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Durch Zeit und Raum

Migrationsphänomene in der Kunstgeschichte

 

Auch die kunsthistorische Forschung hat es mit Wanderbewegungen zu tun. Ausgelöst durch wirtschaftliche oder politische Konstellationen beeinflussen sie das Kunstschaffen seit jeher. Doch schon die künstlerischen Details können Migrationsgeschichten erzählen. Professorin Ursula Frohne vom Kunsthistorischen Institut der Universität zu Köln beschäftigt sich mit Bildwerken, in denen Künstlerinnen und Künstler bekannte Formen und Motive in neue Zusammenhänge übertragen. Es entstehen mitunter brisante Aussagen, die auch auf der inhaltlichen Ebene migrationsrelevante Themen aufgreifen.

Eine junge Frau liegt nackt auf weißen Kissen. Unverwandt blickt sie ihrem Gegenüber ins Gesicht – und wird zum Auslöser eines großen Skandals. Édouard Manets 1865 entstandenes Ölgemälde „Olympia“ reizte die (Seh-)Nerven seiner Zeitgenossen aufs Äußerste. Dargestellt ist eine im Paris des 19. Jahrhunderts stadtbekannte Prostituierte – direkt und ohne Scham, mit starken Kontrasten, flächiger Malweise und flüchtigen Konturen. Manets Bild polarisierte wie kaum ein Werk zuvor und wurde Anlass einer wutentbrannten Kritik. Wenn sich Professorin Ursula Frohne vom Kunsthistorischen Institut der Universität zu Köln mit Migrationsaspekten befasst, begleitet sie Motive wie Manets „Olympia“ durch Zeit und Raum. „In der Kunstgeschichte geschieht Migration auf unendlich vielen Ebenen. Das Thema ist unserer Disziplin geradezu inhärent“, erklärt Frohne, die am Institut den Lehrstuhl für Kunstgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts inne hat. „Geschichten wie die der „Olympia“ zeigen, wie vielfältig sich Wanderungen und Wandlungen in der Welt der Kunst gestalten.“

Vom Skandal zur Hochkultur und wieder zurück

In der Tat ist Manets „Olympia“ weit gereist – und hat dennoch Paris nur selten verlassen. Das einstige Skandalbild hängt heute in einem der wichtigsten Museen der Welt, dem Musée d’Orsay in Paris. Endstation ist dieser Ort jedoch nicht. Als Expertin für Gegenwartskunst stößt Frohne weltweit immer wieder auf Künstlerinnen und Künstler, die Inkunabeln der westlichen Kunstgeschichte aufgreifen und verändern, darunter auch „Olympia“. Der Japaner Yasumasa Morimura benötigt für eine wirkungsvolle Transformation nur wenige Mittel, kann damit aber beim Publikum eine ganze Bandbreite von Überlegungen in Bewegung setzten.

In seiner Version des Motivs gehen Vergangenheit und Gegenwart, Ost und West eine eigentümliche Synthese ein: Uns blickt nun ein asiatischer Mann entgegen, unbekleidet wie Manets Modell, auf dem Kopf eine blondgelockte Perücke. Die Katze zu seinen Füßen wird zur Maneki-neko, der in Japan überall präsenten Winke-Katze. „Morimura stößt mit Werken wie diesem einen Diskurs an, der von Genderfragen über die Kritik am eurozentristisch geprägten Kunstkanon bis hin zur Reflektion von Begriffen wie Hoch-, Popund Trash-Kultur reicht“, erläutert Frohne. „Mit wenigen, zunächst marginal wirkenden Verschiebungen, verändert er schließlich das gesamte Bildprogramm.“

