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»Wer Menschenrechte als ›westliche Werte‹ bezeichnet, erweist ihnen einen Bärendienst«

Interview mit Amnesty International Generalsekretär Markus N. Beeko

Markus N. Beeko

Markus N. Beeko gemeinsam mit dem Schauspieler Benno Fürmann und anderen Mitstreiter*innen bei der #unteilbar-Demonstration für eine offene und solidarische Gesellschaft am 13. Oktober 2018 in Berlin

Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International Deutschland, hat in Köln Marketing, Organisation und Verkehrswissenschaft studiert. Nach Stationen in der Marketingbranche und Beratung setzt er sich seit 2016 hauptberuflich für Menschenrechte ein – auch im digitalen Raum.

Das Gespräch führte Eva Schissler


Herr Beeko, der Fokus Ihres Wirtschaftsstudiums lag auf Marketing, Organisation und Verkehrswissenschaft. Wie kamen Sie zum Thema Menschenrechte?

Ich bin durch meine Familie politisch sozialisiert. Mein Vater wurde 1933 in der damals britischen Kolonie Goldküste geboren, dem heutigen Ghana. Das Land gehörte zu den ersten Kolonien in Subsahara-Afrika, das seine Unabhängigkeit erstritt. Das war 1957. Die Befreiungsinitiativen in Afrika waren eng mit der Forderung nach der Achtung der Menschenrechte verbunden.

An Wochenenden waren oft afrikanische Aktivist*innen bei uns zu Besuch. Mein Vater war auch eng mit der südafrikanischen Sängerin und Freiheitskämpferin Miriam Makeba befreundet. Ich erinnere mich an ein Konzert von ihr in der Aula der Uni Köln, als ich noch ein Kind war. Das hatten afrikanische Studierende damals organisiert. Ich bin mit Themen wie Unabhängigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung also aufgewachsen.
 

Wie kam es dann zu dieser Studienwahl?

Mich reizen globale Ideen und Projekte. Nach dem Abitur wollte ich eigentlich Luftund Raumfahrttechnik studieren und hatte auch einen Platz an der RWTH Aachen. Ich brauchte dafür aber ein dreimonatiges Praktikum im Maschinenbau. Dafür war es schon zu spät und ich wollte keine Zeit verlieren. Also bin ich zum BWL-Studium an die Uni Köln gekommen.

Eine Idee damals war, einmal Olympische Spiele zu organisieren. Das ist eine komplexe logistische Aufgabe, gleichzeitig aber emotional, kommunikativ und international. Die Spiele 2016 waren mein Ziel, denn damals musste man für so etwas alt sein. Im Zweifel alt und weiß, aber vor allem alt (lacht). 2016 würde ich 48 sein, das könnte doch passen, dachte ich damals. Aber was mich eigentlich interessiert hat, war die kommunikative und internationale Aufgabe. Also habe ich BWL mit Schwerpunkt Marketing und Organisation gewählt.
 

Haben Sie nach dem Abschluss direkt einen Job im Bereich Menschenrechte gesucht?

Nein, ich habe erstmal Erfahrungen und Kenntnisse bei einer großen Kommunikationsagentur in Hamburg und in einem Thinktank in Basel gesammelt. 2004 wurde ich damit dann bei Amnesty Deutschland Kampagnen- und Kommunikationsdirektor. Da kamen meine Sozialisierung, mein Studium und meine Arbeitserfahrung zusammen. 2006 wurde ich an die Zentrale in London ausgeliehen. Mit meiner Erfahrung aus dem Marketing durfte ich dort die globale Markenentwicklung von Amnesty mitgestalten. Jetzt bin ich seit 19 Jahren dabei.
 

Ursprünglich setzte sich Amnesty für zu Unrecht Inhaftierte ein. Seither sind viele weitere Menschenrechtsthemen hinzugekommen. Ist diese Palette manchmal zu breit gefächert?

Der Einsatz für zu Unrecht inhaftierte Menschen führt schnell zu weiteren Menschenrechtsverletzungen, wie Folter. Das ursprüngliche Ziel, sich mit langem Atem erfolgreich für die Freilassung dieser Menschen einzusetzen, war davon gefährdet, dass diese oft schwerster Folter ausgesetzt waren. Deshalb richtete sich die erste große Kampagne von Amnesty gegen die Folter, was dazu führte, dass die Vereinten Nationen 1984 die Anti-Folter Konvention verabschiedeten. Dass Amnesty 1977 den Friedensnobelpreis erhalten hatte, half sicherlich. Zeitgleich kam die Arbeit gegen die Todesstrafe und anderes dazu. Ich finde es also konsequent, dass Amnesty sich als Menschenrechtsbewegung allen Menschenrechten verschrieben hat.
 

Ist es seither global besser oder schlechter um die Menschenrechte bestellt?

Vielen Menschen genießen heute Menschenrechte, die ihren Eltern verwehrt wurden. Millionen Mädchen haben Zugang zu Bildung, werden nicht zwangsverheiratet oder können über große Teile ihres Lebens selbst bestimmen. Die Abschaffung der Todesstrafe in über zwei Dritteln der Staaten ist eine Erfolgsgeschichte. Wir haben internationale Völkerrechtsnormen, die Staaten in die Verantwortung nehmen. Wer Menschenrechtsverletzungen begeht, kann heute nicht mehr davon ausgehen, nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden.

In der Globalisierung ist eine Frage, welchen Stellenwert die Einhaltung der Menschenrechte etwa in den internationalen Handelsbeziehungen einnimmt. Dort, wo man sie zu einem festen Teil von Austausch und Kooperation gemacht hat, sieht man oft Verbesserungen. Wo dies nicht der Fall ist, verkommt »Wandel durch Handel« zu »Handel ohne Wandel«.
 

