Die Geschichte der Anderen
Erinnern Geschichtsmuseen ausreichend an die Schicksale von Einwanderern?
Historische Museen sammeln, bewahren und zeigen, was unsere ergangenheit ausmacht. Die Geschichte von Einwanderern gehört ohne Zweifel dazu. Dennoch behandeln viele Museen das Thema nur stiefmütterlich. Die Kölner Doktorandin Sandra Vacca hat Ausstellungen in Deutschland, Frankreich und England und ihren Umgang mit Migrationsgeschichte untersucht.
Dutzende Journalisten drängeln sich am Morgen des 11. Septembers 1964 an einem Bahnsteig in Köln-Deutz. Jeden Moment müssten die beiden Sonderzüge aus Lissabon mit rund tausend Spaniern und Portugiesen eintreffen. Jetzt gilt es, bloß den Richtigen zu finden. In welchem Waggon sich der millionste Gastarbeiter befindet, wissen auch die Beauftragten der deutschen Arbeitgeberverbände nicht. Ihren Kandidaten hatten sie zuvor durch Blindtippen auf der Namensliste gewählt: Es traf den 38-jährigen Portugiesen Armando Rodrigues de Sá. Als Willkommensgeschenk erhält er ein zweisitziges Moped der Marke ‚Zündapp‘. Noch bevor der gelernte Zimmermann aus Portugal das Theater um seine Person verstehen kann, machen ihn die Fotografen in einem Blitzlichtgewitter zur Ikone.
Heute steht das Moped des millionsten Gastarbeiters im Haus der Geschichte in Bonn. Vermutlich ist es das berühmteste Exponat zur deutschen Einwanderungsgeschichte und doch gibt es fast nichts über das Leben seines ehemaligen Besitzers preis. Über Rodrigues’ Hoffnungen und Ängste erzählt es ebenso wenig wie über sein tragisches Ende in Portugal. Die Kölner Doktorandin Sandra Vacca kennt etliche Geschichten zu solchen Exponaten. Seit 2011 forscht sie an der Universität zu Köln über Migrationsgeschichte im Museum. Die Dauerausstellung im Haus der Geschichte ist nur eine von vielen, die Vacca für ihre Doktorarbeit untersucht hat. Seit Monaten zieht die Historikerin von Museum zu Museum: zunächst in Frankreich und England, momentan in Deutschland. Sie nimmt Exponate unter die Lupe, sichtet Archivmaterial, spricht mit Kuratoren und beobachtet die Reaktionen von Besuchern. Aus all dem ergibt sich ein großes Puzzle, mit dem sie sich Stück für Stück einer Antwort auf ihre Ausgangsfrage nähert: „Ich möchte wissen, welche Vorstellung von Einwanderung es in Deutschland, Frankreich und England gibt. Museen sind schließlich auch immer Spiegel der Gesellschaft – oder sollten es zumindest sein“, sagt Vacca.
Migrationsgeschichte oder Folklore?
Wenn die gebürtige Französin über Migrationsgeschichte spricht, dann ist es auch ein Teil ihrer persönlichen Geschichte. Nach einem Auslandsjahr in England hat sie sich entschieden, ihr Studium dort zu beenden. Es folgten ein Museologiestudium und ein Job als Kuratorin in Schottland bis sie schließlich ein Stipendium an der Kölner Graduiertenschule a.r.t.e.s. erhielt. Bei der Recherche für ihre Doktorarbeit kam Sandra Vacca schnell zu dem Ergebnis, dass sich die Museologie der Migration in den drei Ländern teils deutlich voneinander unterscheidet. Das sieht sie nicht zuletzt anhand der Diskussionen, die solche Ausstellungen begleiten und stark von der jeweiligen Migrationspolitik geprägt sind. „In England hat sich zum Beispiel der Begriff ‚Diversity‘ für die Anerkennung verschiedener Gruppen schon sehr früh durchgesetzt“, sagt Vacca. „Wenn ich mit britischen Museologen über die aktuellen Konzepte hierzulande rede, verwundert sie das, weil es bei ihnen schon so selbstverständlich ist.“
In Deutschland und Frankreich, wo Debatten über doppelte Staatsbürgerschaft, Sprachbarrieren und Kopftücher allgegenwärtig sind, tun sich Museen schwerer mit der Migrationsgeschichte. In Frankreich kommt noch hinzu, dass ein Großteil der Migranten aus den ehemaligen Kolonien stammt und die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte noch bei weitem nicht abgeschlossen ist.