Migration auf allen Ebenen

Um der Komplexität der Migrationserscheinungen in der Kunstgeschichte zu begegnen, rät Ursula Frohne, sich Folgendes bewusst zu machen: „In der Kunst stoßen wir ständig auf kulturelle Austauschphänomene und damit auch auf Konflikte und Dramatiken. Unsere Forschung macht deutlich, dass Migration nicht erst ein Thema des 20. und 21. Jahrhunderts ist.“ Um die Relevanz des Begriffs zu fassen, müsse man sich zunächst einmal mit den Bedingungen des Kunstschaffens beschäftigen. „Abhängig von Auftragslage und Auftraggeberschaft waren Künstler seit jeher gezwungen, an unterschiedlichen Orten tätig zu werden“, so Frohne. Ein Aspekt, den man erst seit knapp 50 Jahren genauer betrachtet. „Lange Zeit waren Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker vor allem ikonografisch und ikonologisch orientiert, verharrten also in der Beschreibung und Deutung des direkt Sichtbaren.

Andere Methodiken wurden mehr oder weniger für fachfremd gehalten“, führt die Wissenschaftlerin aus. „Erst mit wegweisenden Publikationen zur Sozialgeschichte der Kunst, zum Beispiel mit Martin Warnkes „Hofkünstler“, vollzog sich seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts ein grundlegender Richtungswechsel.“ Heute ist die Untersuchung von ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen allgegenwärtig – und durch die Globalisierung des Kunstgeschehens nahezu unerlässlich geworden: „Überall auf der Welt entstehen Biennalen, Künstler werden im Grunde zu Berufsmigranten. Um existieren zu können, bewegen sie sich häufig von einer Residency zur nächsten. Ein Phänomen, das heute zunehmend kritisch beleuchtet wird.“

Kunsthistorische Forschung betrachtet jedoch nicht nur die Künstlerschaft sondern auch die Physis der Werke unter Aspekten der Migration – im Großen (von einem Kontinent zum anderen) wie im Kleinen (aus dem Atelier ins Museum). „Viele Skizzen und Entwürfe berühmter Künstlerinnen und Künstler waren nie für die Öffentlichkeit bestimmt“, betont Frohne. „Im Museum präsentiert werden aus ihnen später autonome Werke, die auf dem Kunstmarkt bisweilen Höchstpreise erzielen und in alle Welt verkauft werden.“ Durch diese Kontextveränderungen wandle sich notwendigerweise auch die Wirkung auf Betrachterin und Betrachter.

Herkunft und Identität

Auf der Mikroebene des Bildes wiederum befassen sich Frohne und ihre Kolleginnen und Kollegen ferner mit jenen Migrationsbewegungen, die sich zwischen Komposition, Zeichen und Motiven ergeben. Wie die beiden „Olympias“ zeigen, sind diese bisweilen eng mit den räumlichen und zeitlichen Dimensionen von Migration verknüpft. „Gerade in der zeitgenössischen Kunst treffen wir immer wieder auf entsprechende Tendenzen“, so Frohne. Zum Beispiel bei Yinka Shonibare. Wer Objekte des britischen Künstlers mit nigerianischen Wurzeln betrachtet, stößt schnell auf ein besonderes Charakteristikum: Bunt gefärbter Baumwollstoff, der vor allem in Westafrika als Kleidung getragen wird, taucht bei Shonibare an den unerwartetsten Stellen auf.

In seiner Installation „Leisure Lady with Ocelots“ von 2001 trägt eine Schneiderpuppe die typisch europäischen Mode des 19. Jahrhunderts, mit der rechten Hand führt sie vier Tiere an der Leine. Eine Szene, die in einem historischen Museum zur Landeskunde europäischer Fürstentümer zu sehen sein könnte – würde die Szene nicht durch zwei Aspekte gestört: Das aufwändige Kleid besteht aus dem erwähnten Batikstoff, an den Leinen laufen die in Mittel- und Südamerika heimischen Ozelots. Shonibares Motive migrieren ohne Rücksicht auf Chronologie und Wahrscheinlichkeit.

