Selbst Studierende können Probleme beim Lesen und Schreiben haben. Das mindert keineswegs ihre Befähigung, erfolgreich ein Studium abzuschließen. In der Hochschullernambulanz »GaRFIELd« erhalten sie Hilfe. Das ist in der Coronapandemie notwendiger denn je.
Robert Hahn
Carol Greider erhielt 2009 den Nobelpreis für Medizin. Durch ihre Forschung wissen wir heute viel über die molekularen Ursachen, die dafür verantwortlich sind, warum wir altern und schließlich sterben. Ihre Erkenntnisse werden in absehbarer Zeit dazu beitragen, dass die Medizin die Lebenszeit von Menschen verlängern kann.
Doch der Weg zur erfolgreichen Wissenschaftlerin war für Carol Greider sehr steinig, denn sie leidet unter einer starken Lese-Rechtschreibstörung (LRS). Als Kind war für sie selbst das Verfassen kurzer Texte ein Horrorszenario. Sie vertauschte ständig Buchstaben und schrieb fast kein Wort richtig. Trotzdem promovierte sie an der renommierten University of California in Berkeley. Ihre LRS konnte sie nicht aufhalten.
Viele junge Menschen mit herausragendem Potenzial scheitern jedoch an ihren Lese- und Rechtschreibproblemen. Vielleicht erwerben sie unter großen Mühen das Abitur und beginnen ein Studium. Beenden werden sie es jedoch in vielen Fällen nicht. Laut der 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks sind circa 2 Prozent aller bundesdeutschen Studierenden von LRS betroffen – also etwa 1.000 an der Universität zu Köln. Allerdings liegt nur bei 6 Prozent dieser jungen Menschen eine entsprechende Diagnose vor.
Leserechtschreibschwäche gilt immer noch als Tabu
Im Erwachsenenalter schlecht schreiben und lesen zu können, ist in unserer Gesellschaft ein weit verbreitetes, aber dennoch stark tabuisiertes Phänomen. »Studierende mit LRS schämen sich häufig, sich selbst und anderen ihre Probleme einzugestehen «, sagt Professor Dr. Mathias Grünke, Inhaber des Lehrstuhls »Konzeption und Evaluation schulischer Förderung im Förderschwerpunkt Lernen« (FSL) an der Humanwissenschaftlichen Fakultät. Die Betroffenen leiden sowohl an der Störung selbst als auch an der Angst, dass ihre Schwierigkeiten »entdeckt « und als Ausdruck von Unfähigkeit gewertet werden. Modulabschlussprüfungen finden an Hochschulen überwiegend in Schriftform statt, das heißt, es müssen Texte gelesen und schriftlich bearbeitet werden, zum Beispiel bei Klausuren oder Hausarbeiten.
Die 2008 gegründete Hochschullernambulanz »GaRFIELd« am Department Heilpädagogik und Rehabilitation unter der Leitung von Susanne Hisgen nimmt sich der Probleme dieser Studierenden an. In Kooperation mit dem Servicezentrum Inklusion sucht man nach individuellen Lösungen für die Betroffenen. »Mal reicht ein Gutachten, mit dem sich beim zuständigen Prüfungsamt ein Nachteilsausgleich erwirken lässt – mal kann durch eine passgenaue Förderung innerhalb weniger Monate ein deutlicher Kompetenzzuwachs erreicht werden, der das Leben deutlich erleichtert«, fasst Grünke die Arbeit zusammen. Das Ziel ist immer das gleiche: Der Studienabschluss darf nicht an Problemen scheitern, die nichts mit dem zentralen Inhalt des Fachs zu tun haben. »Um Durchbrüche in der Krebsforschung zu erzielen, braucht man keine tadellose Rechtschreibung, wie Carol Greider eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. Aber man braucht ein passendes Abschlusszeugnis von einer Hochschule.«
Corona verschärft den Druck
Eigentlich wurde die Lernambulanz für Kinder und Jugendliche geschaffen. Doch seit einigen Monaten kümmert sie sich vermehrt auch um Studierende der Universität zu Köln. »Das liegt unter anderem an Corona «, sagt Grünke. »Nach dem Ausbruch der Pandemie häuften sich die Anfragen und das Problem konnte nicht mehr ignoriert werden.« Die Umstellung von Präsenz- auf Onlinelehre bedeutete, dass Studierende mit LRS nun so gut wie gar nicht mehr auf ihre mündlichen Kompetenzen zurückgreifen können, erklärt der Wissenschaftler: »Die schriftsprachliche Kommunikation hat noch mehr an Bedeutung gewonnen und Studierende mit LRS haben noch mehr als sonst das Nachsehen. Die zusätzliche psychische Belastung während des Lockdowns tut oft ihr Übriges. Der Leidensdruck wurde oft einfach zu groß.«
Bei der Aufgabe, die Prinzipien der Diagnostik und Förderung bei Erwachsenen anzuwenden, erhalten die Mitarbeitenden der Lernambulanz kompetente Unterstützung. Gemeinsam mit Nicole Ramacher-Faasen und Sylvia Costard von der Hochschule für Gesundheit in Bochum evaluiert das Kölner Team den Nutzen von Selbsthilfegruppen für Studierende. »Studierende sind es gewohnt, ihre Lernaktivitäten selbst zu strukturieren und zu organisieren. Sie werden umfassend instruiert, um im kleinen Kreis zeitweise eigenverantwortlich an der Überwindung ihrer Rückstände arbeiten zu können«, sagt Grünke.
Äußerst nützlich sind auch die engen Beziehungen zum Landmark- College in Putney/Vermont, eine der wenigen Hochschulen weltweit, die auf Studierende mit Teilleistungs- und Aufmerksamkeitsproblemen spezialisiert ist. Die dort angewendeten Konzepte werden in Köln auf die Bedürfnisse der Studierenden angepasst. Das sei besonders wichtig, da Grünke zufolge hierzulande die Hilfsmöglichkeiten für Erwachsene mit LRS noch in den Kinderschuhen stecken.
Studium ermöglichen
Die Gefahr, an einer großen Universität wie der Universität zu Köln mit den eigenen Problemen unterzugehen, ist immer gegeben. Umso wichtiger ist es, dass Studierende mit LRS, deren Leben allzu oft von Selbstzweifeln geprägt ist, eine Anlaufstelle haben. »Vielleicht ist unter unseren Absolventinnen und Absolventen auch irgendwann mal ein Mensch, der wie Carol Greider trotz LRS einen Nobelpreis gewinnt. Aber selbst jemandem dabei zu helfen, ein spannendes Studium trotz isolierter Probleme in der Schriftsprache bis zum Ende weiterführen zu können, wäre jede Mühe wert«, fasst Grünke es zusammen.