Doch so sehr sich die Museen in Deutschland, Frankreich und England auch voneinander unterscheiden – letztendlich stehen sie laut Vacca vor der gleichen Herausforderung, und zwar die komplexe und politisch oft sensible Migrationsgeschichte mit einer begrenzten Anzahl an Exponaten zu erzählen. „Museen zeigen nicht die Realität, sondern immer nur eine Auswahl. Gerade deshalb ist es wichtig, dass die zur Verfügung stehenden Exponate zum Nachdenken anregen“, betont Vacca. Tatsächlich seien viele Objekte, die zum Erzählen der Migrationsgeschichte benutzt werden, besser in einem Folkloremuseum aufgehoben. Ein türkisches Musikinstrument oder ein Couscoustopf etwa eignen sich ihrer Meinung nach hervorragend, um Menschen anders und exotisch erscheinen zu lassen – nicht aber, um sie als Teil der Gesellschaft zu sehen.
70.000 Exponate aus dem Alltag von Einwanderern
Ähnlich sieht es mit dem ausgestellten Moped im Haus der Geschichte aus. Der Gastarbeiter aus Portugal nahm sein Geschenk dankbar entgegen. Zum Jubeln war ihm wahrscheinlich trotzdem nicht zumute. Nach der Trennung von Familie und Freunden in Portugal hatte Rodrigues eine strapazierende dreitägige Reise in einem Nahverkehrszug hinter sich. In Köln angekommen hört er, wie sein Name per Lautsprecher ausgerufen wird und befürchtet zunächst Probleme mit den Behörden. Das Moped sollte zur Ankunft des millionsten Gastarbeiters öffentlichkeitswirksam eine gastfreundliche Bundesrepublik inszenieren. Für Besucher besteht die Gefahr, dass sich im Museum genau dieses Bild überträgt. „In diesem Fall hätten wir massive Botschaftsprobleme“, so Vacca. Aber welche Exponate eignen sich überhaupt, um Migrationsgeschichte zu überliefern?
Fündig wird man unter anderem beim Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland – kurz DOMiD. Seit über 20 Jahren sammelt und bewahrt der Verein Objekte zur Migrationsgeschichte. Neben ihrer Dissertation arbeitet Sandra Vacca als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei DOMiD. Einst von vier Einwanderern gegründet befindet sich das Archiv heute im Gebäude des Bezirksrathauses Ehrenfeld. An den Wänden hängen Bilder von Migranten und ihren Nachfahren. Jeweils drei Ganzkörperporträts zeigen drei Generationen einer Familie. Am Ende des Ganges steht ein klappriger Gepäckwagen mit alten Koffern. „Das hier ist kein Museum“, betont Vacca. Eine Dauerausstellung sei aber von Anfang an das Ziel von DOMiD gewesen.
Für ihre Forschung spielt der Verein daher eine wichtige Rolle. Obwohl DOMiD regelmäßig Ausstellungen organisiert und verschiedenen Museen Exponate ausleiht, bleibt der Großteil der Sammlung bislang für Besucher verborgen. Zwischen dem Archiv im Bezirksrathaus und einem zentralen Migrationsmuseum in Deutschland steht neben der Suche nach geeigneten Räumen vor allem die Finanzierungsfrage. In den Depots ist alles nach Archivstandards verpackt und die Temperatur reguliert, an den Fensterscheiben kleben UVSchutzfolien. Rund 70.000 Exponate aus dem Alltag von Einwanderern lagern hier – Möbel, Radios, Spielzeug, Zeitschriften und Brotdosen. Bei einigen Gegenständen ist auf den ersten Blick unklar, warum sie in ein Museum gehören und nicht etwa auf den Trödelmarkt.
