Alles Kopfsache
Bei der Entwicklung von Übergewicht und Adipositas sind nicht Bauch, Beine oder Po die entscheidenden Problemzonen, sondern das Gehirn. Dort laufen die Signale zusammen, die zu unkontrollierter Gewichtszunahme führen können. Wie genau das alles funktioniert, ergründen Expert*innen verschiedener Fachbereiche am neuen Zentrum für Stoffwechselforschung.
Von Eva Schissler
Die Weltgesundheitsorganisation spricht von der ›Pandemie des 21. Jahrhunderts‹, doch sie wird nicht durch Viren oder andere Krankheitserreger ausgelöst: Seit Jahrzehnten steigen weltweit die Zahlen von Menschen mit Übergewicht oder Adipositas, besonders hoch sind sie in den Industriestaaten. Weltweit sind circa eine Milliarde Menschen von Fettleibigkeit (Adipositas) betroffen – mit erheblichen gesundheitlichen Folgen. Oft leiden Patientinnen und Patienten an Folgeerkrankungen wie Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und Gelenkproblemen. Lebenserwartung und Lebensqualität sinken.
Die ständige Verfügbarkeit von Essen und der hohe Zuckerund Fettgehalt vieler Nahrungsmittel begünstigen schon ab einem frühen Alter ungesunde Ernährungsgewohnheiten. Doch wir leben alle in der gleichen Welt, sind umgeben von den gleichen Supermärkten und Fast-Food Ständen. Die Frage ist also, warum es manchen Menschen gelingt, ihr Leben lang ein gesundes Gewicht zu halten, während andere damit enorme Probleme haben. Bekannt ist, dass Erziehung, Genetik und Epigenetik – und in seltenen Fällen auch hormonelle Faktoren – das individuelle Risiko beeinflussen.
Im September haben Universität und Uniklinik das neue Zentrum für Stoffwechselforschung eingeweiht. Ab 2025 treffen dort elf Forschungsgruppen aus Fachgebieten wie der Endokrinologie, Dermatologie, Kinder- und Jugendheilkunde, Neurobiologie, Physiologie, Bioinformatik, Psychiatrie und Nephrologie zusammen. Die Forschung nimmt allerdings nicht nur die weit verbreiteten Krankheiten Übergewicht, Adipositas und Typ-2-Diabetes ins Visier. Das Spektrum der Forschungsthemen ist breit und umfasst auch Fragen der Wundheilung oder des Einflusses von Ernährung auf Nierenerkrankungen.
Neben der technischen Ausstattung des Gebäudes, die unter anderem ein Massenspektrometer zur Analyse von Bio-Molekülen bereithält, schafft die räumliche Nähe der klinischen und grundlagenwissenschaftlichen Arbeitsgruppen gute Bedingungen für Kooperation: Durch Austausch können völlig neue Forschungsfragen entstehen und untersucht werden.
Die neue Volkskrankheit
Dr. Ruth Hanßen ist nicht nur in der Forschung tätig, sondern auch in der Patientenversorgung an der Uniklinik. Wer zu ihr in die Sprechstunde kommt, hat meist einen langen Leidensweg hinter sich: zig Diäten und danach der JoJo-Effekt, der zu einer noch höheren Zahl auf der Waage führt. Sie und ihre Kolleg*innen bieten an der Poliklinik für Endokrinologie, Diabetologie und Präventivmedizin das Schulungsprogramm ›Change Your Life‹ an. Darin lernen die Teilnehmer*innen über ein Jahr einen gesundheitsfördernden Lebensstil mit Änderung des Essverhaltens, Bewegung und Sport sowie Stressbewältigungsstrategien. Oft werden Patient*innen von anderen Fachbereichen überwiesen, da sie bereits an Folgeerkrankungen von Übergewicht und Adipositas leiden. Ab einem Body-Mass-Index von 30 kg/m2 können die Krankenkassen die Teilnahme am Programm finanzieren.
Body-Mass-Index
Der BMI berechnet sich durch die Formel ›Gewicht in Kilogramm durch die Körpergröße zum Quadrat‹. Ab wann ein Mensch als übergewichtig oder adipös gilt, hängt auch von Alter und Geschlecht ab. In der Regel gilt: Ab einem BMI von 25 beginnt das Übergewicht, ab einem BMI von 30 die Adipositas.
