Wie lange werden wir leben?
Der Kölner Demograph und Statistiker Professor Dr. Eckart Bomsdorf wirft einen Blick in die demografische Glaskugel
Von Volker Stollorz
Einige Alternsforscher versprechen künftig neue Rekorde bei der Lebenserwartung der Menschen. Die Hälfte aller im Jahr 2000 in Deutschland geborenen Mädchen soll mindestens 100 Jahre alt werden. Halten Sie solche Hochrechnungen für realistisch?
Eckart Bomsdorf
Nein. Das bringt zwar Aufmerksamkeit beim neugierigen Publikum, aber als Demograf und Statistiker, der die einjährigen Sterbe- bzw. Überlebenswahrscheinlichkeiten und die Lebenserwartung studiert und mit deren Hilfe Modellrechnungen für die künftige Bevölkerungsentwicklung erstellt, erscheinen mir derartige Berechnungen nicht durch bisher bekannte Fakten gedeckt. Die Sterbe- bzw. Überlebenswahrscheinlichkeiten der Zukunft können wir seriös allein aufgrund bisheriger Trends modellieren und die zeigen etwas anderes.
Fakt ist doch aber, dass die Lebenserwartung derzeit pro Jahrzehnt um rund zwei Jahre steigt, zumindest in den Industrieländern wie Deutschland und den USA, besonders schnell sogar in Japan, wo die Lebenserwartung in 50 Jahren sogar um 14 Jahre gestiegen ist.
Nach unseren Berechnungen der Lebenserwartung mit Hilfe von längsschnittorientierten Generationensterbetafeln scheint es mir realistisch zu sagen, dass heute geborene Jungen eine durchschnittliche Lebenserwartung von ungefähr 85 Jahren haben. Bei den Mädchen liegt sie sogar bei 90 Jahren. Deutlich höhere Werte sind aus derzeitiger Sicht Spekulation.
Könnte es nicht sein, dass der medizinische Fortschritt weitere Wunder bewirkt?
Die einen sagen, medizinisch ist bei der maximalen Lebenserwartung des Menschen irgendwann Schluss, andere Forscher zweifeln das an. Beides ist für mich als Statistiker eher Kaffeesatzleserei, auf die ich keine solide Politik gründen würde. Wir können die Zukunft, das heißt hier die Lebenserwartung, nur modellieren, und dies tun wir sinnvoller Weise auf der Basis bisher beobachteter Sterbewahrscheinlichkeiten für einzelne Jahrgänge. Einjährige Sterbe- bzw. Überlebenswahrscheinlichkeiten geben die Wahrscheinlichkeit an, innerhalb eines Jahres zu sterben bzw. das nächste Lebensjahr zu erreichen. Diese Größen verändern sich nur ganz selten sprunghaft. Das ist eine weltweite demografische Erfahrung.
Manche sagen, die Demografen hätten Katastrophen wie die Grippepandemie 1918, den zweiten Weltkrieg oder die Seuche Aids nicht vorhersagen können. Deshalb sei es unmöglich, die Lebenserwartung im 21. Jahrhundert korrekt einzuschätzen.
Ganz falsch ist diese Aussage nicht. Aber mit diesem Argument könnte man alle Prognosen einstellen; derart einschneidende Ereignisse vorherzusehen kann auch keine Aufgabe der Demografie sein. Die Wettervorhersagen für einen Monat im Voraus sind zum Beispiel wesentlich unsicherer als alles, was Demografen über die Entwicklung der älteren Bevölkerung Deutschlands in den nächsten Jahrzehnten prognostizieren.
Was sehen Sie in Ihrer demografischen Glaskugel, wenn Sie heute als Statistiker die Bevölkerungsstruktur für das Jahr 2050 modellieren?
