Judith Butler an der Uni Köln
Erste Vorlesung von Judith Butler am 20.06.2016
Albertus-Magnus-Professorin sprach zum Thema "Ethik und Politik der Gewaltlosigkeit"
von Silke Feuchtinger und Eva Schissler
Schon eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung war die Aula voll. Nicht nur aus Köln, auch aus anderen Städten waren Studierende, Wissenschaftler/innen und Interessierte angereist, um Judith Butlers Vortrag zur „Ethik und Politik der Gewaltlosigkeit“ zu hören. „Ein akademischer Ausnahmezustand“, wie Prof. Dr. Andreas Speer als Rektoratsbeauftragter für die Albertus-Magnus-Professur erfreut feststellte. Butler, eine der einflussreichsten Geisteswissenschaftlerinnen weltweit, betrat am Montagabend eher bescheiden die Bühne und winkte kurz ins Publikum. Die Vorlesung hielt die Mitbegründerin der Gender-Studies auf Deutsch, wobei sie an einigen Stellen und bei der anschließenden Fragerunde ins Englische wechselte.
„Für mich war es sehr interessant, Butler heute als Person und Rednerin erleben zu können. Ihre Texte fand ich bisher immer sehr spannend und klug, aber die Person hinter den Theorien, habe ich nicht aktiv wahrgenommen. Schön, dass ich heute die Gelegenheit dazu hatte.“
Marie, Studentin, Uni Köln (Philosophie und Geschichte)
Bekannt wurde Butler in den 1980er und 90er Jahren durch ihre Theorie, dass Geschlechtsunterschiede ihren Ursprung in performativen Akten, nicht in biologischen Differenzen haben. In der ersten Vorlesung im Rahmen der Albertus-Magnus-Professur 2016 ging es aber nicht in erster Linie um Geschlechterkategorien. Butler sprach über die Unterschiede im Betrauern und in der „Betrauerbarkeit“ menschlichen Lebens. Dabei geht es ihr nicht um ein persönliches oder subjektives Betrauern eines geliebten Menschen, sondern um den ungleichen Wert, der menschlichem Leben im Rahmen von staatlichen und globalen Machtverhältnisse zugemessen wird. Der drohende Verlust menschlichen Lebens kann nur durch die Herstellung einer gleichberechtigten Betrauerbarkeit verhindert werden. „Die Betrauerbarkeit begründet gleichwohl das Anrecht auf Leben“, so Butler.
„Meine Erwartungen wurden absolut erfüllt. Ihre Subjekt- und Selbsttheorie aus ‚Bodies That Matter‘ hat Butler heute quasi durch das Thema Betrauerbarkeit weiter exemplifiziert. Denn auch hier geht es ja letztlich um die Frage, welche Körper von Gewicht sind. Gut gefallen hat mir auch Butlers souveräne Art, mit den verschiedenen Diskussionspunkten des Publikums umzugehen. Man könnte vielleicht noch ergänzend fragen, wie die Betrauerbarkeit von Tieren zu bewerten wäre. Das wäre vor allem für die Animal Studies eine interessante Fragestellung, die sich vielleicht im Rahmen einer ihrer Workshops an der Uni Köln in den nächsten Tagen noch klären wird.“
Johanna Tönsing, Wissenschafltiche Mitarbeitern, Universität Paderborn (Literaturwissenschaft)
Das Machtsystem, das sie für die ungleiche Verteilung von Betrauerbarkeit verantwortlich macht, leitet sie aus Michel Foucaults Theorie der Bio-Macht ab, die der französische Philosoph als staatliche Machttechnik gegenüber der Bevölkerung im weitesten Sinne versteht. Butler geht es auch um demographische Strategien. Das umfasst den Mord an dunkelhäutigen Amerikanern durch weiße Polizisten in den USA ebenso wie die Inkaufnahme des Verlusts der Leben von Menschen, die sich auf den riskanten Weg nach Europa machen.
Dass sich Menschen, die Verantwortung für diese Leben tragen, auf die Selbstverteidigung berufen, sieht Butler dabei kritisch. Eine Ausweitung des „Selbst“ auf eine Gruppe von Menschen, die wir als uns zugehörig betrachten, kann nicht als Ausnahme vom Prinzip der Gewaltlosigkeit gelten. Das führe vielmehr zu einer Eskalation von Gewalt.
„Ich kannte Judith Butler vor der heutigen Veranstaltung noch gar nicht. Nun überlege ich, zu ihrer zweiten Vorlesung am Mittwoch wiederzukommen. Butlers immenses, profundes Wissen, mit dem sie ihr Gedankengebäude errichtet, hat mich sehr beeindruckt. Ein bisschen gefehlt hat mir allerdings eine weitere Ausdifferenzierung des Begriffs ‚Gewalt‘.“
Alfred, Gasthörer, Uni Köln
Im Anschluss an den Vortrag wurde Butler mehrfach zu dem Massaker in Orlando, bei dem vor zehn Tagen 49 Menschen getötet wurden, gefragt. Das erlaubte eine Verknüpfung zwischen ihren Überlegungen zur Rolle von Genderidentitäten und Betrauerbarkeit als Kritik an einem Machtsystem, das gewisse Identitäten und Leben gegenüber anderen privilegiert. Ist es eine Herabwürdigung der Betrauerbarkeit der Leben von Homosexuellen, dass das Massaker in der amerikanischen Presse als Angriff nicht auf Schwule und Lesben, sondern auf die „open society“ bezeichnet wurde? Eine andere Wortmeldung hingegen betonte, dass gerade dieser inklusive Begriff gezeigt habe, dass Homosexuelle in der Gesellschaft heute viel stärker akzeptiert würden. Beide Lesarten ließ Butler nebeneinander stehen. In jedem Fall fand Butler es bemerkenswert, dass rechte Kräfte, darunter auch Donald Trump, sich nun auf der Seite der LGBT community (lesbian, gay, bisexual, transgender) sehen, dies allerdings gleichzeitig zum Anlass nehmen, in erschreckender Weise gegen andere Minderheiten, in diesem Fall Muslime, zu hetzen.
