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Sterben die Innenstädte wirklich aus?

Es antwortet Professor Dr. Werner Reinartz vom Lehrstuhl für Handel und Kundenmanagement

Es antwortet Professor Dr. Werner Reinartz vom Lehrstuhl für Handel und Kundenmanagement der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. 


Vom gemütlichen Flanieren ohne Ziel über die Suche nach einem speziellen Produkt oder der umfangreichen Shoppingtour am Samstagnachmittag – Innenstädte sind Plätze der Begegnung und des Einzelhandels. Beschäftigt man sich aber heutzutage mit den deutschen Innenstädten, so kommt man um Begriffe wie diese nicht herum: Verödung, Leerstand, Insolvenzen und Revitalisierung. Die Einzelhandelslandschaft in deutschen Innenstädten sieht sich nicht zuletzt seit COVID-19 einem Beben an disruptiven Veränderungen ausgesetzt. Im Jahr 2023 machte Galeria Karstadt Kaufhof mit der Schließung von rund einem Drittel seiner Filialen Schlagzeilen. Und damit ist die traditionsreiche Warenhauskette keinesfalls allein. Schaut man sich nur den Beginn des Jahres 2024 an, so sind zahlreiche weitere namhafte Einzelhandelsketten wie der Modekonzern Esprit, der Reiseveranstalter FTI oder die luxuriösen Kaufhäuser des Westens (KaDeWe) zu finanziellen Umstrukturierungen gezwungen. 

Die Tendenz der Einzelhandelsentwicklung in deutschen Innenstädten scheint eindeutig. Seit der Digitalisierung verzeichnet der Online- und Versandhandel einen Umsatzboom, die Umsätze des stationären Handels sinken jedoch. Insbesondere während COVID-19 verlagerte sich das Konsumverhalten noch stärker zu den Onlinekanälen etablierter Anbieter. Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie machten das Shoppen vor Ort unattraktiver. Die durch internationale Krisen drastisch gestiegenen Energiepreise und der Einbruch von Lieferketten verstärkten den Druck in den Folgejahren. Bis heute haben die Einzelhändler zusätzlich mit einer gedrückten Konsumstimmung zu kämpfen, die durch die hohe Inflation ausgelöst wurde. 

Gemeinsam mit Vincent Weidenbörner, Thomas Scholdra und Julian Wichmann an meinem Lehrstuhl forsche ich zur Vitalität der deutschen Innenstädte und zur Rolle des Einzelhandels. In einem innovativen Ansatz verbinden wir Open- StreetMap-Geodaten, Passanten-Befragungen und ökonomische Zeitreihendaten zum Einzelhandel. Die Auswertung der Daten bestätigt: Innenstädte verlieren zunehmend die Fähigkeit, die lokale Kaufkraft in der jeweiligen Stadt in Form von Einzelhandelsumsätzen abzuschöpfen. Entsprechend scheint die Einzelhandelslandschaft an Anziehungskraft zu verlieren. Doch wie lässt sich der innerstädtische Einzelhandel resilienter gestalten? Insbesondere eine ausgewogene Mischung aus unabhängigen Händlern und größeren Ketten scheint eine wichtige Rolle für die Vitalität des Einzelhandels zu spielen. Zeichnen sich größere Ketten durch niedrigere Preise und ein größeres Produktportfolio aus, sind unabhängige Händler durch speziellere Produkte und ein persönlicheres Einkaufserlebnis attraktiv. Besonders im Zusammenspiel mit einem lebendigen Innenstadt-Ambiente (zum Beispiel weitere Freizeitangebote und Veranstaltungen) scheinen gerade die unabhängigen Händler die Attraktivität des innerstädtischen Einzelhandels zu verbessern. 

Die Ergebnisse des Forschungsprojekts deuten darauf hin, dass die Zeit der Innenstadt als reine Einkaufsmeile vorbei ist. Vielmehr steht nun das Einkaufserlebnis in einer ansprechenden und individuellen Umgebung im Vordergrund. Programme zur Revitalisierung der Innenstadt sollten deswegen neben der Förderung unterschiedlichster Filial- und Unternehmenskonzepte auch eine Verbesserung des innerstädtischen Ambientes zum Ziel haben. Denn klar ist: So vielfältig die Motive für den Besuch der Innenstadt sind, so breit sollte sich auch die Innenstadt der Zukunft aufstellen.