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Ort der Chancen, Ort der Zuflucht

Zukunftsbilder der Stadt in der deutschen Science Fiction

 

Die moderne Zivilisation ist urban, Städte beherrschen unser Leben. Die Stadt steht für das Tempo und den Herzschlag der Moderne, für Technik und Zukunft. Städte sind deswegen Handlungsort eines literarischen Genres, das sich paradigmatisch mit der Zukunft beschäftigt: der Science Fiction. Professor Dr. Hans Esselborn erforscht die deutschen Zukunftsromane. Er weiß: Die Stadt der Zukunft hat eine lange Geschichte hinter sich.

Wolkenkratzer, die sich zu unermesslichen Höhen erheben, Flugverkehr in Häuserschluchten und Menschen auf Laufbändern, die sich in Windeseile fortbewegen. Ob Städte auf dem Mars oder Metropolis auf der Erde: die Stadt ist ein Handlungsort vieler Zukunftsphantasien der Moderne. In ihnen werden die Reaktionen der Menschen auf den Lebens- und Arbeitsraum Stadt aufgenommen und weiterentwickelt, Hoffnungen und Ängste verwirklicht, die Auswirkung von Technologien exemplarisch durchexerziert. Seit mit Kurd Laßwitz‘ Klassiker „Auf zwei Planeten“ auch die deutsche Literatur die technischen Zukunftsgeschichten in ihr Repertoire aufgenommen hat, widmen sich Schriftsteller von Rang dem Genre: Alfred Döblin, Ernst Jünger, Herbert W. Franke, Reinhard Jirgl oder Dietmar Dath.

 

Die Stadt als Ort der Science Fiction

Professor Dr. Hans Esselborn vom Institut für Deutsche Sprache und Literatur I gilt in Deutschland als eine der Autoritäten auf dem Gebiet der Science Fiction. Er ist Herausgeber zahlreicher wissenschaftlicher Sammelbände zum Thema sowie des Gesamtwerks des deutschen Altmeisters der Science Fiction, Herbert W. Franke. Bei seinen Forschungen stößt er auch immer wieder auf Zukunftsvisionen von Städten. „Die Stadt ist ein wichtiger Handlungsort der Science Fiction“, erklärt der Wissenschaftler. „Sie ist so wichtig wie der Weltraum oder fremde Planeten.“ Dabei ist sie allerdings nur ein Teil der Weltkonstruktion, die statische Folie auf der sich die Handlung abzeichnet. „Sie ist nie das Hauptthema der Romane.“
Science Fiction greife aktuelle oder absehbare Trends der Gegenwart auf und projiziere sie in die Zukunft, so der Germanist. Deswegen spiegelten die Zukunftsphantasien auch die Einstellung der eigenen Zeit zur Stadt wider. Sind die Städte zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch Räume der Selbstermächtigung des Menschen, so tendieren spätere Geschichten dazu, die Stadt als Rückzugsraum des Menschen vor einer feindlichen ländlichen Umwelt zu sehen, die entweder vom Menschen durch Krieg oder Ausbeutung zerstört wurde.

 