„Die Frau beeindruckt mich einfach immer wieder sehr.“
Sabrina, Studentin, Uni Köln (Philosophie und Erziehungswissenschaften)
O-Töne zur ersten Vorlesung
Die zweite Vorlesung von Judith Butler am 22.06.2016
Albertus-Magnus Professorin sprach zum Thema „Verletzlichkeit und Widerstand neu denken“
von Isabelle Mittermeier und Eva Schissler
Auch am Mittwochabend war die Aula wieder bis auf den letzten Platz gefüllt. Butler beschrieb in ihrer zweiten Vorlesung unterschiedliche Arten von Verletzlichkeit. Alle Menschen sind in dem Sinne verletzlich, dass sie durch Unfälle, Schicksalsschläge oder Angriffe jederzeit getötet oder verletzt werden können. Privilegierte Gruppen sind dem Risiko gegenüber verletzlich, ihre Privilegien zu verlieren. Eine wichtige Form sei jedoch die strukturelle Verletzlichkeit, die sich in sozialer Ausgrenzung, dem Fehlen grundlegender Infrastruktur und prekären Lebensformen äußert.
„Ich finde es spannend eine Person, von der man einen akademischen Text liest, live zu sehen und diesen Dialog mit ihr haben zu können.“ (Ann-Sophie Vornholz, Studentin, Englisch und Italienisch)
Verletzlichkeit, aus der Widerstand erwachsen könne, sei oftmals ein Kampf für eben die Infrastruktur, die marginalisierten und prekarisierten Menschen fehlt. Man kann nur auf die Straße gehen, um für ein lebenswertes Leben einzutreten, wenn es auch tatsächlich eine Straße gibt, die man betreten kann. Bewegung braucht Bewegungsfläche – im körperlichen wie geistigen Sinne. Eben diese Straße, ein betret- oder bewohnbarer Boden, muss in vielen Fällen erst erschaffen werden.
Dass beide Konnotationen von Straße untrennbar miteinander verbunden sind, erkannte auch Hannah Arendt, auf die sich Butler an dieser Stelle bezieht. Dabei hat Butler einen weiten Begriff von Infrastruktur, der auch Zugang zum Gesundheitssystem, zu Bildung und zu Medien umfasst. „Der Mensch braucht eine grundlegende Infrastruktur, die ihn stützt, um nicht wortwörtlich zu fallen“, so die Philosophin.
Verletzlichkeit solle dabei nicht als eine passive Opferrolle verstanden werden, aus der kein selbstbestimmtes Handeln erwachsen werden – eine Lesart des traditionellen Feminismus. Menschen müssten vielmehr ihre eigene Verletzlichkeit akzeptieren und als Ressource nutzen. Eine Affirmation unserer Verletzlichkeit lässt uns zudem unsere Verbindung zu anderen Menschen erkennen, mit denen wir diese Verletzlichkeit teilen.
„Ich schätze Frau Butler sehr, für das, was sie geleistet hat und leistet, im Zusammenhang mit der kompletten Sphäre politischer Entscheidungen.“ (Aldo Wünsch, Student, Philosophie und Musikwissenschaft)
Sowohl im Anschluss an die Vorlesung als auch im Graduiertenseminar wurde Butler gefragt, wie denn die beiden Konzepte der Betrauerbarkeit (grievability) und Verletzlichkeit (vulnerability) zusammenhängen. Darauf hatte die Albertus-Magnus-Professorin noch keine klare Antwort. „Butler muss erst mal darüber nachdenken, wie sie das sieht“, scherzte sie.
Andreas Speer danke Judith Butler am Ende ihrer zweiten Vorlesung für die anregende Atmosphäre, die sie in dieser außergewöhnlichen Woche geschaffen hat. Er dankte auch dem enthusiastischen Publikum, das mit seinen Fragen und lebhaften Diskussionsbeiträgen zum Erfolg der Veranstaltungen beitrug: „Das ist die Art von Uni, die ich mir wünsche. Nicht das Eintragen von Wissen in irgendwelche Kästchen und dessen Bestätigung durch den Erhalt eines Diploms.“
Frage aus dem Publikum: „Ist es eine Form von Widerstand, wenn Frauen mit ihrer speziellen Verletzlichkeit alleine auf die Straße gehen?“ Judith Butler: „In Köln schon.“
Weitere Informationen zu Judith Butler
und ihren Veranstaltungen als Albertus-Magnus-Professorin:
http://amp.phil-fak.uni-koeln.de
http://ukoeln.de/I9H22