Hanßen ist wichtig, dass ihre Patient*innen nicht stigmatisiert werden, weil sie sich vermeintlich nicht ›zügeln‹ können. »Heute wissen wir, dass Adipositas eine chronische Krankheit ist, die mit Veränderungen im Gehirn einhergeht. Diese Gehirnveränderungen machen eine ›einfache‹ Lebensstiländerung nur schwer umsetzbar. Wir sagen ja auch nicht zu Menschen, die an einer schweren Depression leiden, dass sie einfach mal lächeln sollten «, sagt die Ärztin. Besonderen Wert legt sie auf eine umfassende Nachbetreuung, wie sie auch bei anderen körperlichen und psychischen Erkrankungen erfolgt. Denn mit der einmaligen Gewichtabnahme ist es nicht getan. Die größere Herausforderung besteht darin, das neue Gewicht zu halten.
Als Leiterin der Arbeitsgruppe für translationale Stoffwechselforschung an der Uniklinik überträgt Ruth Hanßen die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der zell- und tierbasierten Forschung in die Patientenversorgung. Gleichzeitig entstehen im Kontakt mit Patient*innen Forschungsfragen, die sie in Zukunft am neuen Zentrum für Stoffwechselforschung bearbeiten wird. Sie interessiert vor allem, was im Gehirn passiert, wenn Menschen immer mehr zunehmen: »Bei einer Ernährung mit hoher Fett- und Zuckerkonzentration verändert sich das Belohnungszentrum. Wer einmal ein erhöhtes Gewicht hat, dessen Gehirn arbeitet nicht mehr so wie vorher: Die hochkalorischen Nahrungsmittel werden als besonders belohnend kodiert, die niedrigkalorischen im Gegenzug als besonders wenig belohnend «, sagt Hanßen.
Dieser Effekt verstärke sich mit zunehmendem Körpergewicht. Nach aktuellem Forschungsstand sei jedoch völlig unklar, ob sich die Veränderungen im Gehirn jemals umkehren lassen – ein möglicher Grund, warum es nach einer Gewichtsreduktion so schwerfällt, das neue Gewicht zu halten.
Schaltzentrale für das Essverhalten
Professorin Dr. Tatiana Korotkova leitet das Institut für Systemische Physiologie der Medizinischen Fakultät und ist Forschungsgruppenleiterin am Exzellenzcluster für Alternsforschung CECAD. Ihre Arbeitsgruppe, die bald auch in die Räumlichkeiten des Zentrums für Stoffwechselforschung einziehen wird, nimmt die Prozesse im Gehirn unter die Lupe, die für das Essverhalten verantwortlich sind. Das ist vor allem der Hypothalamus, eine Art Schaltzentrale für verschiedene Signale in unserem Körper. Diese Hirnregion ist noch einmal in unterschiedliche Zentren aufgeteilt.
Der Fokus von Korotkovas Arbeit liegt auf dem sogenannten lateralen Hypothalamus, denn dort befinden sich die Rezeptoren für die Stoffwechselsignale Insulin, Leptin und Glukose. Die Rezeptoren funktionieren wie eine Art Messfühler und sagen dem Gehirn, wie viel Zucker und Fett gerade für den Körper verfügbar sind. Hier kommen auch Signale vom Belohnungszentrum an, und vom präfrontalen Cortex, der unter anderem für die Handlungsplanung verantwortlich ist. Der laterale Hypothalamus integriert diese Signale und steuert so das Essverhalten.
Korotkova untersucht im Mausmodell, wie sich Einwirkungen auf eine Hirnregion auf die Neuronen in anderen Regionen auswirken. Folgen von Fehlsteuerungen der Neuronen dieser Systeme können nämlich nicht nur übermäßiges Essen, sondern auch Essstörungen wie die Magersucht auslösen.
Gesunder Stoffwechsel, gesundes Alter
Der laterale Hypothalamus ist auch einer der Orte im Körper, an dem das in den ›Abnehmspritzen‹ Ozempic oder Wegovy enthaltene Semaglutid ansetzt. Dieser sogenannte GLP-1-Rezeptor-Agonist wirkt auf das Hormon GLP-1, das im Darm produziert wird und den Insulinhaushalt regelt. Semaglutid blockt die Rezeptoren dieses Hormons im Gehirn, sodass Insulin langsamer freigesetzt wird. Außerdem bewirkt es, dass Essen länger im Verdauungstrakt bleibt und daher der Hunger nicht so schnell zurückkehrt.
