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Mit Pflanzen gegen Erbkrankheiten

Forschende versuchen, Mechanismus auf menschliche Zellen zu übertragen

Genetische Defekte können zum Absterben von Nervenzellen führen, was die Bewegung und andere vitale Funktionen beeinträchtigt. Forschende der Kölner Exzellenzcluster CECAD für Alternsforschung und CEPLAS für Pflanzenwissenschaften setzen auf die Schutzmechanismen von Pflanzen, um neurodegenerative Krankheiten beim Menschen zu bekämpfen.

Von Susanne Kutter

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Dr. Ernesto Llamas und Professor Dr. David Vilchez hoffen, dass ihre Entdeckung eines Tages zur Therapie von Huntington und ähnlichen Erbkrankheiten eingesetzt werden kann.

Die Huntington-Erkrankung, oft unter den älteren Namen Chorea Huntington oder Veitstanz bekannt, ist selten, aber furchtbar für diejenigen, die an ihr leiden. Die Erbkrankheit ist zudem ein Paradebeispiel für einen sogenannten monogenen Defekt, das in kaum einem Biologie-Schulbuch fehlt. Ein einziges Gen ist von einer Veränderung betroffen – mit verheerendem Effekt: Zu den Symptomen der Krankheit gehören unwillkürlich zuckende Bewegungen und ein charakteristisch tänzelnder Gang, denn im Gehirn der Erkrankten gehen nach und nach Bereiche zugrunde, die für die Steuerung der Muskeln und für psychische und kognitive Funktionen wichtig sind.

Ein weiterer Grund für die traurige Berühmtheit des immer tödlich endenden neurodegenerativen Leidens: Es dient als besonders krasses Beispiel in der Diskussion um das Für und Wider von Gentests. Seit 1993 lässt sich die Veranlagung genetisch nachweisen. Doch bis zum Ausbruch der Symptome dauert es oft Jahrzehnte, in denen die Betroffenen in Angst und Schrecken vor ihrem geistigen und körperlichen Verfall leben – ohne jede Hoffnung auf Heilung.

Forscher*innen des CECAD Exzellenzclusters für Alternsforschung und des CEPLAS Exzellenzclusters für Pflanzenwissenschaften verfolgen einen vielversprechenden Ansatz für die Entwicklung einer Therapie zur Behandlung von Huntington und anderer menschlicher neurodegenerativer Erkrankungen. In ihrer Veröffentlichung im Fachjournal Nature Aging zeigt ein Team um Professor Dr. David Vilchez und Dr. Ernesto Llamas, dass ein aus Pflanzen gewonnenes synthetisches Enzym die für die Erkrankung verantwortliche Verklumpung von Proteinen vermindert. Das Enzym ist nicht im pharmakologischen Sinne eine pflanzliche Substanz, die als Heilmittel verabreicht werden kann. Die Forschenden haben sich vielmehr einen Mechanismus angesehen – und abgeschaut –, mit dem Pflanzen aus eigener Kraft ein ähnliches Phänomen bekämpfen, das auch der Huntington- Krankheit und einer Reihe ähnlicher neurologischer Leiden zugrunde liegt.

In allen lebenden Organismen bestimmen Gene die genaue Art und Weise, wie Proteine produziert werden. Diese sogenannte Exprimierung ist ein komplexer, mehrstufiger Prozess. Verantwortlich für das Absterben der menschlichen Nervenzellen im Gehirn sind bei der Huntington-Erkrankung Verklumpungen – sogenannten Aggregationen – eines bestimmten Proteins namens Huntingtin. Der krankheitsverursachende Gendefekt führt dazu, dass das abgelesene Protein nicht korrekt zu seiner dreidimensionalen Form gefaltet werden kann, verklumpt und sich als tödliche Schicht auf den Nervenzellen ablagert. 

Huntingtin – Der krankheitsverursachende Gendefekt selbst besteht in einer Vervielfachung einer bestimmten Dreierkombination von genetischen Buchstaben, den Basen Cytosin (C), Adenin (A) und Guanin (G). Dieses sogenannte Triplett aus CAG wird beim Ablesen der Gene in die Aminosäure Glutamin (international mit Q abgekürzt) übersetzt. Tritt das Triplett nun mehrfach auf – in schwersten Verlaufsformen der Krankheit bis zu 60 Mal – wird das Ableseprodukt, das Protein Huntingtin, instabil.

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Arabidopsis thaliana: die unscheinbare Ackerschmalwand zeigt ungeahnte Abwehrkräfte gegen Ansammlungen schädlicher Proteine.

Keine Probleme mit verklumpten Proteinen

Huntington gehört zu den sogenannten Polyglutamin- Erkrankungen, einer besonderen Gruppe genetisch bedingter neurologischer Defekte. Doch sie ist nicht die einzige: Bisher wurden neun solcher Erkrankungen beschrieben, die alle noch immer unheilbar sind. Was die beiden Wissenschaftler bemerkenswert fanden: Genau solche Polyglutamin-Strukturen kommen auch bei Pflanzen vor. Doch sie scheinen ihnen nicht zu schaden. Pflanzen exprimieren Hunderte von Proteinen, die Glutamin-Wiederholungen enthalten, es wurden jedoch keine Pathologien aufgrund dieser Faktoren festgestellt.

Pflanzen sind ständigen Herausforderungen durch die Umwelt ausgesetzt, können sich jedoch nicht bewegen, um diesen Bedingungen zu entkommen. Dennoch – oder gerade deshalb – besitzen Pflanzen eine bemerkenswerte Stressresistenz, die ihnen ein langes Leben ermöglicht. Im Gegensatz zu Menschen, die an sogenannten Proteinopathien wie Huntington leiden, die durch die toxische Aggregation von Proteinen verursacht werden, treten bei Pflanzen diese Art von Krankheiten nicht auf.