Was die demografische Entwicklung angeht, haben viele immer noch nicht begriffen, was etwa in Deutschland auf die Gesellschaft zurollt. Dazu nur zwei aussagekräftige Zahlen: Wenn wir davon ausgehen, dass derzeit gut eine Million 50-Jährige in Deutschland leben, dann könnte es durchaus sein, dass davon 60.000 mindestens 100 Jahre werden. Das wäre ein Vielfaches von dem, was wir heute an 100-Jährigen kennen.
Man hört, der Bundespräsident schicke schon heute jährlich mehr als 3.000 Menschen Glückwünschtelegramme zum 100-Jährigen Geburtstag...
Diese nette Geste der Gratulation an Jubilare wird künftig vermutlich ins höhere Alter verschoben werden müssen, wenn der Bundespräsident der Flut der Briefe auch künftig Herr bleiben will. Aber im Ernst, meine zweite wichtige Zahl lautet: In Deutschland leben heute gut dreieinhalb Millionen Menschen, die mindestens 80 Jahre alt sind. In 40 Jahren werden es hierzulande vermutlich dreimal so viele sein. Und das, obwohl die Bevölkerung insgesamt schrumpft. Die unausweichliche Folge ist: Das zahlenmäßige Verhältnis von Jungen zu Alten wird sich deutlich zu Gunsten der Älteren verschieben.
Das bedeutet im Klartext, die Überalterung zwischen den Jahren 2020 bis 2050 ist nicht mehr aufzuhalten?
Ich kann Ihnen relativ sicher vorrechnen, wie viele ältere Menschen hier 2050 leben werden. Denn die sind alle längst geboren. Auf 100 Bürger zwischen 20 und 64 Jahren kommen dann 60, die 65 Jahre und älter sind. Zum Vergleich: Derzeit beträgt dieser Altenquotient in Deutschland 32. Im Jahr 2030 wird er bei 50 liegen. Darauf muss die Gesellschaft ihre sozialen Sicherungssysteme vorbereiten, je früher, desto besser.
Wie errechnet man überhaupt die künftige Lebenserwartung mit Hilfe von Generationensterbetafeln?
Im Prinzip ist die Methode sehr einfach: Wir versuchen von der Vergangenheit auf die Zukunft zu schließen. Generationensterbetafeln resultieren aus einer Längsschnittbetrachtung über einen Zeitraum von rund 100 Jahren. Diese Tabellen beschreiben die Lebenserwartung und die Sterbewahrscheinlichkeiten der Angehörigen eines Geburtsjahrganges für jedes Alter. Für einen heute 40-Jährigen berechnet man seine künftige Lebenserwartung unter Verwendung der aktuellen einjährigen Sterbe- bzw. Überlebenswahrscheinlichkeit von 40-Jährigen, der Sterbe- bzw. Überlebenswahrscheinlichkeit 41-Jähriger in einem Jahr, der 42-Jähriger in zwei Jahren usw. Ähnliche Berechnungen erstellen wir dann für Menschen jeden Alters. Am Ende entsteht so ein auf der Realität aufbauendes Modell, und es resultieren die gesuchten Lebenserwartungen, die unter Verwendung zeitnaher Daten immer wieder überprüft und aktualisiert werden.
Können Sie diesen subtilen Wandel der Sterbewahrscheinlichkeiten für einen Laien begreifbarer machen?
Nehmen Sie 1000 um 1900 geborene Mädchen. Ungefähr 290 von diesen wurden historisch gesehen 80 Jahre alt. Von den 1920 geborenen Mädchen erreichten dieses Alter immerhin schon 460 von 1000. Die spannende Frage ist nun, welche Zahlen für 2008 geborene Mädchen oder für heute 50-Jährige gelten. Derartige Aussagen liefern Generationensterbetafeln. Diese sind zum Beispiel für private Rentenversicherungen sowie für Lebensversicherungen und deren Beitragskalkulation wesentlich.
Wie krisensicher erscheinen Ihnen derzeit die sozialen Sicherungssysteme, wenn Sie auf die künftige demografische Entwicklung in Deutschland blicken?
