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»Soziale Gerechtigkeit ist eine Freiheitsfrage schlechthin«

Interview mit Bundesinnenminister a.D. und Alumnus Gerhart Baum

Gerhart Baum war Bundesinnenminister im zweiten Kabinett von Kanzler Helmut Schmidt. Der FDP-Politiker und Alumnus der Rechtswissenschaftlichen Fakultät steht für die ursprünglichen Werte des politischen Liberalismus. Darin sieht er auch die Zukunft seiner Partei.

Das Gespräch führte Eva Schissler


Herr Baum, wie kamen Sie im Westdeutschland der Nachkriegszeit an die Universität zu Köln?

Nach der Zerstörung meiner Geburtsstadt Dresden bin ich zunächst als Flüchtling nach Bayern gekommen. 1950 dann nach Köln, wo meine Mutter uns eine neue Existenz aufgebaut hat. Nach dem Schulabschluss habe ich gezögert, was ich studieren sollte. Meine Mutter hatte die Idee, dass ich Arzt werden soll. Doch ich hatte keine Neigung dazu und habe mich dann entschieden, Jura zu studieren, weil es vielseitige Anwendungsmöglichkeiten versprach – heute noch viel mehr als damals. Umweltschutz, Datenschutz – alle neuen Entwicklungen müssen juristisch begleitet werden.

Die äußeren Umstände waren an der Uni damals ganz angenehm, aber das Studium selbst hat mir keinen Spaß gemacht. Das war vom Unterhaltungswert her langweilig. Es gab zwar einige Professoren, die das rhetorisch zu einem Erlebnis gestalten konnten, aber der Rest war ziemlich trocken. Das hat sich erst mit der Referendarzeit geändert. Da habe ich begriffen, was Juristerei ist: mit den Menschen und Fällen, die dann vor meine Augen traten.
 

Wie kamen Sie zur Politik?

Mir war schon während meiner Studienzeit klar, dass ich mich politisch engagieren will. Ich wurde dann Vorsitzender der Liberalen Studenten und habe an Wahlen für das Studentenparlament teilgenommen. Nach dem Studium kam ich zum Jugendverband der FDP, zu den Jungdemokraten, und wurde dort ziemlich schnell Vorsitzender.

Nach dem Studium war ich dann erst mal als Anwalt praktisch tätig. Teilweise hatte ich aber auch neben dem Beruf politische Ämter inne. Zum Beispiel war ich FDPFraktionsvorsitzender im Rat der Stadt Köln. Gleichzeitig war ich aber in der Geschäftsleitung der Bundesvereinigung der Arbeitgeber. Ich fuhr mitunter früh morgens mit dem Zug nach Brüssel. Dann kam ich nachmittags wieder und hetzte durch den Dom hindurch, um ins Rathaus zu kommen und an den Ratssitzungen teilzunehmen. Das endete dann mit meiner Wahl in den Deutschen Bundestag 1972, an die sich meine Jahre als Parlamentarischer Staatssekretär und Innenminister anschlossen.
 

Sie haben als aktiver Politiker turbulente Zeiten erlebt: das Olympia-Attentat von 1972 und den sogenannten Deutschen Herbst 1977. Welchen Einfluss hatte diese Zeit auf Sie?

Die ganze RAF-Zeit hat sich bei mir tief eingeprägt. Als ich 1978 Innenminister wurde, war die RAF-Bedrohung noch nicht gebannt. Als Innenminister war ich für Datenschutz zuständig und wir haben schon damals sehr stark das Spannungsverhältnis zwischen der individuellen Freiheitseinschränkung und der Notwendigkeit der inneren Sicherheit gespürt. Das heißt, der Schutz der Menschenwürde kam in Konflikt mit den Anforderungen der Sicherheitsbehörden. Das habe ich austarieren müssen, was nicht leicht war. Die ethische Einhegung der Datenverarbeitung ist eine Daueraufgabe für die Gesellschaft, und heute im Zeitalter der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz aktueller denn je.

