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„Literatur wird immer Brücken bauen.“

Interview mit dem slowenischen Autor Aleš Šteger, Kurator der zweiten Poetica

Aleš Šteger, Kurator der zweiten Poetica (Foto: Merle Hettesheimer)

Der Autor, Übersetzer und Verleger Aleš Šteger kuratiert für das Internationale Kolleg Morphomata an der Uni Köln die zweite internationale Poetica. Vom 25. bis zum 30. Januar treffen sich bekannte Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus aller Welt zum Thema „Blue Notes“ in Köln. Das Literaturfestival wird in Kooperation mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung veranstaltet.

Blue Notes: In Sätzen leben, in Versen tanzen – das ist das Motto der zweiten Poetica. Werden die Autoren zu ihren Gedichten tanzen?

Ich denke bei diesem Motto eher an einen erweiterten Raum des Poetischen, den unsere Autoren betreten. Das Gedicht kann – wie auch jeder andere literarische Text – der Musik nicht ausweichen. Ein Teil der Poetica-Autoren blickt auf eine lange Zusammenarbeit mit Künstlern aus ganz unterschiedlichen Musikrichtungen zurück. In Spanien etwa sind einige Gedichte von Bernado Atxaga als Volkslieder aufgenommen worden, Paul Muldoon hat eine eigene Band und Sjón schreibt Texte für Björk. 

Welche Bedeutung hat die Farbe Blau für Ihre Literatur?

Blau ist eine Dichterfarbe, die in verschiedenen Kulturen eine lange Tradition hat. Im angelsächsischen Raum steht sie vor allem für Melancholie und Sehnsucht, im Islam dagegen für die Unendlichkeit, im Deutschen gibt es die blaue Stunde und im Slowenischen ist Blau die Farbe der Weisheit: Wenn ich sage, dass jemand blau ist, dann ist er also weise und nicht betrunken. Wir möchten auf der Poetica allerdings keine Farbenlehre entwickeln. Jeder unserer Autoren hat schließlich einen ganz persönlichen Bezug dazu. Die blaue Farbe lässt sich auch nicht nur mit Literatur, sondern auch mit politischen Entwicklungen in Verbindung bringen. Ich denke da an Blauhelmsoldaten, an das Blau der Europaflagge, aber auch an das Blau des Mittelmeeres, das zu einem Massengrab geworden ist. Über die Farbe Blau können wir auf der Poetica also auch über zeitgenössische Themen diskutieren.

Sie waren bereits letztes Jahr als Autor auf der Poetica. Was hat Sie dazu bewogen, dieses Jahr als Kurator zurück nach Köln zu kommen?

Lyrik steht im öffentlichen Raum meistens im Abseits. Die Poetica bringt da ein kleines Wunder zustande. Ich sehe das Festival als einmalige Chance, um Autoren, die mir persönlich wichtig sind, zu versammeln und in sehr unterschiedlichen Formaten einem breiten Publikum vorzustellen. Gerade der Raum, in dem die Poetica stattfindet, die Stadt Köln und ihre Universität, gibt uns unendliche Möglichkeiten dazu. Wir versuchen außerdem gegen den Wind zu segeln. Der Wind im Literaturgeschäft besteht ja aus schnellen Events. Autoren kommen angeflogen, sind ein paar Stunden in der Stadt und reisen dann direkt weiter zur nächsten Lesung. Hier in Köln bleiben die Autoren eine ganze Woche zusammen. Gerade auf der Poetica steht man auch nicht unter dem gewöhnlichen Zeitdruck. Das ist für literarische Festivals eher die Ausnahme als die Regel und lässt uns ganz neue Themen erarbeiten – im Rahmen des Programms, aber auch darüber hinaus. 


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Die Poetica ist für Schriftsteller nicht nur eine Bühne, sondern auch eine Plattform zum Austausch untereinander. Was passiert hinter den Kulissen?

Ich erinnere mich an sehr viele schöne Momente auf der ersten Poetica. Damals ist zum Beispiel ganz spontan eine kleine Übersetzerwerkstatt entstanden und einige Autoren haben ihr Werk abends im Hotel gegenseitig übersetzt. Solche Momente sind etwas Seltenes und daher sehr kostbar. Hinter der Bühne sprechen Autoren natürlich auch über Dinge, über die man in der Öffentlichkeit nicht spricht – meistens sind das sehr politische Themen. Es geht dann also nicht nur um Literatur, sondern auch darum, was uns genau jetzt in diesem historischen Moment betrifft.

Wenn bei der Poetica Autoren aus neun Ländern zusammenkommen, werden auch kulturelle Grenzen überwunden. Wie kann Literatur dazu beitragen, in einer Zeit, in der überall um uns herum wieder Grenzen errichtet werden und einige Staaten in Europa gezielt eine nationale Kultur fördern wollen? 

