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Feldforschung am Ballermann

Wo Migration auf  Massentourismus trifft

Seit Juli 2016 fährt ein Kölner Forschungsteam regelmäßig nach Mallorca, um die Sprachpraktiken von Migranten unter den extremen Bedingungen des Massentourismus zu erforschen. Aber kann man am Ballermann wirklich ernsthafte Wissenschaft betreiben? Die Deutsche Forschungsgemeinschaft würdigt jedenfalls den unkonventionellen Zugang der Afrikanistin Anne Storch mit dem Leibniz-Preis 2017. Nun präsentiert das Forschungsteam erste Eindrücke aus den Reisen in einem Katalog und einer Fotoausstellung. 

»Helmut, heute billig, morgen teuer. Hundert Jahre Garantie.« Mit diesem Spruch sprechen Sonnenbrillenverkäufer aus Westafrika am Strand von S’Arenal, dem Partybezirk am Rande von Palma de Mallorca, junge Männer aus Deutschland an. Der Spruch ist so weit verbreitet, dass er schon auf T-Shirts gedruckt zu kaufen ist. 

In den Tourismuszentren Mallorcas begegnet man ihnen zwangsläufig – fliegenden Händlern aus dem Senegal, Nigeria und Mali, die am Strand Sonnenbrillen, Hüte und Uhren verkaufen. Frauen, die Haare flechten oder sich prostituieren. Capoeira- Künstler vor den Cafés und Kneipen. Es gibt kaum eine Ware, Dienstleistung oder Unterhaltung, die für die Billigtouristen aus Europa nicht zu haben wäre. 

Teil des Geschehens und doch außen vor 

Besonders am »Ballermann 6« herrscht der Ausnahmezustand. Es ist ein Ort des Karnevalesken, der Ekstase. Junge und nicht mehr ganz so junge Partytouristen, viele davon aus Deutschland, ziehen kostümiert durch die Straßen, geben sich Alkoholexzessen hin und lassen abends in der Disko auch schon mal die Hüllen fallen. Die Straßenhändler gehören zu dieser lauten bunten Welt, aber zugleich leben sie in einer ganz anderen. Auf der Partymeile und am Stand treten sie als lockere Kumpels der Touristen auf. Sie haben Repertoires in unterschiedlichen Sprachen parat, um ein Verkaufsgespräch anzubändeln. Manchmal erfinden sie auch Reime, die vordergründig die eigene Rolle ironisieren: »Senegal, illegal, scheißegal, Wuppertal« sorgt bei Deutschen für Lacher und bewegt den einen oder anderen vielleicht doch zum Kauf eines Sonnenhuts, eines Plüschäffchens oder eines Trinkbechers in Genitalform. 

Doch dann kommt die Polizei und macht eine Razzia. Die illegalen Händler fliehen und verstecken sich – eine Belustigung der besonderen Art für die Touristen, die dieses Spektakel beobachten. »Das führt die lockere Partyatmosphäre ad absurdum und zeigt, dass am Strand eben nicht alle gleich sind und keine ungezwungene Begegnung auf Augenhöhe stattfindet«, sagt Anne Storch vom Institut für Afrikanistik der Uni Köln. »Die einen haben Papiere, die anderen nicht, die einen haben ein Rückflugticket, die anderen nicht.« 

Ein glücklicher Zufall 

Wie erwerben Migranten unter solch extremen Bedingungen wie dem Massentourismus die sprachlichen Fähigkeiten, die sie brauchen, um Geld zu verdienen? Diese Frage stand am Anfang eines Forschungsprojekts, das die Afrikanisten Anne Storch, Angelika Mietzner und Nico Nassenstein, die Historikerin Nina Schneider vom Global South Studies Center (GSSC) und die Ägyptologiestudentin Janine Traber seit Juni 2016 immer wieder an den Ballermann zurückführt. 

Alles fing durch einen Zufall an. Als Anne Storch und Nico Nassenstein im Juni 2016 auf dem Rückweg vom Sociolinguistics Symposium in der spanischen Stadt Murcia waren, mussten sie einen längeren Zwischenstopp auf Mallorca einlegen. Um sich die Zeit bis zu ihrem Anschlussflug zu vertreiben, fuhren sie an den Ballermann. Ihnen war sofort klar, dass hier etwas Außerordentliches passierte. Massentourismus trifft auf illegale Migration – hier war ein prägendes Merkmal der Globalisierung zu beobachten. Diese Realität widersprach in jeglicher Hinsicht der wohlgeordneten akademischen Art, in der linguistische Probleme bei der Konferenz in Murcia diskutiert worden waren. Doch gerade das faszinierte die Wissenschaftler. »Vorstellungen vom ›Globalen Süden‹ und ›Globalen Norden‹ werden hier regelmäßig über den Haufen geworfen«, sagt Nina Schneider vom GSSC. »Wir werden ständig gezwungen, unsere eigenen Kategorien neu zu überdenken.« 