Es gibt aber auch andere Themen, die mich seither mein ganzes Leben lang begleitet haben: neben dem Datenschutz zum Beispiel die Bürgerrechte und der Umweltschutz. Ich habe kürzlich eine Rede von mir als Bundestagsabgeordneter aus dem Jahr 1988 gefunden, in der ich mich für Energieeinsparung und erneuerbare Energien einsetze und gegen die Atomenergie. 1988! Aber auch das Thema Kultur hat mich mein Leben lang begleitet und ist mir sehr wichtig, obwohl es in meinem Lebenslauf kaum sichtbar ist. Als Innenminister war ich auch Kulturminister des Bundes und wir haben in der Koalition mit der SPD eine aktive Kulturpolitik gemacht. Ich bin bis heute Vorsitzender des Landeskulturrats NRW. Mein Interesse gilt also auch anderen Bereichen.
 

Im vergangenen Jahr haben Sie die Hinterbliebenen des Olympia-Attentats in ihrem Rechtsstreit um Entschädigung vertreten – fünfzig Jahre nach der Ermordung ihrer Angehörigen. War das für Sie ein besonderes Mandat?

Ja, das war es. Allerdings habe ich einige Erfahrung darin, wie man mit traumatisierten Menschen umgeht. Nach meinem Ausscheiden aus dem Bundestag habe ich als Anwalt hauptsächlich Opfergruppen vertreten, etwa die Hinterbliebenen des Flugtagunglücks von Ramstein 1988 und der Love Parade-Opfer von 2010. In den 1990er Jahren auch die ehemaligen russischen Zwangsarbeiter. Ich weiß also, worauf es im Kontakt mit Opfergruppen ankommt: wie man auf sie zugeht, ihnen zuhört, wie man reagieren muss.

Es geht in solchen Fällen nicht nur um finanzielle Entschädigung, man muss auch vermitteln, dass man den Schmerz der Menschen ernst nimmt. Sie wollen genau wissen, was passiert ist und haben den Wunsch, dass es sich nicht wiederholt. Dafür haben die Hinterbliebenen der Olympia- Attentate viele Jahre gekämpft, doch es blieb ihnen bislang verwehrt. Jetzt wird das aufgearbeitet. Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen, diesem unglaublichen Fehlverhalten der Sicherheitsbehörden? Das hat mir auch eine gewisse Stärke gegeben bei den Verhandlungen. Das eine ist also die materielle Entschädigung, das andere ist die Aufarbeitung.


Sie sind über die Jahre immer wieder eine kritische Stimme gegenüber ihrer Partei, der FDP, gewesen. Worin besteht der Kern Ihrer Kritik?

Meine Lebensenergie steckt in der Politik und in der FDP. Wir haben damals als junge Leute die FDP verändert und sie dazu befähigt, in der Schmidt-Regierung eine sozial-liberale Koalition einzugehen. Das gelang, weil wir den Freiheitsbegriff mit dem Begriff der Verantwortung verknüpft haben: Verantwortung für die Gesellschaft, für diejenigen, denen geholfen werden muss, ihre Freiheit überhaupt zu realisieren. Und natürlich ging es in der Ostpolitik damals auch um die Freiheit von Menschen, die eben nicht wie wir in einer freiheitlich- demokratischen Gesellschaft leben.

In den Freiburger Thesen, dem Programm, das unsere Partei sich 1971 gegeben hat, haben wir einen Liberalismus definiert, der in der Aufklärung begründet ist. »Fortschritt durch Vernunft« war einer der Grundsätze. Wir haben uns als Freiheitspartei mit deutlicher sozialer Verantwortung verstanden, denn die soziale Gerechtigkeit ist eine Freiheitsfrage schlechthin. Diese Definition von Liberalismus vermisse ich seit einigen Jahren bei der FDP schmerzlich. Ich bin also aus Fürsorge für diese Idee zum Kritiker meiner Partei geworden, denn der fortschrittliche Liberalismus braucht meines Erachtens nach wie vor eine eigene Partei.   
 