Ich bedauere sehr den Rückschritt in eine nationale Denkweise, wie sie derzeit in Europa stattfindet. Das stellt uns Autoren vor die herausfordernde Frage, wie wir damit umgehen und wie wir dagegen kämpfen. Es scheint, als würde die Menschheit aus der Geschichte nicht weiser. Das Selbstverständnis, mit dem wir Erfahrungen zur Seite schieben, ist erschreckend. Wenn ich Staaten sehe, die sich jetzt selbst umzäunen, muss ich daran denken, wie sehr die Menschen in diesen Ländern gejubelt haben, als vor 25 Jahren Mauern und Zäune eingerissen wurden. Das zeigt, wie kurzfristig unsere Erinnerung ist. Leider wird unser Umfeld immer engstirniger und dümmer. Wir aber müssen wach bleiben, um dem nicht zu verfallen.

Wie politisch sollte Literatur sein?

Literatur wird immer Brücken bauen. Sie kann Verständigung in einer viel größeren Komplexität schaffen, als dies in den Medien oder bei Facebook möglich ist. Jede Autorin und jeder Autor auf der Poetica bringt eine ganz bestimmte kulturelle Prägung mit. Es ist extrem spannend, wenn so unterschiedliche Vorstellungen unserer Welt aufeinanderstoßen. Auf der anderen Seite möchte man als Autor aber auch manchmal einfach nur für ein breites Publikum schreiben und nicht als Botschafter eines Landes auftreten. Schriftsteller werden schnell zu symbolischen Repräsentanten von etwas, was sie gar nicht verkörpern wollen.

Manche Ihrer Gedichte erinnern an wissenschaftliche Formeln. Kann Lyrik – ähnlich wie Wissenschaft – dem Erkenntnisgewinn dienen?

Das erinnert mich an eine meiner Lesungen. Damals ist ein Mann aufgestanden und meinte: „Schön und gut, aber das, was Sie machen, ist keine Poesie, sondern Mathematik.“ Darüber musste ich lachen. Man kann Lyrik ohne Erkenntnis überhaupt nicht denken. Lyrik ist eine Art zu denken – ein Art, die nicht kodifiziert ist. Wir müssen uns dafür immer wieder auf die Sprache einlassen. Das stellt für manche Leser ab und zu eine Herausforderung dar. Literatur soll aber schließlich nicht immer ein Butterbrot sein.

Welche Chance bietet ein wissenschaftlicher Rahmen wie das Kolleg Morphomata für die Poetica?

Die Universität ist ein einmaliger Ort, der sich immer wieder neu erfinden und seine Rolle in der Gesellschaft neu definieren muss. Es geht nicht allein darum, dass junge Leute hier etwas lernen. Vielmehr geht es um eine aktive Rolle in der Gesellschaft, auch in aktuellen politischen Fragen. Für mich ist die Universität eine Anhäufung von klugen Köpfen und wachen Augen. Jeder bringt eine andere Perspektive mit. Als Autor kann man oft nur davon träumen, so herausgefordert zu werden.

Für Studierende bieten Sie zusammen mit Ilma Rakusa diese Woche eine literarische Werkstatt an. Kann man an einer Universität literarisches Schreiben lernen?

Ich glaube schon, dass man Schreiben handwerklich erlernen kann. Mindestens genauso wichtig ist es aber, gleichdenkende Autoren zu treffen und ein Netzwerk zu bilden. An einem Tag kann man nicht sehr viel Neues lernen. Man kann aber die Menschen miteinander verknüpfen, man kann ihnen Fragen zu ihren Texten stellen, man kann sie zu Wort kommen lassen. Für mich waren das früher wichtige Erfahrungen. Es geht für Autoren nicht nur ums Schreiben, sondern auch darum, vorzulesen und Texte zu kommentieren. Der persönliche Kontakt ist dabei absolut wichtig und lässt sich nicht durch den Austausch in Sozialen Medien ersetzen. Es ist heute für angehende Schriftsteller eine Herausforderung, sich nicht hinter ihrem Computer zu verstecken, sondern sich mit dem Text und der eigenen Stimme zu Wort zu melden.

Im März erscheint Ihr Roman „Archiv der toten Seelen.“ Er liest sich als Brandrede auf die slowenische Stadt Maribor und Ihrer Bewohner. Hatten Sie noch eine Rechnung offen?

Es ging mir nicht darum, mit bestimmten Personen abzurechnen. Maribor ist eher eine Metapher für viele Städte im Westen und im Osten Europas. Mir war es wichtig, über einen fatalen Umgang mit der Geschichte zu schreiben und darüber, was passiert, wenn man einen Fehler schnell vergisst, um ihn dann wieder neu begehen zu können. Maribor ist eine Stadt, die eine permanente Identitätssuche betreibt. Aber es scheint keine wahre Suche zu sein, sondern eigentlich nur ein karnevaleskes Spiel auf einer Bühne. Hinter dem Vorhang aber dreht sich die Geschichte im Kreis. Dieses Muster sehe ich zurzeit überall in Europa wieder aufkommen.