln der Kunst in kleinste Einzelteile zerlegt. Ziel ist es, die Besonderheiten unseres Sprechens und Kommunizierens besser zu verstehen. 

Jedes Zögern wird registriert

Im Fokus von Adlis Projekten steht unsere spontan gesprochene Alltagssprache. Als Soziolinguist untersucht er, wie diese abhängig von dem gesellschaftlichen Umfeld der Akteure variieren kann. Im Labor oder auf Forschungsreisen sammelt er deshalb nicht nur detaillierte Sprachaufnahmen, sondern auch  Angaben zum ‚Lebensstil‘ der jeweiligen Probandinnen und Probanden. Inspiriert von der Kultursoziologie Pierre Bourdieus arbeitet Adli mit einem ausführlichen Fragebogen, der nicht nur Alter, Geschlecht, Wohnort oder Schulabschluss abfragt, sondern auch Aspekte wie Freizeitaktivitäten, Medienkonsum, Kleidungsstil oder Essgewohnheiten. 

Zur Analyse der Sprachaufnahmen arbeitet das interdisziplinäre, auch in den Bereichen der Sozialwissenschaften und der computergestützten Informationsverarbeitung ausgebildete Lehrstuhl-Team mit einem komplexen System linguistischer Codes. Alle Aufzeichnungen werden präzise transkribiert, denn jede Wortwiederholung, jedes unbewusste Zögern kann Ausdruck individueller Sprachproduktion sein.

„Die authentische Rede ist, wenn man so will, immer schmutzig“, sagt Adli. „Reduzierte Schemata lassen sich deshalb in der Soziolinguistik kaum anwenden. Jedem einzelnen Beispiel müssen wir mit unserem gebündelten Fachwissen neu begegnen.“ In einem nächsten Schritt werden die Sprachdaten dann mit den im Fragebogen erfassten, sozialen Kriterien in Beziehung gesetzt. „So erfahren wir, ob zum Beispiel bestimmte Satzstellungen von bestimmten Altersgruppen genutzt werden oder ob ökonomische Hintergründe Einfluss darauf haben, wie Redestruktur oder Satzstellung organisiert werden“, führt Adli aus. 

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Clip: Wie vielerorts heute nicht „ich“ sondern „isch“ gesagt wird, ist nur eine von vielen Fragen, denen Soziolinguist/innen nachgehen. Dazu holen sie künftig auch den sprachlichen Alltag von der Straße ins Labor. 


Wer sich wohlfühlt, spricht authentisch

Die Individualität des Einzelnen stellt das Team des Sociolinguistic Lab dabei vor enorme Herausforderungen. „Versuchspersonen sind keine Automaten. Damit man in eine spontane und der bewussten Kontrolle entzogenen Alltagssprache verfällt, muss man sich wohlfühlen“, betont Adli. Die Mensch-Maschine-Barriere versucht er deshalb auf ein Minimum zu reduzieren. Im Labor herrscht eine offene Wohnzimmeratmosphäre mit Tischpflanze, Nierentisch und Sofaecke – Kabel und Monitore bleiben verborgen im Hintergrund.

Da Menschen vor allem dann authentisch sprechen, wenn sie spontan über persönliche Erinnerungen und Erlebnisse berichten, wird auch auf die Interviewführung besonderer Wert gelegt. Es müsse ein Vertrauensverhältnis geschaffen werden, das zwar eine lockere Unterhaltung ermögliche, gleichzeitig aber auch psychische Befindlichkeiten und Grenzen respektiere. Die Vorbereitung dieser Gespräche ist daher Teil einer differenzierten  Methodik, die jeweils an die einzelnen Projekte angepasst wird: „Manchmal benötigen wir für die Vorarbeit mehr Zeit als für die Befragung selbst“, erklärt Adli, der für seine Feldforschungen weltweit die verschiedensten Metropolen bereist hat. „In Teheran zum Beispiel achten wir sehr darauf, uns weit im Vorfeld mit guten Multiplikatoren zu vernetzen. Dort würden wir außerdem Frauen stets von Frauen, Männer stets von Männern interviewen lassen, mit Ausnahme von manchen Vierteln in Nord-Teheran, wo eine andere, weniger traditionelle Bevölkerungsstruktur vorliegt.“ 

„Köln als Standort ist perfekt“

Auch im Kölner Stadtgebiet will der Sprachwissenschaftler künftig verschiedene Projekte durchführen: „Als Standort für ein Sociolinguistic Lab bietet Köln eine perfekte Ausgangslage. Einerseits sind Dialekte sehr präsent, andererseits ist die Stadt sehr international, das schafft eine ganze Bandbreite an sprachlichen Unterschieden. Menschen aus verschiedensten gesellschaftlichen Hintergründen treffen hier zusammen.“

Aktuell plant Adli zusammen mit seinem Kollegen Professor Philipp Angermeyer von der York University in Toronto eine Untersuchung zur mehrsprachigen Situation bei Flüchtlingen. Mit Kolleginnen und Kollegen aus Köln und Berlin konzipiert er außerdem ein Forschungsprojekt zum Thema Register, das sich mit dem Wechsel zwischen verschiedensten Stilebenen in der Alltagssprache befasst. Dabei setzt er auf das Zusammenspiel von Aufnahmen vor Ort und weitergehenden Untersuchungen im Labor. „Diese zweigleisige Methode ermöglicht uns im Sinne einer anthropologischen Soziolinguistik sowohl das direkte Umfeld des Sprechers mit einzubeziehen als auch in einem kontrollierten Rahmen Kommunikationssituationen zu erproben und Sprechexperimente durchzuführen“, so Adli. „Wir hoffen, dass wir auf diese Weise der soziolinguistischen Forschung – nicht nur in Deutschland – eine ganze Reihe wichtiger Impulse geben können.“
 

Dem ‚Warum‘ auf der Spur 

Ob mithilfe soziolinguistischer Methoden auch die tieferen Gründe für die vielen unbewussten Entscheidungen, die wir beim Sprechen treffen, erforscht werden können? Adli bleibt vorsichtig: „Das Feststellen von Korrelationen zwischen sozialen und sprachlichen Charakteristika erklärt noch nicht, warum sie bestehen. Indem wir die vielfältigen Variationen von Sprache sammeln und gruppieren, schaffen wir für weitergehende Erklärungsversuche jedoch eine wichtige Grundlage.“

Anhand der Daten und Analysen des Sociolinguistic Lab könne zum Beispiel auf lange Sicht erfasst werden, wie sich Sprache wandelt und welche gesellschaftlichen Gruppen für welche sprachlichen Phänomene maßgeblicher sind. Auch auf die Frage, wie gewisse soziale Hierarchien durch den Einsatz von Sprache gefestigt oder aufgebrochen werden, könnten nach und nach Antworten gefunden werden. Denn einmal bemerkt und hinterfragt, kann uns auch das leiseste Räuspern womöglich mehr mitteilen, als uns die kleine Unterbrechung im Redefluss vermuten lässt.