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Vom Privileg denken und lesen zu können

Prof. Dr. Dr. Maria Cristina Polidori über ein magisches Buch aus der großmütterlichen Bibliothek

Zu den ersten Erinnerungen, die ich von meiner Kindheit habe, gehören die vielen Bücher in meinem Elternhaus und die bücherarme Wohnung meiner Großmutter. Beide standen in der italienischen Stadt Perugia, einer Stadt, in der damals wie heute viele alte Menschen in vielen alten Gebäuden leben. Dass in der Wohnung meiner Großmutter vermeintlich keine Bücher waren, war das Ergebnis meiner kindlichen Interpretation, die die relative in eine absolute Bücherleere umgewandelt hatte. Doch Großmutters Weisheit zeigte mir, dass das Wissen eines Menschen nicht mit der bloßen Anzahl seiner Bücher korrespondiert. 

Ich war fast 22 Jahre alt, als die Großmutter 1991 verstarb. Wochen später besuchte ich ihre leergeräumte, jedoch weiterhin wunderschöne Wohnung. Insbesondere eine Ecke war sehr attraktiv, bot sie doch einen atemberaubenden Ausblick über die Glockentürme und Hügel von Perugia. Ich erinnere mich, an dem Nachmittag von dieser Ecke aus einen sehr langen Sonnenuntergang beobachtet zu haben. Als die Nacht einbrach, drehte ich mich vom Fenster weg, um zum Lichtschalter zu gehen. Plötzlich, zum allerersten Mal, sah ich ein winziges Bücherregal an der Wand stehen. Ich hatte es 21 Jahre lang übersehen. Unter den wenigen darin verstauten Büchern habe ich dann, ohne zu denken, nach einem gegriffen – es handelte sich um Dialoghi con Leucò (Dialoge mit Leuko) von Cesare Pavese. 

Auf der ersten Seite fand ich eine Widmung aus dem Jahr 1975: »Forza con la rivoluzione culturale!« (»Weiter mit der Kulturrevolution!«). Und: »Trovare tempo per leggere« (»Finde die Zeit zum Lesen«). Sowie: »Dare spazio al pensiero« (»Finde den Raum zum Denken«). In meiner Erinnerung haben sich diese wenigen Minuten, dieser Moment meines Fundes als einmalig herauskristallisiert.  Noch heute empfinde ich es als magisch, wenn ganz unterschiedliche Phänomene sich verbinden: Das sich ständige Erneuern der Natur in den grünen Hügeln, die ursprüngliche Dauerhaftigkeit der Renaissancegebäude, die ausbildungsunabhängige Weisheit der Menschen, unser Privileg, denken und lesen zu können. Dinge zusammenzubringen spiegelt sich wie ein Kontinuum unter anderem in meiner Tätigkeit in Klinik und Forschung wider. 

Im Dialoghi con Leucò erzählt der Autor Pavese vieles über das Leben. Dabei habe ich das Wort »teilen« (»condivisione«) im Sinne von gemeinsam nutzen, definitiv verinnerlicht. Der unbekannte Autor der drei Widmungen (Lesen! Denken! Kulturrevolution!) hat mich dazu angeregt, als Ärztin wie auch als Mutter dreier Töchter Wissen, Ergebnisse und Entscheidungen mit anderen zu teilen – um möglichst viele Instrumente für das Leben zur Verfügung zu haben. 

 


Jeder kennt sie, jeder hat sie.  Dinge, die unter den vielen Gegenständen, die sich im Laufe der Zeit in der Wohnung oder im Büro angesammelt haben, einen besonderen Stellenwert haben. Wir verbinden sie mit einer Person, einer Begegnung oder einem besonderen Augenblick im Leben, der uns in Erinnerung bleibt. Wir haben uns umgehört und gefragt, welche Dinge unseren Lesern besonders wichtig sind und uns ihre Geschichte erzählen lassen.

PROFESSOR DR. DR. MARIA CRISTINA POLIDORI ist Leiterin des Schwerpunkts Klinische Altersforschung an der Klinik II für Innere Medizin. Sie ist verheiratet und Mutter dreier Töchter.