Korotkova sieht diese Therapie jedoch nicht als letzte Lösung des weltweiten Gewichtsproblems an. »Es ist gut, dass wir diese Medikamente haben. Sie können mit einer Gewichtsreduktion von 15 bis 20 Prozent beachtliche Ergebnisse erzielen. Zum Teil treten aber starke Nebenwirkungen wie Übelkeit, Schwindel, Durchfall oder Erbrechen auf, sodass viele Patienten die Behandlung wieder abbrechen«, sagt die Forscherin. Außerdem sei eine lebenslange Therapie nötig. Eine Heilung stellt dieser Wirkstoff daher nicht dar.
Das Hormon GLP-1 sei zudem nur ein Baustein in einem sehr komplizierten Konzert, in dem auch andere Hormone wie Leptin oder Ghrelin und ihre Rezeptoren mitspielen. Daher konzentriere sich die Forschung derzeit auf sogenannte Dual- und Triple-Agonisten. Solche Wirkstoffe würden nicht nur bei einem Hormon ansetzen, sondern an verschiedenen Stellen im System. Das hätte das Potential, sowohl die Wirksamkeit als auch die Verträglichkeit für eine größere Gruppe von Patient*innen zu erhöhen.
Für Korotkova und ihr Team ist der Stoffwechsel nicht zuletzt interessant, weil er als Frühwarnsystem für viele Alterserkrankungen fungiert. Ihnen gehen oft metabolische Veränderungen voraus, die dann zu chronischen Entzündungen, bestimmten Krebsarten oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen. »Viele Forschungszentren weltweit untersuchen Alterung, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Dann lassen sich nur noch die Symptome behandeln. Je früher wir die Veränderungen behandeln können, die zu diesen Krankheiten führen, desto länger bleibt der Mensch gesund«, sagt Korotkova. Ein heute schon verfügbarer dualer Agonist ist etwa das in dem Medikament Mounjaro enthaltene Tirzepatid.
Wie funktioniert das Zellgedächtnis?
Professor Dr. Miguel Ángel Alejandre-Alcázar setzt mit seiner Forschung sehr früh im Leben an: schon vor der Geburt. Als Kinder- und Jugendmediziner mit einem Schwerpunkt auf Lungenheilkunde kam er bereits zu Anfang seiner Karriere im Krankenhaus mit Frühgeborenen in Kontakt. Da die Lunge auch nach der Geburt noch weiter reifen muss, ist sie bei ›Frühchen‹ oft noch nicht voll funktionsfähig. Sie benötigen atemunterstützende Maßnahmen, die zu schweren Folgeerkrankungen führen können, wie etwa bronchopulmonale Dysplasie (BPD), eine neonatale chronische Lungenerkrankung, deren Folgen über die Kindheit hinaus reichen und mit einem erhöhten Risiko für ein Lungenleiden im späteren Leben einhergehen.
Die zellulären, strukturellen und funktionellen Veränderungen bei dieser Krankheit ähneln sehr den Veränderungen, die auch bei Prozessen des Lungenalterns auftreten. Alejandre-Alcázar fragte sich: »Warum kann sich die Lunge eines Frühchens unter diesen Umständen nicht normal entwickeln beziehungsweise regenerieren? Was könnten wir Mediziner hinsichtlich Prävention und Therapie anders und besser machen?« Seither arbeitet der Kliniker, der wie Tatiana Korotkova Forschungsgruppenleiter am Exzellenzcluster CECAD ist, in der Wissenschaft.
Auch andere Organsysteme wie das zentrale Nervensystem oder die Nieren können schon im Mutterleib geschädigt werden, sodass Struktur, Physiologie und letztlich auch Funktion der Organe dauerhaft verändert bleiben. Ein Risikofaktor dafür ist ein pathologisches metabolisches Milieu, zum Beispiel infolge einer Plazentainsuffizienz, wodurch der Fötus einem Nährstoffmangel ausgesetzt ist, oder durch ein Übergewicht der Mutter. Das erhöhte Fettgewebe produziert neben vielen ›guten‹ Hormonen, die für physiologische Regelkreisläufe notwendig sind, auch entzündliche Botenstoffe. Diese können über die Plazenta auf das ungeborene Kind übergehen und eine chronische subakute Entzündung auslösen. All diese Faktoren können die Reifung von Organen und Geweben langfristig beeinträchtigen.