Der Mars als Vorbild

Schon der Großvater des Genres, Kurd Laßwitz, greift in seinen Werken die Stadt-Thematik auf. Der Gothaer Professor für Mathematik und Physik beschreibt in seiner Erzählung „Bis zum Nullpunkt des Seins“ (1871) und in dem Roman „Auf zwei Planeten“ (1898), Zukunftsstädte auf Erde und Mars. Der Mars steht in letzterem Roman für die rationelle Zukunft mit Verwendung von Sonnenenergie, einem intensiven Verkehr und großen Städten. Die Hochhäuser ragen von unterirdischen Tiefen in große Höhen empor. Eine klare Hierarchie gliedert sie: In den untersten Geschossen der Gebäude befindet sich die Industrie, darüber kommen Büros. Die Privatwohnungen, wo die Reichen wohnen, sind ganz oben. Die Mehrzahl der Bevölkerung wohnt in anderen Siedlungen. Transport findet sowohl in als auch zwischen den Städten auf Radbahnen und Laufbändern statt. Mobilität wird bei den Marsianern groß geschrieben. Wenn Sie umziehen, dann gleich mit ihrem Haus: „Das hat den politischen Hintergedanken, dass man einfach sein mobiles Haus nimmt, wenn man in einem Staat unterdrückt wird. Man lädt es auf eine Radbahn und zieht es in den nächsten Staat, wo man besser behandelt wird“, beschreibt es Esselborn.
In Laßwitz' Marsgeschichte scheint auch das erste Mal der Gegensatz zwischen Stadt und Land auf, der im folgenden Jahrhundert weiter thematisiert wird. Fast alle Marsianer wohnen in Städten, es gibt aber auch Bewohner auf dem Land in den Wüsten, so der Wissenschaftler: „Das sind aber so eine Art Eingeborene, Nomaden, die die Hitze aushalten, die Söhne der Wüste.“ Die spielen aber kaum eine Rolle, denn: „Die Städte sind auch mit Laufbändern verbunden, sodass man fast sagen kann, dass alle Städte wie fast eine Stadt sind. Eine totale Vernetzung.“

 

Von der Stadt zur Raumstation

Weitere Motive wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts aufgenommen. So entwickelt sich aus der Vorstellung der Stadt die der Raumstation, wie zum Beispiel in Paul Scheerbarts Roman „Lesabéndio“.
Mit Alfred Döblins „Berge Meere und Giganten“ (1924) wird das Thema der Stadt als Herrschaftsraum aufgegriffen. „Die Länder sind aufgebrochen in Stadtschaften. Berlin, Hamburg und London beherrschen ihr Umfeld.“ Die Stadt wird nun immer stärker technifiziert, ihre Einwohner ernähren sich von künstlicher Nahrung. Im Gegenzug dazu gibt es eine Bewegung zurück aufs Land. „Die Siedlerbewegung ist eher positiv. Döblin ist allerdings ambivalent: Einerseits ist er von Technik fasziniert – das ist das Erbe des Futurismus. Andererseits ist er aber auch skeptisch, ob das klappt.“
Ist der Gegensatz zwischen Stadt und Land noch konstitutiv für diese Bücher, führt Ernst Jünger 1928 ein neues Motiv ein: die totale Stadt. In seinem Großessay „Der Arbeiter“ wird die Welt umgeformt durch Technik. Die ganze Welt ist eine große Stadt, eine Werkstättenlandschaft, bei der die Industrie im Vordergrund steht. „Das technische Denken ersetzt das alte liberale und bürgerliche Denken“, so Esselborn.

 

Stadt unter Kuppeln

Der Roman „Endzeit“ von Herbert W. Franke aus dem Jahr 1985 zeigt eine Variante dieses technischen Denkens. Das Problem „Stadt – Land“ hat sich in das Problem „Stadt – Ressource“ verwandelt. „Die Stadt ist nur mehr ein Zufluchtsraum für die Menschheit, alles ist künstlich, es ist eine künstliche Welt“, erklärt Esselborn. Die Welt außerhalb ist eine Wüste, die Stadt eine Exklave. „Im Grunde wird die Stadt von Computern gelenkt. Die Menschheit hat so viele Ressourcen verbraucht, dass alles außerhalb vernichtet ist. Hier steht die Stadt als Symbol für die Menschheit.“ Die Technik ist nicht mehr nur Retter, sondern beherrscht die Menschen. Die Stadt ist zu dem geworden, was bei Scheerbart angekündigt wurde: Sie gleicht immer mehr einer Raumstation. Eine wilde Natur gibt es bei den folgenden Romanen der Science Fiction häufig nur noch auf fremden Planeten oder als geplante Erholungslandschaft im Reservat. 

