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Aus der Lobby in die Zukunft

Das Grandhotel um 1900 nimmt typische Merkmale des modernen Großstadtlebens vorweg

 

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wird das Grandhotel in den westlichen Metropolen zur Projektionsfläche für Sehnsüchte und neue Ordnungen. Als Miniatur-Melting-Pot bringt es Menschen unterschiedlichster Länder, Kulturen und gesellschaftlicher Schichten an einem Ort zusammen – neue Regularien fernab der tradierten Wohnund Lebensmodelle entstehen. Als Laboratorium für ein verändertes soziales Miteinander spiegelt das Grandhotel damit Grundsätze des Reagierens auf veränderte urbane Strukturen wider, die sich auch im Verhalten des Großstädters des 21. Jahrhunderts entdecken lassen.

Gründe, ein Hotel zu besuchen gibt es viele: Ob für einen Wochenendtrip, einen längeren Urlaub, für eine Tagung, eine Geschäftsreise oder als temporärer Ersatz für eine eigene Wohnung – jedes Mal tauchen die Reisenden ein in eine Welt fernab des Alltags, in der sie sich auf ungewohnte Abläufe und die eine oder andere vielleicht befremdliche Begegnung einstellen müssen. Wer ein Hotel betritt, weiß nicht, wer er sein wird, wenn er es wieder verlässt. Hotelszenarien werden daher vor allem seit den 1920er Jahren Inspiration für unzählige Filme, Romane und Erzählungen. Aber auch für die Forschung dienen sie als ideales Objekt, um das Zusammentreffen verschiedenster gesellschaftlicher Akteure zu beobachten.

 

Die ideale Stadt im Kleinen

Der Kölner Historiker Professor Habbo Knoch hat dies zum Thema seiner Habilitationsschrift gemacht. Dabei nimmt er vor allem den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert in Europa und Nordamerika in den Blick. Eine Phase des Umbruchs: Die Großstadt mit dem Lichterglanz unzähliger Möglichkeiten auf der einen und den negativen Folgen der Industrialisierung auf der anderen Seite präsentiert sich als Moloch und Zukunftsverheißung zugleich. „Die Metropolen jener Jahre befinden sich in einer Krise“, erklärt Knoch. „Wenn wir Stadt als Laboratorium der Zukunft und als Entwurfsraum begreifen, dann lässt sich dies auch auf das Grandhotel der Jahrhundertwende übertragen. Hier, an diesem neu geschaffenen sozialen Ort, manifestiert sich die Vorstellung, wie ideales Leben in einer Stadt aussehen könnte.“ Für Knoch wird das Grandhotel damit zu einem Ort, an dem sich Stadtgeschichte im Kleinen widerspiegelt.
Die Bandbreite der Grandhotels, die um 1900 in allen europäischen und nordamerikanischen Großstädten entstehen, reicht von der familiären Luxuspension in Berlin-Mitte bis zum komfortabel ausstaffierten Wolkenkratzer in New York. Sie alle bedienen das immer größer werdende Bedürfnis, sich aus dem Chaos des Großstadtlebens in eine übersichtlichere Welt zurückzuziehen. „Um dieser Erwartungshaltung entsprechen zu können und die Hotels im städtischen Raum erfolgreich zu machen, setzt man seitens der Leitungsebenen auf die Effizienz der inneren Organisation. Das betrifft alle Bereiche“, erläutert Knoch. Eine Vielzahl von Dokumenten, die dies belegen, hat der Wissenschaftler für sein Forschungsprojekt gesichtet. Sie reichen von Schriften zur Hygiene über Pläne zur Elektrizitätsversorgung und Haustechnik bis hin zu Dienstplänen und Lehrbüchern für Hotelberufe – allesamt Zeugnisse einer bis ins kleinste Detail geplanten Betriebsorganisation, die sich durch strenge Hierarchien und ein Heer von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auszeichnet. „Die Grandhotels jener Jahre funktionieren – analog zu den Fabriken – als Großunternehmen“, so Knoch. „Jeder Mitarbeiter, jeder Arbeitsablauf, jeder Raum hat seine eigene Funktion innerhalb eines fest durchorganisierten, sehr hierarchischen Gefüges. Eine vergleichbare Effizienzberechnung kann man in der Wirtschaft, zum Beispiel in den ersten Ford-Werken, erst Jahre später beobachten.“ Das Grandhotel wird damit zum „Impulsgeber“, auch für andere Funktionsbereiche – seien es ökonomische oder organisatorische Faktoren, seien es kulinarische Maßstäbe oder neue Gestaltungs- und Stilprinzipien. Man will sich als perfektionierte und funktionierende „Stadt in der Stadt“ verstanden wissen.