Kulturell geprägte Bilder, Texte und Diskurse bestimmen das Bild, das wir uns von Orten machen. In Deutschland weckt »der Ballermann « bei fast jedem irgendeine Assoziation. Doch was wissen wir wirklich über diesen Ort, der für manche ein Sehnsuchtsdomizil, für andere eine peinliche Absurdität ist? Im Laufe des Forschungsprojekts haben sich auch für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer neue Fragen ergeben. Die eigenen Praktiken und Konzepte – sogar die eigene Rolle als Experten – ständig infrage stellen zu müssen, war dabei eine sehr wichtige Erfahrung. Traditionelle linguistische Forschung ist am Ballermann kaum möglich, da sich die Sprachen vermischen und das Konzept der Mehrsprachigkeit eine ganz neue Bedeutung erhält. Gleichzeitig erfahren die Kölner viel über die Lebensentwürfe, den Alltag und die Perspektiven der zumeist illegalen Migranten. Teilnehmende Beobachtungen und Interviews ermöglichen dabei eine echte Grundlagenforschung, meint Nina Schneider. 

Neue Perspektiven 

Festus Badaseraye kam vor fast dreißig Jahren über Umwege aus Nigeria nach Mallorca. Er arbeitete auf dem Bau, irgendwann wurde er Taxifahrer. Fünf Jahre wollte er bleiben, länger nicht. Genug Geld verdienen, um sich zuhause eine Existenz aufzubauen. Doch dann stieg eines Tages eine Mallorquinerin zu ihm ins Taxi. Es war Liebe auf den ersten Blick, sagt er. Heute sind sie immer noch verheiratet und haben drei Söhne. Der große, lebhafte Mann ist mittlerweile Ende vierzig und will nicht mehr zurück nach Afrika. Doch trotz seiner gesicherten Existenz hat er den Blick für Not und Ungerechtigkeit nicht verloren. Er möchte heute das Geld, das er in Europa verdienen kann, in den Bau einer Mädchenschule in Nigeria stecken. Die Migranten haben bestimmte Vorstellungen von Europa im Kopf, auch Stereotypen der Menschen, die dort leben. Und wenn sie lange genug in Europa gelebt haben, verändert sich oft auch der Blick auf ihr Herkunftsland. Festus Badaserye besitzt mittlerweile einen spanischen Pass und genießt die Vorteile, die die Bürgerschaft eines EU-Landes mit sich bringt. Aber Freiheit, so denkt er heute, ist auch in Nigeria zu finden: Dort kann man mit wenig Geld Baumaterialien kaufen. Dort ist vieles für ihn möglich, was in Europa nicht möglich wäre. 

Eine harte Realität

Die meisten Migranten aus Westafrika wollen wie Festus Badaseraye maximal fünf Jahre bleiben, um genug Geld für eine eigene Existenz zusammenzusparen. Aber Pläne ändern sich. Die Belastung ist jedenfalls groß: die Dauerbeschallung, die Menschenmassen, die Gerüche. Hinzu kommt die erzwungene Lockerheit, die Performance, mit der sie tagaus, tagein ihre Kundschaft ansprechen müssen. Am Ende des Tages – und vor allem am Ende der Saison, die mit dem Oktoberfest endet – sind die Menschen erschöpft. In Son Gotleu, einem alten Arbeiterviertel von Palma de Mallorca, in dem heute viele Migranten leben, herrscht abends Stille.

Das Forschungsprojekt beleuchtet viele Schattenseiten der Globalisierung. Gleichzeitig zeigt es die Lebensrealitäten der Menschen. Angelika Mietzner ist daher überrascht, dass das Projekt in weiten Teilen der akademischen Welt auf Ablehnung stößt, als unseriös abgetan wird. »Es heißt doch immer, Forschung solle nah dran sein am Menschen. Näher geht es nun wirklich nicht.« 


Fotoausstellung: 

Im Rahmen der Konferenz »The Global South on the Move« am Global South Studies Center ist vom 7. bis 9. Juni 2017 im Neuen Seminargebäude der Universität zu Köln die Fotoausstellung »Normaliminalities« zu sehen. Erste Forschungsergebnisse werden in einem Ausstellungskatalog gezeigt.

Finanzierung: 

Das Global South Studies Center übernahm die Anschubfinanzierung für das Projekt. Der Leibniz-Preis 2017 für Prof. Dr. Anne Storch ermöglicht nun die langfristige Finanzierung. Promovierende und Studierende haben in diesem und anderen Projekten die Möglichkeit, aktiv an der Forschung teilzunehmen.