Alejandre-Alcázar erklärt es Studierenden gerne so: »Gesundheit und Resilienz müssen wie ein Haus auf einem stabilen Fundament stehen, welches bereits im Uterus gelegt wird. Ist das Haus allerdings instabil gebaut, wird es stets anfällig sein. Kommt ein Sturm, wird es eher einstürzen als ein solide gebautes Haus mit starkem Fundament. Während der Entwicklung eines Menschen können verschiedene nachteilige Faktoren zu Schädigungen und Prägungen führen, die ihn später im Leben anfälliger für chronische Krankheiten machen.« Der ›Sturm‹ könne dann in Form von Stress, Mangel- oder Überernährung, Rauchen oder Smog kommen.
In experimentellen transgenerationalen Studien mit Müttern, Kindern und Enkelkindern sowie in klinischen Kohorten, unter anderem am Deutschen Zentrum für Lungenforschung (DZL), erforscht Alejandre-Alcázar, wie sich stoffwechselbedingte Risiken über Generationen fortschreiben. Neben Erziehung und Sozialisation spielt die Epigenetik – wie Umweltfaktoren die Aktivität von Genen beeinflussen – eine wesentliche Rolle. Äußere Einflüsse können die Expression unserer Gene beeinflussen und somit auch unser genetisches Profil bestimmen. Grundsätzliche Mechanismen der Epigenetik umfassen neben der Methylierung der DNA auch die sogenannte Histon-Acetylierung – beides Prozesse, die beeinflussen, wie genetische Informationen bei der Zellteilung abgelesen (oder transkribiert) werden. Doch der genaue Prozess, wie ein verändertes metabolisches Milieu in der frühen Entwicklung das Epigenom und das Transkriptom über das Leben hinweg verändert, sei noch unklar. »Die große Frage ist: Wie wird das ›Zellgedächtnis‹ geprägt? Welche molekularen Mechanismen sind am Werk, wenn wir über Generationen eine Neigung zu Adipositas oder Herz-Lungen-Erkrankungen beobachten?«
Der Mensch in seiner Umgebung
Obwohl er mittlerweile viel im Labor arbeitet, lässt Alejandre-Alcázar bei seiner Arbeit nie das große Ganze außer Acht: das Kind, das sich in seiner Welt entwickelt. Er sagt: »Wenn alle Organe optimal miteinander kommunizieren und interagieren, kann sich eine normale Physiologie entwickeln. Aber wir müssen auch die externe Interaktion betrachten – mit der Familie und dem gesamten Lebensumfeld.«
Zu diesem Umfeld gehört jedoch auch eine Lebensmittelindustrie, die Produkte mit zu viel Zucker und Fett auf den Markt bringt. Daher kann Forschung allein das weltweite Übergewichts- und Adipositasproblem nicht lösen; politische und wirtschaftliche Akteur*innen sind ebenfalls gefragt. Die Arbeiten von Ruth Hanßen, Tatiana Korotkova und Miguel Alejandre-Alcázar und ihren Kolleg*innen werden im Idealfall dazu führen, neue Therapien für stoffwechselbedingte Erkrankungen zu entwickeln. Das ist ihr Beitrag zur Bekämpfung der ›Pandemie des 21. Jahrhunderts‹.
Zentrum für Stoffwechselforschung
Am neu gegründeten Zentrum kommen Mediziner*innen und Forschende der Mathematisch- Naturwissenschaftlichen Fakultät zusammen, um neue Stoffwechselregulationsprinzipien als Biomarker oder Ansatzpunkte für Therapien eines breiten Krankheitsspektrums zu identifizieren. Das Zentrum ist ein weiteres Leuchtturmprojekt für die Universität und ergänzt den mit dem Exzellenzcluster CECAD etablierten Alternsforschungsschwerpunkt.
Der Neubau an der Robert-Koch- Straße 10 hat eine Nutzfläche von 3.774 m² und wurde innerhalb von vier Jahren für rund 83 Millionen Euro von der Uniklinik Köln und der Medizinischen Fakultät der Universität unter finanzieller Beteiligung des Bundes und des Landes Nordrhein-Westfalen realisiert. Er umfasst 38 Labore, acht Seminarund Besprechungsräume sowie eine zweigeschossige zentrale Begegnungsfläche mit Café. Die medfacilities GmbH übernahm das Baumanagement unter Verwendung der Planungsmethode BIM (Building Information Modeling). Mit BIM liegen aktuelle Daten für Planung, Bau und Betrieb des Gebäudes anhand eines digitalen Zwillings vor.