Glauben Sie, dass die FDP für die Zukunft gut aufgestellt ist, um diesen Liberalismus als Partei zu vertreten?

Das weiß ich nicht. Die Frage ist doch: Was bedeutet Liberalismus im Epochenbruch der Zeitenwende? Wie weit darf und muss der Staat heute gehen, um seine Bürger zu schützen? Und es geht darum, welche Wählergruppe man im Auge hat: eher Konservative oder die liberale Mitte? Die FDP hat heute Orientierungsschwierigkeiten. Es gibt aber auch junge Leute, die so denken wie ich. Unter den ganz jungen, aber auch bei den etwa Vierzigjährigen gibt es Menschen, die ich als sozialliberal bezeichnen würde und die diesen Gedanken der Freiheitspartei mit seinen historischen Wurzeln in der deutschen Geschichte realisieren wollen. Ihnen geht es nicht um eine eng definierte Partei, die sich nur darum kümmert, ob der Markt funktioniert.
 

Wie stehen Sie zur Ampel-Koalition?

Ich halte die Ampel für eine Notwendigkeit, die sich aus dem Wählerauftrag ergibt. Aber ich finde es auch gut, dass verschiedene gesellschaftliche Strömungen – das Soziale, das Ökologische, das Liberale – gezwungen sind, sich auf eine gemeinsame Politik zu verständigen. Das ist ein spannender Auftrag. Die Regierung tut sich im Moment schwer, ihn wahrzunehmen, aber sie muss es. Ich rate meiner Partei, deutlich zu machen, dass die Ampel auch ihre Sache ist. Viele der jüngeren Mitglieder wollen eine Modernisierung und nicht die Partei sein, die immer nur den Fortschritt zu verhindern scheint. Die Wahlen sind ein Menetekel. Derzeit rutscht die FDP wieder in Richtung 5 Prozent.
 

Schaden öffentlich ausgetragene Auseinandersetzungen der Koalition?

Ganz und gar nicht. In der Politik muss darüber diskutiert werden, was der richtige Weg ist. Demokratie ist anstrengend und die Öffentlichkeit sollte noch viel mehr daran teilnehmen. Auch als Liberale müssen wir unterschiedliche Zukunftsperspektiven zulassen.
 

Was steht bei Ihnen persönlich in naher Zukunft an?

Ich habe gerade eine ganze Serie von Preisverleihungen zum Anlass meines 90. Geburtstages hinter mir. Und ich werde zu vielen Diskussionen eigeladen. Aber auch, wenn ich nicht gefragt werde, mische ich mich weiterhin ein.

 

Gerhart Baum, Jahrgang 1932, ist seit 1954 Mitglied der FDP und war von 1972 bis 1994 Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 1972 bis 1978 war er Parlamentarischer Staatssekretär und von 1978 bis 1982 Bundesminister des Innern in der von Helmut Schmidt geführten sozial-liberalen Bundesregierung. Nach dem Bruch der Koalition trat er am 17. September 1982 gemeinsam mit den übrigen FDP-Bundesministern zurück. Er befasste sich fortan als Bundestagsabgeordneter mit Bürgerrechten, Umweltschutz und Kulturpolitik.

Ab 1992 war er für die UNO tätig, zuerst als Chef der deutschen Delegation in der UNO-Menschenrechtskommission in Genf und später als UN-Sonderbeauftragter für die Menschenrechte im Sudan. Er ist heute bei Amnesty international und Human Rights Watch aktiv.

Baum ist als Anwalt in der Düsseldorfer Kanzlei baum, reiter & collegen tätig, die sich auf Anleger- und Verbraucherschutz spezialisiert hat. Er war an einer Reihe von erfolgreichen Verfassungsbeschwerden vor dem Bundesverfassungsgericht beteiligt, etwa gegen das Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität (Großer Lauschangriff). Gerhart Baum legte auch erfolgreich Beschwerde gegen das nordrhein-westfälische Gesetz zur heimlichen Online-Durchsuchung privater Computer ein und gehört zu den Beschwerdeführern gegen das Vorratsdatenspeicherungsgesetz.  

 

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