Chancen und Krisen
Deutschlands arme Kinder
2010 war das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Von beidem sind in Deutschland in zunehmenden Maße Kinder betroffen: Mindestens jedes 6. Kind unter 15 Jahren in Deutschland lebt in Armut. In Zahlen bedeutet das über 2,8 Millionen Kinder in unserem Land, die soziale Ausgrenzung erfahren.
Von Robert Hahn
2010 war das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Von beidem sind in Deutschland in zunehmenden Maße Kinder betroffen: Mindestens jedes 6. Kind unter 15 Jahren in Deutschland lebt in Armut. In Zahlen bedeutet das über 2,8 Millionen Kinder in unserem Land, die soziale Ausgrenzung erfahren. Das Kölner Forschungsprojekt „Infantilisierung der Armut? Gesellschaftspolitische Ursachen und psychosoziale Folgen in Ost- und Westdeutschland“ unter Leitung von Professor Christoph Butterwegge vom Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften widmete sich drei Jahre lang den Auswirkungen auf die Lebenslage der Kinder, auf ihre sozialen und psychischen Dispositionen. Das Projekt war Bestandteil des von 2000 bis 2007 durch das Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen geförderten Forschungsverbundes „Armut und Kindheit“. Armut in einer reichen Industrienation scheint ein Widerspruch in sich selbst zu sein: Arm unter Wohlhabenden? „Die Armut, mit der wir es hier zu tun haben, ist natürlich etwas ganz anderes als das, was sie in der Dritten Welt darstellt, wenn Menschen am Straßenrand verhungern“, erklärt Christoph Butterwegge, der Leiter des Kölner Projekts. Die Armut in den reichen Industriestaaten wird von der Armutsforschung als „relative Armut“ bezeichnet. In der EU von relativer Armut betroffen oder bedroht ist, wer unter 60 Prozent des nach Haushaltsgröße gewichteten Medianeinkommens seines Landes zur Verfügung hat. Der Median bezeichnet dabei das mittlere Einkommen.
Defizite in allen Lebenslagen
Der Mangel an materiellen Ressourcen führe zu einem Mangel an sozialer Bewegungsfreiheit, so Butterwegge: „Armut in Köln ist zwar eine andere als in Kalkutta, Kairo oder Kapstadt. Sie ist aber für die Menschen nicht weniger bedrückend, bedrängend und erniedrigend.“ Im Gegenteil sei sie sogar für viele Betroffene deprimierender, weil die Armen in einer reichen Industrienation von Wohlstand umgeben seien und entsprechend mehr litten. Beschränkungen in ihren Handlungsmöglichkeiten seien die Folge. Um diese Beschränkungen im Einzelnen zu definieren, folgten die Kölner Forscher dem „Lebenslagenansatz“, der die Defizite der Kinder im Bildungs-, Kultur- und Freizeit- wie auch im Wohn- und im Gesundheitsbereich beschreibt. Ziel der Kölner Wissenschaftler war dabei die Erforschung der subjektiven Wahrnehmungen, Deutungsmuster und Bewältigungsstrategien von Kindern in prekären Lebenslagen. Dafür beobachteten und befragten die Forscher Grundschulkinder der vierten Klasse in Köln und Erfurt und verglichen die Ergebnisse. Die komparativistisch angelegte Arbeit diente einem Ost-West-Vergleich an Hand von Daten aus beiden Städten.
Beobachten und Fragen
Die Wissenschaftler brachten dabei einen Methodenmix aus qualitativer und quantitativer Sozialforschung zum Einsatz. Eigenaussagen der Kinder als Expertinnen und Experten für ihre eigene Situation, Beobachtungen durch die Wissenschaftler und die Ergebnisse der Auswertung von Fragebögen lieferten den Forschern umfassende Aussagen über die Lebenssituation von Kindern in Armut.