Besonders Deutschland wird ja viel gescholten, in seinen Wirtschaftsbeziehungen zu autoritären Staaten zu naiv gewesen zu sein. Was muss sich ändern?

In Anbetracht des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine täte es gut, innezuhalten. Autoritäre politische Akteure und Regime wollen zunehmen das Rad der Zeit zurückdrehen und stellen Menschenrechte – und das Gleichheitsprinzip ihrer universellen Geltung – infrage. Gleichzeitig dominieren in einer angespannten Weltlage und der Rohstoff- und Klimakrise kurzfristige Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen gegenüber rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Grundsätzen. Das gilt leider zu oft auch für die deutsche Regierung. Damit untergräbt sie den Stellenwert der Menschenrechte. China, Russland oder Indien schauen sehr genau hin, wie ernst wir Verpflichtungen selbst nehmen.
 

Zu den Menschenrechtsverletzungen im Vorfeld der Fußball-WM in Katar hat sich Deutschland klar positioniert. Reicht das?

Wir haben eine wichtige Debatte über Menschenrechte und Ausbeutung im Sport geführt. Wir führen aber noch keine Debatte darüber, dass die gleichen Wanderarbeiter die Flüssiggasterminals in Katar bauen, mit denen wir unsere Energieversorgung sichern wollen. Wir müssen uns fragen, was unser Selbstverständnis in globalen wirtschaftlichen Beziehungen ist. Es reicht nicht, sich im Grundgesetz zu Menschenrechten zu bekennen. Sie müssen auch Leitlinie unseres Handelns sein. Nur dann können wir ihre Einhaltung auch von unseren Partnern einfordern. Mit dem neuen Lieferkettengesetz verpflichten wir Firmen zur Einhaltung der Menschenrechte, wie kann die Bundesregierung sie bei den Gaslieferungen dann einfach außer Acht lassen? Wir dürfen in keinem Fall mit zweierlei Maß messen.
 

Passiert das heute noch zu häufig?

Ja. Ein eklatantes Beispiel sind die Menschenrechtsverletzungen gegenüber Schutzsuchenden an den EU-Außengrenzen. Aber auch, wie wir Verstöße von Verbündeten benennen. Vor einigen Jahren trennten die USA an der Grenze zu Mexiko Kleinstkinder von ihren Familien und sperrten sie in Käfige. Es gibt immer noch Kinder, die noch nicht wieder bei ihren Familien sind. Das wurde hierzulande sehr wenig diskutiert. Es wird sehr unterschiedlich mit Menschenrechtsverletzungen umgegangen – je nachdem, wer sie begeht.
 

Was entgegnen Sie Vorwürfen aus einigen Ländern, die Menschenrechte seien ein kulturimperialistisches Instrument?

Die Verankerung der Idee von universellen, unveräußerlichen Menschenrechten im Völkerrecht 1948 war kein europäisches, sondern ein internationales Projekt. Es baute auf verschiedenen Ideen zu Menschen und Menschlichkeit auf, die nicht allein in der europäischen Aufklärung fußen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist ja gerade eine Reaktion auf die europäischen Gräuel gewesen, die im Zweiten Weltkrieg begangen wurden.

Wir sehen heute Staaten oder gesellschaftliche Akteure innerhalb von Staaten, die das Argument des Kulturimperialismus missbrauchen, um Teilen der Bevölkerung deren Menschenrechte abzusprechen. Wenn in China argumentiert wird, die Menschenrechte seien ein westliches Konstrukt, dann dient das vor allem diesem Ziel. Deshalb erweist man den Menschenrechten auch einen Bärendienst, wenn man sie als sogenannte ›westliche Werte‹ bezeichnet. Das ist Wasser auf die Mühlen derjenigen, die die Menschenrechte auf diese Weise diskreditieren wollen.

Richtiger wäre sich ehrlich und demütig einzugestehen: Europäer trugen über lange Zeit die Idee der Menschenrechte zwar mit Inbrunst vor, betrieben aber Sklaverei und Kolonialismus. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg haben Europa und Nordamerika vielerorts eine problematische Menschenrechtsagenda verfolgt – etwa bei Rüstungsexporten.
 

Was glauben Sie: Wird es in zwanzig Jahren besser oder schlechter um die Menschenrechte gestellt sein als heute?

Die Frage ist doch: Was müssen wir tun? Wir haben es selbst in der Hand. Seid al-Hussein, der frühere Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, hat in Anlehnung an die internationale Bankenkrise mal gesagt, die Menschenrechte seien im Stresstest. Und wir sind diejenigen, die diesen Stresstest bestehen müssen. Viele Staaten haben ein Interesse an der Stärke des Völkerrechts und einer stabilen internationalen Ordnung. Einige Staaten wollen wieder das Recht des Stärkeren. Wir als Bürger*innen müssen unseren Regierungen einen klaren Auftrag geben, dass uns Menschenrechte wichtig sind. Und wir müssen unseren Politiker*innen auch zeigen, dass wir wahrnehmen und wertschätzen, wenn sie auf ihrer Einhaltung bestehen.

Selbstkritisch kann man sagen, dass wir die Menschenrechtsbildung vernachlässigt haben. Wer kennt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und das Grundgesetz? Unsere Zukunft wird davon bestimmt, wie wir diese Grundsätze mit Leben füllen – beim Handel mit autokratischen Staaten, beim Umgang mit unseren Verbündeten und vor unserer eigenen Haustür.

 

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