Die Schlacht bei Waterloo war eine der blutigsten ihrer Zeit. Zweihundert Jahre nach Napoleons finaler Niederlage spielen Reenactment-Darsteller das historische Ereignis vor einem Publikum nach – auf dem originalen Schlachtfeld und so authentisch wie möglich. Ist das nur kommerzielle Unterhaltung oder schon Geschichtsvermittlung? Studierende des Historischen Instituts haben vor Ort zur geschichtskulturellen Bedeutung dieses Events geforscht.
Vor einem Jahr wäre die Kölner Geschichtsstudentin Freya Elvert um ein Haar Soldatin geworden. Verwundert entdeckt sie an jenem kühlen Junimorgen auf dem Boden ihres Trinkbechers eine Münze. Zusammen mit ihrer Kommilitonin Alina Finke sitzt sie am Frühstückstisch im Heereslager der King’s German Legion in Waterloo. Sie solle sich das Geldstück genauer anschauen, fordert ein Soldat sie lächelnd auf. Kaum hält sie die Münze in ihrer Hand, lachen auch die anderen. Die Studentin hatte symbolisch ihren Sold angenommen und war somit eigentlich Teil der Kompanie. Eigentlich. Denn die Soldaten der King’s German Legion kämpfen nur in ihrer Freizeit. Ihre Gewehre sind zwar laut, verletzen aber niemanden. Dafür sehen sie, genau wie die Uniformen, täuschend echt aus.
Wer die Legion über die Felder ziehen sieht, fühlt sich wie auf eine Zeitreise in die Ära Napoleons versetzt. In der King’s German Legion kommen Frauen und Männer zusammen, um die Befreiungskriege gegen die französischen Besatzer lebendig werden zu lassen. In sogenannten Reenactments stellen diese und etliche andere Gruppen die historischen Schlachten auch vor Zuschauern nach.
Vierzehn Studierende des Historischen Instituts haben untersucht, wie sich Menschen auf solchen Veranstaltungen mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Wie weit gehen sie, wenn sie Gewalt darstellen? Wie wird mit Geschichte Geld gemacht? Und spielt nationale Identität beim Nachspielen einer historischen Schlacht noch eine Rolle? Auf einer Exkursion suchten sie Antworten.
Vermutlich hätte sich dafür kaum ein Ereignis besser geeignet als die Gedenkfeier zur Schlacht bei Waterloo. Die Schlacht, in der Napoleon endgültig besiegt wurde. Die Schlacht, die zu den berühmtesten der europäischen Geschichte zählt. Die Schlacht, um die sich noch heute etliche Legenden ranken. Die Schlacht, in der zehntausende Soldaten grausam ums Leben kamen. Die Schlacht, die sich heute als Event vermarkten lässt.
40 Gigabyte Videosequenten statt nur Sekundärliteratur
Ein Aufgebot von 5000 Statistinnen und Statisten, 300 Pferden sowie 100 Artilleriegeschützen kam zwei Tage lang auf dem historischen Schlachtfeld zusammen. Aber nicht nur die eigentliche Schlacht sollte so authentisch wie möglich wirken: Abends im Feldlager kochen die Darsteller an Lagerfeuern kaum genießbare Malzeiten, einige lassen sogar ihre künstliche Wunden versorgen. Alles soll so sein, wie damals. Etwa zur gleichen Zeit sitzen Jochen Pahl und Christoph Wilfert vom Historischen Institut im wenige Kilometer entfernten Brüssel vor ihrem Laptop. Sie klicken sich durch topografische Karten von Waterloo, studieren die historischen Truppenbewegungen und diskutieren darüber, welche taktischen Fehler Napoleon gemacht hat. „Eigentlich sind wir weit davon entfernt, militärhistorisch interessiert zu sein“, sagt Pahl. „Trotzdem wollten wir herausfinden, was wir während des Reenactments genau zu sehen bekommen haben.“
Mit der Exkursion nach Waterloo zeigen die beiden Lehrkräfte der Geschichtsdidaktik ihren Studierenden, wie sich Geschichtskultur fernab von Bibliotheken erforschen lässt. Das Seminarkonzept sieht vor, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Gruppen eigene kleine Forschungsprojekte planen, durchführen und reflektieren. Die Idee dahinter: Wenn Studierende lernen, wie Wissen zustande kommt, können sie später viel bewusster mit Forschungsergebnissen umgehen. „Die Studierenden haben auf jeden Fall gelernt, wie schwierig es sein kann, Geschichtskultur mit wissenschaftlichen Methoden empirisch zu erforschen“, sagt Wilfert. Während die meisten seiner Kommilitonen nur über ihrer Literatur für anstehende Hausarbeiten brüten, wertet Lehramtsstudent Tobias Görlich zusätzlich fast 40 Gigabyte Videosequenzen aus.