„Die sich wie Berge erhebenden Wabenbauten der Wohngebiete, die er in den letzten 15 Jahren nicht mehr verlassen hatte…“ „…konnte er durch eine matt getönte Glaswand hindurch in das Innere der Kuppel sehen: Die Gartenlandschaft, die inmitten von Grünflächen liegenden Freizeitbauten, Kaffeehäuser, Konzerthallen, Theater, mehrere Freilichtbühnen, dazwischen in Lauben eingebettete Tischund Stuhlreihen, die zu dem die ganze Stadt umfassenden Restaurations- und Versorgungssystem gehörten.“ „Hinter dem Park die hochragenden Regierungsgebäude mit ihren abenteuerlichen Formen. Jedes für sich zugleich ein Denkmal des Architekten, der es entworfen hat. Fast unscheinbar wirkte dagegen der historische Stadtkern, halb Fußgängerzone halb Museum, der soweit er nicht erhalten war nach alten Plänen nachgebaut worden war.“
(Herbert W. Franke: Endzeit, 1985)

 

Die totale Stadt

Die Zukunft der Stadt wird allerdings nicht nur negativ gesehen. In Dietmar Daths 2012 erschienen Roman „Pulsarnacht“ zeichnet der Autor ein positives Bild der Stadt. Dort wird die galaktische Weltregierung in einer Stadt angesiedelt, die auf einer Sphäre rund um einen Pulsar liegt. Der Pulsar erzeugt die Energien, die man braucht, um eine phantastische Technologie zu betreiben. Die Stadt hat mehr als drei räumliche Dimensionen, die Gebäude sind innen größer als außen.

„Mehrdimensionale Maschinen hatten in die bauschige Landschaft blut- und himmelfarbene, türkise und schwarze Anlagen aus Titan, Glas und verspiegeltem Edelstahl geschnitten, an denen Bauten, die von denkenden Geschöpfen bevölkert waren, sich schraubenförmig in zerrissene Höhen drehten, wie plastische gehärtete Kohle.“
(Dietmar Dath: Pulsarnacht, 2012)

 

Stadt und Science Fiction

Einerseits kann die SF aktuelle Trends aufgreifen und verwenden, die in der Gesellschaft diskutiert werden, so Esselborn: „Das Besondere bei Laßwitz zum Beispiel ist die Gartenstadtarchitektur, die die Gartenstadt-Idee von Ebenezer Howard aufgreift und verwendet.“ Andererseits kann es in Einzelfällen dazu kommen, dass der Zukunftsroman Teil des eines realen Stadt-Diskurses wird, wie bei Paul Scheerbarts „Lesabéndio“. Dort werden Ideen der Glasarchitektur dargestellt, wie sie vom Architekten Bruno Taut in der Realität entwickelt wurden. Hier kann man von einer tatsächlichen Einflussnahme der Zukunftsromane auf die Wirklichkeit reden, denn Scheerbart hatte Kontakt zu Taut und diskutierte mit ihm die Prinzipien dieser neuen Form von Architektur. Andere Ideen der Zukunftsromane, wie etwa Flugverkehr innerhalb der Stadt oder mit Brücken verbundene Hochhäuser, wurden nie verwirklicht. Schlussendlich präsentiert ja die Science Fiction keinen Vorschlag für eine konkrete Stadtplanung, sie verhandelt grundsätzliche Menschheitsfragen. Einen größeren konkreten Einfluss der literarischen Erzeugnisse auf die Gestaltung des realen Lebensraums Stadt gibt es somit nicht.
Doch das faszinierende Bild der Stadt, schwankend zwischen Zufluchtsort und zerstörerischem Moloch, wird von der Science Fiction nachhaltig geprägt. Die Phantasien wirken weiter, z.B. in der Sehnsucht nach Megastädten wie New York und Tokio, oder aber in der Angst vor ihnen: Ob „Metropolis“, „Blade Runner“, „Das fünfte Element“ oder „Elysium“ – die Ideen, die vor hundert Jahren entstanden, bewegen uns noch heute.