Das Team, zu dem auch die Pflanzenforscherin Professorin Dr. Alga Zuccaro am CEPLAS gehört, wollte wissen, wie eine Pflanze mit dem für Menschen und Versuchstiere toxischen, mutierten Protein Huntingtin umgeht. Dazu führten die Wissenschaftler*innen es in das beliebte Pflanzenmodell der Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana) ein. Mit Hilfe eines Gentransfers bugsierten sie das zu Aggregation neigende menschliche Huntingtin – genauer, das Q69-Fragment – in die Pflanzenzellen. Mit einem weiteren Trick sorgten sie dafür, dass das Gen nicht nur abgelesen, sondern sogar überexprimiert wurde. Das tödliche Protein war also in großer Menge in den Zellen der heranwachsen Pflänzchen vorhanden. Doch im Gegensatz zu Tiermodellen und von der Krankheit betroffenen Menschen ist die Pflanze in der Lage, die entstehenden Huntingtin- Proteinklumpen aktiv zu entfernten und schädliche Auswirkungen damit zu vermeiden. »Wir waren überrascht, Pflanzen völlig glücklich und gesund zu sehen, obwohl sie genetisch das giftige menschliche Protein produzieren«, sagt CECAD-Forscher Vilchez, der sonst vor allem mit menschlichen Zellkulturen und Fadenwürmern als Modellorganismen arbeitet.

Der nächste Schritt bestand nun darin herauszufinden, wie die Pflanzen es schafften, die toxische Ansammlung des mutierten Huntingtins zu vermeiden. Dabei stellten die Forschenden fest, dass der Schlüssel in den Chloroplasten lag, jenen pflanzenspezifischen Organellen, die die Photosynthese durchführen und aus Licht Energie gewinnen. Llamas meint: »Anders als Menschen haben Pflanzen mit den Chloroplasten einen extrazellulären Organellentyp zur Verfügung, der offenbar eine erweiterte molekulare Maschinerie bereitstellt, um giftige Proteinaggregate loszuwerden.« Das multidisziplinäre Team identifizierte daraufhin das Chloroplasten-Pflanzenenzym Stromal Processing Peptidase (kurz SPP) als entscheidenden Schutzmechanismus, der Pflanzen vor dem problematischen menschlichen Protein schützt.  

Start-up geplant

Anschließend brachte das Team synthetisch hergestelltes SPP (oder das entsprechende Gen dafür) in tierische Modellorganismen ein. Und tatsächlich: Das pflanzliche SPP reduzierte in Modellen der Huntington-Krankheit, beispielsweise in kultivierten menschlichen Zellen und Würmern wie dem Nematoden Caenorhabditis elegans, die Proteinklumpen und Krankheitssymptome. Dr. Hyun Ju Lee, eine Postdoktorandin, die ebenfalls an der Studie beteiligt war, berichtet: »Wir waren erfreut zu beobachten, dass die Exprimierung des pflanzlichen SPPProteins die Motilität, also die Fähigkeit zur aktiven Bewegung, von C. elegans-Würmern verbesserte, die von Huntingtin betroffen waren. Das klappte selbst in späteren Alterungsstadien, in denen die Symptome noch schlimmer sind.« Die in Nature Aging veröffentlichten Ergebnisse öffnen somit die Tür für den Einsatz von SPP als potenzielle Therapie für die bisher unheilbare Huntington-Krankheit – natürlich erst, nachdem weitere klinischen Tests sichergestellt haben, dass eine solche Therapie wirksam und verträglich ist.

Dr. Seda Koyuncu, eine weitere an der Studie beteiligter Postdoktorandin, sagt: »In den vergangene Jahren haben wir gesehen, dass mehrere vielversprechende Ansätze zur Behandlung von Erbkrankheiten wie der Huntington-Krankheit gescheitert sind. Wir sind zuversichtlich, dass unser Ansatz der synthetischen Pflanzenbiologie zu erheblichen Fortschritten auf diesem Gebiet führen wird.« Diese Hoffnung brachte dem Team nun eine Förderung im Rahmen des GO-Bio initial-Programms des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ein. Geplant ist laut Llamas ein Start-up zur Herstellung pflanzlicher Proteine, um sie als potenzielle Therapeutika zur Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen beim Menschen zu testen.

Trendsetter aus Köln

Ob eine mögliche Therapie für Huntington und weitere Polyglutamin-Erkrankungen tatsächlich in den pflanzlichen Chloroplasten steckt, muss sich zeigen. Bisher können die Forschenden auch noch nicht einschätzen, ob und welche Nebenwirkungen das Pflanzenenzym beim Menschen haben könnte. Viele der bisher erprobten Therapien scheiterten genau daran. So brachen in den vorigen zwei Jahren zwei Weltkonzerne (Novartis und Roche) ihre ursprünglich vielversprechenden klinischen Huntington-Studien wegen schwerwiegender Nebenwirkungen wieder ab. Einen Hoffnungsschimmer stellt dieser völlig neue Wirkmechanismus allemal dar.

Ernesto Llamas sieht es so: »Oft vergessen wir, dass einige Pflanzen Tausende von Jahren alt werden können und als Modelle für Alterungsprozesse dringend untersucht werden sollten.« Mit ihrem Schulterschluss zwischen Alternsforschung samt Neurodegeneration und Pflanzenkunde sind die Kölner Forscherinnen und Forscher echte Trendsetter: Inzwischen gebe es eine ganze Reihe ähnlicher Projekte und Forschungsvorhaben überall auf der Welt.
 

Weitere Informationen:
Alternsforschungs-Exzellenzcluster CECAD
Webseite Prof. Dr. David Vilchez
Zum Paper in Nature Aging