In einem Teilprojekt der Waterloo-Exkursion hat seine Gruppe die Darstellung der drei Feldherren Napoleon, Wellington und Blücher während des Reenactments untersucht. Immerhin gelten diese überall als die Stars der Veranstaltung: Das Dreigespann prägte Plakate und Internetauftritt zur Veranstaltung. Den französischen General sah man stets in der Mitte. Anders als die meisten Darsteller, die das Reenactment als Freizeitbeschäftigung sehen, haben diese drei Darsteller es zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Ausgerüstet mit einer Kamera und Beobachtungsbögen hielten die Studierenden deshalb während der inszenierten Schlacht Ausschau nach den Hauptprotagonisten.
„Wir haben herausgefunden, dass die historischen Persönlichkeiten nicht so sehr im Fokus des Geschehens stehen, wie es zum Beispiel bei Spielfilmen der Fall ist“, sagt Görlich. Mit anderen Worten: Die meiste Zeit blieben Napoleon und seine beiden Kontrahenten auf dem Schlachtfeld unsichtbar.
„Episch, laut und farbenfroh“
Bei vielen Reenactment-Veranstaltungen gibt es zwar ein Publikum, aber keine etablierte Dramaturgie. Anders als eine Theateraufführung kommen sie auch ohne die Öffentlichkeit aus. „Reenactments sind in erster Linie für diejenigen gemacht, die als Darsteller in die Vergangenheit eintauchen wollen“, betont Wilfert. Deshalb habe es bei der Waterloo-Gedenkfeier Sprecher gegeben, die den Schlachtverlauf live kommentierten. „Ohne die Sprecher wäre das Publikum völlig verloren gewesen“, fügt sein Kollege Pahl hinzu.
Die Schlachtenrekonstruktion hat immerhin zweieinhalb Stunden pro Veranstaltungstag gedauert. Zweieinhalb Stunden, in denen sich uniformierte Einheiten über das Schlachtfeld bewegen – ohne detailliertes Drehbuch und ohne Probelauf, dafür aber mit militärischem Drill. Nicht alle Zuschauer dürften sich eingehend für taktische Details interessiert haben.
Die Tatsache, dass die Veranstaltung mehr Menschen angelockt hat als ein großes Popkonzert, liegt unter anderem an einer erfolgreichen Vermarktung. Der Veranstalter hat ein Event versprochen, das „nicht nur gesellig und zugänglich, sondern vor allem episch, laut und sehr farbenfroh“ sein sollte. Bei diesen Worten, die aus der Werbung für ein Musical stammen könnten, gerät leicht in Vergessenheit, dass der Veranstaltungsort einst ein blutgetränktes Schlachtfeld war. Die Darstellung von Gewalt, Tod und Leid war deshalb auch ein weiteres Thema, dem die Studierenden nachgegangen sind. Zumindest an der Oberfläche wurde die dunkle Realität während der Veranstaltung thematisiert, als der Sprecher vor dem ersten Schuss der Opfer gedachte.
IN DIE DENKWEISE DER DARSTELLER EINTAUCHEN
Um herauszufinden, wie die Darstellerinnen und Darsteller mit dem Thema Gewalt umgehen, wollten die Studentinnen Alina Finke und Freya Elvert so nah wie möglich an sie herankommen. „Die Schlachtnachstellung war gar nicht so interessant. Mir taten die Leute fast schon etwas leid“, erinnert sich Elvert. Die Heereslager seien das eigentlich Spannende gewesen. Nur dort konnten die beiden angehenden Historikerinnen sich mit Hilfe von Fragebögen und leitfadengestützter Interviews der Denkweise der Darsteller annähern. „Die haben zunächst einmal etwas Zeit gebraucht, um zu verstehen, was wir genau von Ihnen wollen. Nicht selten werden sie nämlich in die Ecke der Gewaltverherrlichung gestellt“, fügt ihre Kommilitonin hinzu.
Umso wichtiger war es den Studierenden, sich ganz unvoreingenommen mit dieser spezifischen Form der Geschichtskultur auseinanderzusetzen. Die Forschungsergebnisse der studentischen Projekte werden demnächst im Rahmen einer Online-Publikation veröffentlicht. Für die meisten war es das erste Mal, dass sie auch über das Seminar hinaus an einem Forschungsprojekt arbeiten. Und da sie ihren symbolischen Sold angenommen hatte, war es zumindest für Freya Elvert auch das erste Mal, dass sie – ausgerüstet mit Muskete und historischer Uniform – für einen kurzen Moment selbst in die Rolle einer Soldatin schlüpfen konnte.