„Hier entsteht ein komplexes Bildprogramm, in dem sich kulturelle Artefakte und Besonderheiten der Kolonialisierten mit dem Auftreten und den Gewohnheiten der Kolonialherren mischen“, erläutert Frohne. „Die Frage nach Herkunft und Identität wird mit einer postkolonialen Perspektive verbunden, die wir in der Gegenwartskunst häufig antreffen. Shonibares Kunst lädt uns dazu ein, tradierte Ansichten kritisch zu reflektieren und uns historischer wie ökonomischer Umstände bewusst zu werden.“ Dass die vermeintlich typischen Stoffe ursprünglich gar nicht aus Afrika stammen, sondern im 16. Jahrhundert zunächst aus Java nach Europa und dann drei Jahrhunderte später als industrielle Nachahmungen in die afrikanischen Kolonien importiert wurden, mache den Gehalt von Shonibares Werken noch vertrackter. Migration auf allen Ebenen.

Die Macht von Markt und Bild

Wie kann ein wissenschaftlicher Umgang mit Kunst aussehen, der Facetten wie diesen gerecht werden will? Die Kölner Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker sind sich einig, dass die Erforschung des Kunstmarkts dabei eine wesentliche Rolle spielt. Das Institut hat bereits reagiert und unlängst eine Juniorprofessur für Kunstgeschichte und Kunstmarkt eingerichtet. Auch die Angliederung des in Köln angesiedelten Zentralarchivs des internationalen Kunsthandels (ZADIK) steht unmittelbar bevor. Die empirische Auseinandersetzung mit Phänomenen des Kunsthandels könnte damit in Köln zum besonderen Schwerpunkt werden.

„Bereits jetzt entstehen viele Abschlussarbeiten in enger Kooperation mit dem ZADIK. Mit Blick auf politisch prekäre Zusammenhänge oder Restituierungsfragen, zum Beispiel durch den Nationalsozialismus ausgelöste Zwangsmigrationsphänomene im Kunsthandel, liefern die Dokumente des Archivs mannigfaltige Ansatzpunkte. Wir hoffen, diese durch die Angliederung an unser Institut noch breiter zugänglich machen zu können.“

Weiteren Forschungsbedarf sieht Ursula Frohne außerdem im Bereich der Bilder selbst. „Wir leben in einer Zeit, in der wir tagtäglich mit einer riesigen Flut von Bildmaterial konfrontiert werden.“ Vertreterinnen und Vertreter der Bildwissenschaften um Horst Bredekamp, Professor für Kunstgeschichte an der Berliner Humboldt- Universität, fordern daher seit etwa zwei Jahrzehnten eine Öffnung der Forschung gegenüber Bildwelten jenseits dessen, was allgemein als Kunst anerkannt ist. Auch Frohne hält eine entsprechende Erweiterung für sinnvoll. Nur durch eine parallele Berücksichtigung von künstlerischem und nicht-künstlerischem Material könne wichtigen zeitgenössischen Tendenzen – etwa den Werken Shonibares – angemessen begegnet werden.

Auch auf die Verbindungen zwischen Kunst und Massenmedien, die seit der Pop-Art zahlreiche Bereiche des Kunstschaffens prägen, treffe dies zu. „Hierin liegt eine wichtige Herausforderung unserer zeitgenössischen visuellen Kultur. Wechselverhältnisse von Werbung und Kunst finden wir heute sowohl in Marketingstrategien als auch umgekehrt in den Werken einer kritisch-aktivistischen Gegenwartskunst.“ Die unterschiedlichen Taktiken beider Seiten zu beschreiben und offen zu legen sei ein Aspekt kunsthistorischer Forschung, der in den kommenden Jahren noch stärker in den Fokus rücken werde.

Bildmaterial zu deuten, sein aufklärerisches Potential – aber auch sein manipulatives – zu erkennen, darin sieht Frohne eine der Kernkompetenzen der Kunstgeschichte: „Gerade weil sich unsere Disziplin der Historie von Bildern und damit ihren Wandlungen und Wanderungen stets bewusst ist, kann sie dazu beitragen, den kritischen Blick jedes Einzelnen zu schärfen. Nur wenn wir radikal historisieren, können wir die Bedeutung und das Potential von Bildern erkennen – und damit auch im Alltag in die Gesellschaft hineinwirken.“