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Mein Impfausweis aus Walvis Bay

Prof. Stephan Michael Schröder, Skandinavistik, über ein Impfdokument mit Geschichte.

Jeder kennt sie, jeder hat sie. Dinge, die unter den vielen Gegenständen, die sich im Laufe der Zeit in der Wohnung oder im Büro angesammelt haben, einen besonderen Stellenwert haben. Wir verbinden sie mit einer Person, einer Begegnung oder einem besonderen Augenblick im Leben, der uns in Erinnerung bleibt. Wir haben uns umgehört und gefragt, welche Dinge unseren Leserinnen und Lesern besonders wichtig sind, und uns ihre Geschichte erzählen lassen. Professor Dr. Stephan Michael Schröder, Professor für Skandinavistik am Institut für Skandinavistik/Fennistik und ab 2022 Prorektor für akademische Karriere und Chancengerechtigkeit, über ein Impfdokument mit Geschichte

Manche Gegenstände begleiten einen buchstäblich ein Leben lang, ob man will oder nicht. Mein Impfausweis wurde in Walvis Bay kurz nach meiner Geburt von dem Hafengesundheitsoffizier ausgestellt. Auch wenn er in Größe, Farbe und in seiner Dreisprachigkeit an ein heutiges WHO-Impfbuch erinnern mag, liegen doch Abgründe zwischen dem Apartheidregime der damaligen Republik Südafrika und der mit einem idealistischen Auftrag nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Weltgesundheitsorganisation.

Da der Impfausweis nicht deutschsprachig war und Englisch, Französisch oder Afrikaans offensichtlich eine zu hohe sprachliche Hürde für Ärzte und Gesundheitsämter in Deutschland darstellte, wurde er nach der Übersiedlung meiner Familie in die Bundesrepublik durch ein deutsches Impfbuch ergänzt. Ich reiste nie in exotische Erdteile, wo ich meine Impfungen dokumentieren musste. Ein WHO-Impfbuch ließ ich mir nie ausstellen. Irgendwann verschwanden dann südafrikanischer Impfausweis wie deutsches Impfbuch in einer Schachtel hinten im Schrank. Hier fristeten sie mit anderen biographischen Erinnerungsprothesen wie alten Studienbüchern, abgelaufenen Pässen oder einem US-amerikanischen Führerschein ein weitgehend vergessenes Dasein.

Dann kam die Corona-Pandemie. Urplötzlich erhielten die verschämten Impfpapiere eine ungeahnte Bedeutung: Waren sie jahrzehntelang hauptsächlich ein Nachweis gewesen, dass Eltern brav den Impfverpflichtungen gegenüber ihrem Nachwuchs nachgekommen waren, wurden sie plötzlich zu international vorzuzeigenden Ausweispapieren, die man bei sich zu führen hat. Der umgangssprachlich verwendete Begriff »Impfpass« war nun wörtlich zu verstehen, entschied der Impfnachweis doch potentiell über Zugang oder Ausschluss, über Teilhabe oder Zurückweisung. Grenzenlos war unsere Prä-Corona-Welt nie gewesen, aber für uns Privilegierte in Europa konnte sie sich manchmal so anfühlen. Jetzt wurde unsere Welt wieder eine Welt der Grenzen und Begrenzungen: der Grenzziehungen, Grenzkontrollen, Grenzwerte.

Meine Covid-19-Impfungen wurden zwar noch analog im Impfpass dokumentiert, aber die Digitalisierung des Impfnachweises in Form einer App (die bezeichnenderweise CovPass heißt) erspart es mir glücklicherweise, zukünftig das Relikt eines rassistischen Staates vorzeigen zu müssen. Einerseits. Andererseits vermisse ich die Materialität der Papierdokumente, ihre Spuren von Geschichtlichkeit, die verbleichenden handschriftlichen Eintragungen und Stempel von Impfungen gegen Krankheiten wie Gelbfieber. Aber vielleicht passt die Flüchtigkeit des Digitalen auch besser zu so manchen Unwirklichkeitserfahrungen, die in dieser Pandemie zu machen waren.