In einem ersten Schritt führten die Wissenschaftler ausgehend von teilnehmenden und nichtteilnehmenden Beobachtungen zahlreiche Interviews durch, die die subjektiven Wahrnehmungen, Handlungsstrategien und Deutungsmuster der Betroffenen ergründen sollten. Die dadurch erlangten Informationen bildeten die Grundlage eines standardisierten Fragebogens, mit dem auf einer breiten empirischen Basis Fakten zur Lebenssituation von Kindern gesammelt und ausgewertet werden konnten. In der letzten Projektphase wurden die qualitativen und quantitativen Daten miteinander verknüpft und die so gewonnenen Erkenntnisse zu fundierten Aussagen verdichtet. Die Auswahl und Eingrenzung des Forschungsfeldes in Köln und Erfurt erfolgte dabei über Analysen regionalisierter Daten zur sozialen Situation in den beiden Städten, die eine vergleichende Untersuchung ermöglichen. Die Auswertung der Daten erfolgte anonym.
Ergebnis: Soziale Isolation
Betroffen von Armut waren laut Studie vor allem Alleinerziehende und kinderreiche Familien, deren Haushaltseinkommen zu gering war, um den Unterhalt von Kindern zu bestreiten. „Kinderarmut ist natürlich immer auch Eltern-, vor allem Mütterarmut“, so Butterwegge. „Sie hat damit zu tun, dass es den Familien materiell schlecht geht.“ Das führe nicht nur zu Spannungen innerhalb der Familien, sondern auch und vor allem zu Restriktionen für die Kinder, die in ihrer kognitiven Entwicklung, schulischen Leistungsfähigkeit, psychischen Stabilität und physischen Konstitution gefährdet sind. Geradezu banal, aber in ihrer Tragweite schwerwiegend waren die materiellen Gründe und sozialen Umstände dieser Restriktionen. Genannt sei nur der beschränkte Wohnraum, unter dem viele Familien litten. So verfügten die Kinder aus armen Familien nicht nur über keinen eigenen Platz, um ihre Hausaufgaben zu machen, zu entsprechend schlechteren schulischen Leistungen führte. Dadurch, dass die Kinder ihre Klassenkameraden nicht zu Geburtstagen oder ähnlichen Anlässen zu sich nach Hause einladen konnten, gerieten sie zudem in soziale Isolation.
Kinder leiden ganz besonders
Ebenso ging es Kindern, deren Eltern sie nicht auf die Klassenfahrten mitschicken konnten. Fehlende Förderung durch Nachhilfeunterricht führte zur häufigeren Nichtversetzung mit den bekannten sozialen Problemen. Da bei vielen Familien das Haushaltsgeld nur bis zur Mitte des Monats reichte, stellten sich bei manchen Kindern auch Ernährungsprobleme ein. „Die meisten Kinder leiden stark unter der Armut. Es fehlen ihnen geeignete Mechanismen, um die Folgen der Armut zu bewältigen“, erklärt Butterwegge. „Somit steigt das Risiko von Verhaltensstörungen und -auffälligkeiten.“ Erstaunlich war die weitgehende Tabuisierung des Themas „Kinderarmut“ an den Schulen. Sowohl die Schulleiter wie auch die Lehrer neigten dazu, offensichtliche Armutssignale eher als individuelle Vernachlässigung der Kinder zu deuten. „Da niemand „arm“ sein will, verdrängt man das Problem oder schiebt es den Eltern in die Schuhe“, so Butterwegge. Statt darin ein gesellschaftliches Phänomen zu sehen, wurde die „Schuld“ bei den Individuen gesucht und gefunden.
Armut der Eltern – Armut der Kinder
Oft bedeutet die Armut in der Kindheit den Anfang einer lebenslangen Karriere als Armer und die soziale „Vererbung“ Armut an die eigenen Kinder. Wie kann man den Kindern helfen aus diesem Teufelskreis zu entkommen? Ist Bildung der Königsweg, um der Armut zu entrinnen? „Das wird in der Öffentlichkeit häufig angenommen“, so Butterwegge. Gerade die derzeitige Diskussion um Bildungsgutscheine gehe wieder in diese Richtung. Eine bessere Bildung allein würde aber seiner Ansicht nach nicht helfen. „Man setzt zu stark auf Bildung. Sie hat in der Öffentlichkeit mehr die Funktion einer Art Beruhigungspille.“ Gerade im Niedriglohnsektor hätten über 80 Prozent der Beschäftigten eine abgeschlossene Berufsausbildung, viele sogar einen Hochschulabschluss.