Zunächst sehen wir derzeit etwa bei der Rente, dass Politiker wieder einmal Geschenke verteilt haben ? aktuell auf Kosten der Beitragszahler ? und dabei von ihren selbst aufgestellten Regeln abweichen. Dennoch ist Deutschland insgesamt bei der Rente besser positioniert als Viele wahrhaben wollen, vor allem durch die Anhebung des Renteneintrittsalters und den so genannten Nachhaltigkeitsfaktor, der das zahlenmäßige Verhältnis von Rentnern zu Beitragszahlern in die Rentenberechnung einfließen lässt. Zudem wissen die nachrückenden Jahrgänge nun, dass sie zusätzlich privat vorsorgen müssen. Bei der Pflegeversicherung werden wir in den nächsten 40 Jahren eine Verdoppelung des Beitragssatzes erleben. Am größten ist das Problem bei der Krankenversicherung. Bei dieser ist langfristig eine deutliche Beitragssatzsteigerung zu erwarten, weil wir hier durch die demografische Entwicklung einerseits und den medizinischen Fortschritt andererseits von einer Doppelbelastung ausgehen müssen.
Es wäre daher überlegenswert, ob der existierende Soli (Solidaritätszuschlag) nicht in einen ?Demo-Soli? ? einen Demografiesoli ? umgewandelt werden sollte. Aus diesen Mitteln könnte zunächst ein Demografiefonds aufgebaut werden, der später mit einem Volumen von über 100 Milliarden Euro dazu dienen kann, die Belastungen in den kritischen Jahren teilweise aufzufangen. Das würde zudem diese Belastungen auf mehrere Generationen aufteilen.
Steigt denn mit zunehmender Lebenserwartung automatisch die Pflegebedürftigkeit?
Auch da gibt es verschiedene Annahmen. Wenn wir die heutigen Pflegequoten zu Grunde legen, die uns beispielsweise sagen, wie viel Prozent der 90-Jährigen pflegebedürftig sind, dann können wir berechnen, wie groß bei weiter steigender Lebenserwartung die Anzahl der Pflegebedürftigen künftig sein wird. Es könnte jedoch auch sein, dass, wenn die Menschen künftig älter werden, sich ihre Pflegebedürftigkeit weiter ins höhere Alter verschiebt und damit die durchschnittliche Dauer der Pflegebedürftigkeit nicht wesentlich zunimmt. Solche in der Öffentlichkeit oft als Fakten gesehene Annahmen sind in den verschiedenen Modellen enthalten. Die Entwicklung in der Kranken- und Pflegeversicherung hängt entscheidend auch davon ab, ob die Menschen gesund bleiben oder krank altern.
Was ist Ihre Prognose?
Die Wahrheit liegt vermutlich wie oft in der Mitte. Der kaum vorhersehbare medizinisch-technische Fortschritt ist sicher eine wichtige Komponente, wenn wir ermitteln wollen, wie sich etwa die Krankenkassenbeiträge entwickeln. Wenn wir künftig alles machen würden, was der medizinische Fortschritt an Lebensverlängerung erreichen kann, dann könnte die Lebenserwartung noch stärker steigen als bisher erwartet, aber das gäbe es nicht umsonst.
Raucher sterben früher als Nichtraucher. Was würde passieren, wenn plötzlich alle Deutschen aufhören zu rauchen? Welchen Einfluss hätte das auf die Lebenserwartung?
Wenn niemand mehr rauchen würde, so würde sich die Lebenserwartung insgesamt sicher ein wenig verlängern, aber diesen Effekt sollten wir auch nicht überschätzen. Fakt bleibt: Der Mensch stirbt mit weit höherer Wahrscheinlichkeit im Alter als in jungen Jahren.
Bedeutet das im Umkehrschluss, dass die Zunahme der Lebenserwartung im 20. Jahrhundert vor allem durch eine Senkung der Kindersterblichkeit erreicht wurde?