 

Das Hotel als Melting-Pot und Ort der Zufälligkeiten

Das Verhältnis des Grandhotels zum städtischen Raum, der es umschließt, beschreibt Knoch deshalb als ein „Mittendrin in idealer Form.“ Er beobachtet dabei die Entwicklung eines speziellen Typus: „In Berlin, New York und London entstehen um 1900 Hotels, die durch eine durchdachte Raumgestaltung auffallen. Eine besondere Funktion kommt dabei der Hotelhalle zu.“ Ausgestattet mit Sitzecken sowie mit Zugang zu Lift und Treppenhäusern verteilt sie den Besucherstrom von außen nach innen. Die Hotelgäste werden entweder in die Zimmer oder aber in die an die Halle angrenzenden, halböffentlichen Bereiche gelenkt: Im Restaurant, in der Bar oder im Hotelshop treffen sie auf Menschen, die sich nur zum Essen, für einen Ticketkauf oder vielleicht für ein Konzert und eine Varieté- Darbietung im Hotel aufhalten. Die Halle wird so zu einem Miniatur-Melting-Pot und ermöglicht Zufallsbegegnungen von Menschen unterschiedlichster kultureller, sozialer und nationaler Herkunft. Größen aus Adel, Politik, Schauspiel und Film reisen an, Städtereisende checken ein und aus, Handlungsvertreter aus aller Welt bereiten ihre Geschäfte vor, Angestellte tragen Gepäckstücke von A nach B. „Das Grandhotel mit seinen halböffentlichen Räumen hat keine soziale Geschlossenheit mehr“, erläutert Knoch. „So entsteht Raum für Zufälligkeiten und schichtübergreifende Begegnungen, in dem soziale Codizes neu verhandelt und die moralischen Regeln der neuen Schicksalsgemeinschaft angepasst werden müssen.“ Ein verändertes gesellschaftliches Miteinander entsteht. 
Was für den Austausch mit der städtischen Umgebung gilt, betrifft auch die Besucherstruktur im Ganzen. „Das soziale Bild, das wir in Grandhotels der Jahrhundertwende beobachten, ist viel disparater als es die klassische Kategorisierung des Grandhotels als Luxusort der Aristokratie nahe legt“, so Knoch. Denn die Grandhotels um 1900 bieten auch günstigere Zimmer an. Sie gewährleisten so Wirtschaftlichkeit und Profit – und ermöglichen den weniger Wohlhabenden einen Anteil am Leben der Reichen. Ein Phänomen, das Knoch vorsichtig als Demokratisierung bezeichnet.

 

Neue Lebenskonzepte – aber nicht ohne Regularien

Das Grandhotel spiegelt damit ein wichtiges Charakteristikum der gesamten modernen Stadtgesellschaft am Übergang von 19. zum 20. Jahrhundert wider: Der Adel büßt seine Deutungshoheit über Werte und Verhaltensweisen ein, bestimmte ständische oder schichtgeprägte Handlungsmuster verlieren an Gewicht. Es entwickelt sich ein neuer Freiraum für die Möglichkeiten und Zufälligkeiten des städtischen Lebens.
Für Knoch gehören Grandhotels zu den ersten Orten, an denen dies deutlich wird: „Die Bedeutung von Schichtzugehörigkeiten wird nach und nach durch die wachsende Individualität des Einzelnen ersetzt. Das Individuum wird zum Akteur der eigenen Lebenskonzepte und der eigenen moralischen Ordnung. Das Grandhotel mit seiner halböffentlichen Struktur und seinen Zufallsbegegnungen bietet das ideale Umfeld, um die damit verbundenen, neuen sozialen Praktiken auszuprobieren.“
Reguliert werden diese, so Knochs These, nun nicht mehr durch ständisch geprägte, sondern durch unternehmerische Konzepte: „Öffnungszeiten, Hausordnungen, aber auch formelle und informelle Praktiken der Angestellten gehören zu den unerlässlichen Arrangements, mit denen die Hotelbetreiber den Eskapaden und Sonderwünschen exzentrischer Gäste begegnen müssen“, schildert Knoch. „Im Hotel wird damit eine Praxis vorgeprägt, die eng mit der Individualisierung von Sozial- und Konsumformen des gesamten 20. Jahrhunderts zusammenhängt.“ Eigentlich ein Widerspruch: Das Bedürfnis, sich individuelle Freiheit und Lebenskonzepte zu erschließen, trifft – im Hotel wie an allen anderen Orten städtischen Miteinanders – auf die Notwendigkeit der Organisation eben jener Räume, in denen diese Freiheit möglich wird.

 

Wohnraum im Wandel

Hotel gleich Freiheit? Auch heute werden Hotelbesuche als Auszeit vom Alltag, vielleicht zum Ausprobieren anderer Rollenmuster genutzt. Doch die Vielfalt sozialen Miteinanders reicht inzwischen weit über die Hotelhalle hinaus. Ideen zur Verbesserung städtischer Organisation und Infrastrukturen werden ebenfalls längst an anderer Stelle entwickelt. Die meisten Metropolen der Gegenwart wissen um die Probleme, die entstehen, wenn viele Menschen auf engem Raum zusammenleben – und leisten sich die Zusammenarbeit mit gut ausgebildeten Städteplanern.
Und doch hat das Grandhotel von damals mit der Großstadt der Gegenwart ein wichtiges Merkmal gemein. Auch heutige Städterinnen und Städter machen sich auf die Suche nach neuen Konzepten, die besser zu den Anforderungen städtischen Lebens passen könnten. Einstige Idealvorstellungen, der Traum vom Eigenheim zum Beispiel, werden in Frage gestellt und durch Ideen wie generationsübergreifende Wohnprojekte, autofreie Viertel oder betreute Altensiedlung ersetzt. Die Reise in die Stadt der Zukunft, die in der Hotelhalle einen Anfang nahm, geht weiter.