„Bildung schützt längst nicht mehr vor Armut“, schließt der Politikwissenschaftler daraus. Deswegen sei es sinnlos, Bildung als eine Art Wunderwaffe gegen Armut zu begreifen. „Arme Kinder sollten bessere Bildungschancen haben. Aber auch wenn alle armen Kinder und Jugendlichen besser gebildet wären, würden sie womöglich auf einem höheren intellektuellen Niveau um die weiterhin fehlenden Lehrstellen und Arbeitsplätze konkurrieren.“ Bildung könne zwar in Einzelfällen helfen, dem Schicksal der sich perpetuierenden Armut zu entkommen. Einen gesellschaftlichen Automatismus zialexperte allerdings nicht erkennen: „Armut führt dazu, dass man dumm gemacht wird. Der Kluge wird jedoch nicht automatisch reich.“
Aufgaben der Gesellschaft
Wichtiger als nur im Bildungsbereich allein zu fördern sei es, die Armut an der Wurzel zu bekämpfen und die materiellen Bedingungen zu verbessern. Wohlhabende Menschen hätten die Möglichkeit, sich zu bilden und freier über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden. Millionen Menschen brauchten mehr Geld, um sich undihre Familien zu ernähren. Sonst könnten sie am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben nicht teilnehmen, so der Kölner Wissenschaftler. Dazu sei eine andere Arbeitsmarktpolitik notwendig und ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn wie in 20 von 27 EU-Staaten. In den skandinavischen Ländern werde die Armutsbekämpfung als gesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen. In Deutschland werde dem betroffenen Individuum die Schuld an seiner Misere selbst angelastet. Durch ideologische Behauptungen wie „Jeder der will, findet auch einen Arbeitsplatz“ entledigten sich Staat und Gesellschaft ihrer Verantwortung. Diese Ignoranz gegenüber der Problematik setze sich zum Teil in der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Politik fort, so Butterwegge. Es sei heute ausgesprochen schwer, für Forschungsprojekte zum Armutsthema Drittmittel einzuwerben.
Düstere Prognosen
Doch gerade in der heutigen Zeit sei das Thema „Armut“ von überaus großer Bedeutung für die Gesellschaft. Am Horizont täten sich Gefahren für das friedliche Zusammenleben und selbst für die Demokratie auf: „Ich sehe die Gefahr von Parallelweltenher aufziehen, und zwar sowohl bei den Armen wie auch bei den Reichen“, so Butterwegge. Während sich die Reichen wie schon heute in den Vereinigten Staaten in von privaten Sicherheitsdiensten bewachten Luxusquartieren – sogenannten „Gated Communities“ – abschotteten, wüchsen die Kinder von Hartz-IV-Empfängern zunehmend in einer von Lebensmitteltafeln, Sozialkaufhäusern und Kleiderkammern der Wohlfahrtsverbände geprägten Umgebung auf. Diese Entwicklung müsse gestoppt werden. „Denn das wäre eine Gesellschaft, die inhuman ist, die unsozial ist und die wahrscheinlich eher undemokratisch strukturiert wäre“, so der Wissenschaftler. Eine alleinerziehende Mutter, die von ALG II lebe, könne nicht mehr an den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen teilnehmen. Insofern sei ein großzügiger und gut ausgestatteter Sozialstaat die Grundvoraussetzung für das Funktionieren unserer Demokratie.
Gibt es denn überhaupt keine Chancen angesichts der wachsenden Armut in Deutschland? „Chancen in dieser Krise sehe ich nur, wenn sich die Gesellschaft bewusst wird, dass sie auseinanderzufallen droht“, schließt Christoph Butterwegge: „Falls die Wohlhabenderen merken, dass der soziale Zusammenhalt auch für sie nötig ist, um friedlich leben zu können, birgt die Krise auch eine Chance in sich.“