Migration ist keine Ausnahme, sondern der Normalfall
Die Migrationsgeschichte steckt nicht in den Objekten, sondern in den Erzählungen dahinter. Vacca befreit einen Gegenstand von der schützenden Wattepolsterung. Ein Metallzylinder kommt zum Vorschein: „Ein Spirometer zur Messung der Luftmenge beim Ausatmen“, erklärt sie. „Vor der Ausreise hat man die sogenannten Gastarbeiter auf ihre Tauglichkeit überprüft.“ Die Doktorandin holt ein Schwarzweißfoto, das einige Arbeiter bei einer medizinischen Untersuchung zeigt. Zu sehen sind mehrere Männer in einer Reihe aufgestellt und nur in Unterhosen gekleidet. Keiner von ihnen schaut direkt in die Kamera. Ihre ernsten Gesichtsausdrücke kann man trotzdem erkennen. Wer nicht ausreichend fit war, durfte nicht zum Arbeiten nach Deutschland kommen.
Auch wenn die Gastarbeiter einen wichtigen Teil der Migrationsgeschichte einnehmen, besteht sie aus deutlich mehr Gruppen. Ein- und Auswanderung gibt es überall auf der Welt in allen Gesellschaftsschichten. Historisch gesehen ist Migration sogar der Normalfall und keine Ausnahme. Kuratoren in Geschichtsmuseen sollten deshalb laut Vacca umdenken. Im Deutschen Historischen Museum in Berlin oder im Haus der Geschichte in Bonn etwa treffen die Besucher hier und da auf Vitrinen, die das Thema Migration behandeln. Der Bezug zu anderen Teilen der Ausstellung fehlt oft. „Viele Exponate eigen sich dabei hervorragend, um jenseits von Migration die Alltagsgeschichte verschiedener Generationen zu erzählen“, so Vacca.
Die Möglichkeiten, Migrationsgeschichte zu erzählen, sind so unterschiedlich wie die Exponate hierzu. Einige Ausstellungen wählen eine Opferperspektive, andere erzählen Migration als Erfolgsstory und wiederum andere stellen einen bestimmten Ort in den Fokus. Es sind jedoch immer nur Bruchstücke mit vielen Leerstellen. Nur wenige Ausstellungen gehen etwa darauf ein, wie sich Migration auf die Herkunftsländer auswirkt. „Abwanderung hat immer einen erheblichen Einfluss auf die Gesellschaft. So stehen zum Beispiel weniger Arbeitskräfte zur Verfügung“, sagt Vacca.
Biografien statt Ikonen
Vacca hofft, dass Migrationsgeschichte bald stärker in Dauerausstellungen integriert sein wird. Immerhin ist die Museumslandschaft insgesamt im Umbruch. Vor einigen Jahren hat der Deutsche Museumsbund einen Arbeitskreis zum Thema Migration gegründet und entwickelt momentan einen Leitfaden hierzu. Für Vacca spielt hierbei die Distanzierung vom Begriff „Integration“ eine wichtige Rolle. Der Gedanke, dass sich alle Menschen der Mehrheit einer Gesellschaft anpassen müssen, ist mittlerweile überholt. Ihrer Meinung nach geht es jetzt mehr um das Teilhaben: „Ich hoffe, dass wir die Fragen, die ich jetzt in meiner Dissertation zu beantworten versuche, in einigen Jahren nicht mehr stellen müssen. Das Ideal wäre, Migration im ganzen Museum unterzubringen, ohne dass man es als isoliertes Thema wahrnimmt.“
Die Doktorandin hält individuelle Biografien wie die des millionsten Gastarbeiters nach wie vor dafür geeignet, Migrationsgeschichte zu erforschen und vermitteln. Allerdings sollte seine Geschichte nicht auf die feierliche Ankunft am Bahnsteig reduziert werden. Migration ist meist viel komplexer als eine Auswanderung von einem Ort zu einem anderen. Rodrigues etwa pendelte in seinen letzten Lebensjahren oft zwischen beiden Heimaten hin und her. Bei einem Arztbesuch in Portugal erfuhr er schließlich, dass er an einem Magentumor litt. Nach Deutschland kehrte er daraufhin nicht mehr zurück. Das mühsam ersparte Geld ging in den folgenden Jahren für die teuren Medikamente drauf. Was er und seine Familie nicht wussten: Als Gastarbeiter hätte er Anspruch auf Krankengeld gehabt. Im Alter von nur 53 Jahren starb der einstige Vorzeigearbeiter.