Früher war die Säuglingssterblichkeit sehr hoch und u.a. daher die Lebenserwartung entsprechend deutlich niedriger. Noch 1880 starb nahezu jedes vierte Kind vor Vollendung des ersten Lebensjahres. Heute ist die Wahrscheinlichkeit im ersten Lebensjahr oder in der ersten Lebenshälfte zu sterben, statistisch zum Glück sehr klein.
In Zahlen ausgedrückt bedeutet das?
Wenn bei den Männern bis zu einem Alter von 40 Jahren niemand mehr sterben würde, dann würde die Lebenserwartung neugeborener Jungen insgesamt nur um ein Jahr steigen. Bei den Frauen ergibt sich derselbe Effekt, wenn bis zum Alter von 50 Jahren niemand sterben würde.
Werfen wir einen Blick auf hoffnungsfrohe Zahlen. In Deutschland sind 2007 erstmals seit zehn Jahren wieder mehr Kinder geboren worden ? mit 514.152 Kindern waren es 5.000 Kinder oder ein Prozent mehr als 2006. Ist das die erhoffte Trendwende bei der Geburtenrate?
Da warne ich vor voreiligem Optimismus. Der Trend ? wenn er denn überhaupt einer ist ? ist nicht mal ein Jahr alt. Adenauer irrte, als er damals bei Einführung der dynamischen Rente sagte: ?Kinder bekommen die Deutschen immer.? Seit den 70er Jahren bekommt eine Frau in Deutschland statistisch gesehen weniger als 1,4 Kinder, die Generation potentieller Eltern schrumpft daher. Modellrechnungen zeigen uns, dass in Deutschland bei einer Fertilitätsrate von 1,7 im Zusammenhang mit mehr Zuwanderung der Bevölkerungsumfang deutlich langsamer zurückginge, es ließe sich sogar eine Konstanz des Bevölkerungsumfangs erreichen. Aber ob sich bei den Geburtenzahlen derzeit in Deutschland wirklich dauerhaft schon was bewegt in Richtung mehr Nachkommen, das ist offen.
Nehmen wir an, ein neuer Babyboom bricht aus. Was änderte sich dann an Ihren Bevölkerungsprognosen?
Selbst wenn wir ab sofort eine Anzahl von zwei Kindern pro Frau annehmen, würde die Bevölkerung in Deutschland ohne Zuwanderung in den nächsten 50 Jahren nicht konstant bei 80 Millionen Menschen gehalten werden können. Oft wird vergessen, dass schon die Elterngeneration viel zu klein ist und Familien mit drei oder vier Kindern immer seltener werden. Auch bekommen Frauen immer später ihr erstes Kind. Die Realität ist unerbittlich: Ein nicht geborenes Mädchen kann später keine Kinder zur Welt bringen.
Mancher Politiker setzt auf Zuwanderung...
Ja, die kann helfen, wenn sie geregelt erfolgt. Es mag sinnvoll erscheinen, wenn wir aus Indien junge Ingenieure anwerben. Aber ist es nicht ethisch problematisch, Medizinstudenten aus Entwicklungsländern hier auszubilden und dann in Deutschland als Arzt dauerhaft tätig werden zu lassen? Wir sehen heute, dass Talente beispielsweise aus Polen, Rumänien oder Bulgarien nach Westeuropa streben. Wie stark dürfen wir derartige Bewegungen fördern? Wir müssen uns zumindest fragen, inwieweit es moralisch vertretbar ist, anderen Ländern die eigene Elite in größerem Umfang zu entziehen.
Eine persönliche Frage zum Schluss. Würden Sie selbst gerne 100 Jahre alt werden?
Für mich persönlich käme es weniger darauf an, 100 Jahre alt zu werden, sondern die gewonnenen Lebensjahre bei Gesundheit zu erleben.
Die Frage ist also nicht, wie alt ich werde, sondern wie ich alt werde.