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Ist der moderne Mensch älter als gedacht?

Der Homo sapiens machte sich vermutlich viel früher auf den Weg nach Europa und in die ganze Welt. Der Sonderforschungsbereich 806 untersucht die historische Route unserer Vorfahren.

Der Homo sapiens, einst Jäger und Sammler, eroberte von Süd- und Ostafrika aus die ganze Welt. Bisher dachten Forscherinnen und Forscher, dass die Erfolgsgeschichte unserer Spezies vor etwa 200.000 Jahren startete. Jetzt gibt es Hinweise, dass er sich schon viel früher auf Wanderschaft machte. Warum und auf welchen Wegen er Afrika verließ, ergründen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Universität zu Köln im Sonderforschungsbereich 806 »Unser Weg nach Europa«, der gerade um weitere vier Jahre verlängert wurde. 

Ein schlanker drahtiger Mann mit dunkler Hautfarbe und hellgrauem Anzug, etwa 1,80 Meter groß, sitzt in Köln in der Straßenbahn: »Keiner der anderen Fahrgäste würde stutzig werden, obwohl unser ausgedachter Fahrgast rund 200.000 Jahre alt ist«, sagt Professor Frank Schäbitz, stellvertretender Sprecher des SFB. So ähnlich sind sich der Urahne des heutigen Menschen in Statur, Bewegung und Mimik mit seinen zeitgenössischen Nachkommen, also uns. 

Denn alle heutigen Menschen stammen vom frühen Homo sapiens ab, dessen Wiege – wie bis vor kurzem angenommen - in Ost- und Südafrika stand. In Äthiopien fanden Forscherinnen und Forscher beispielsweise rund 195.000 Jahre alte Fossilien. Eine der entscheidenden Fragen, mit denen sich ein Kölner Wissenschaftlerteam aus Archäologen, Paläogenetiker, Geologen und Anthropologen seit 2009 befasst, ist: Warum machte Homo sapiens sich auf den Weg nach Europa? Und wann genau? 

Über das wann ist unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gerade eine intensive Debatte im Gange. Forscherinnen und Forscher vom Max-Planck- Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und des Nationalen Instituts für Archäologie und kulturelles Erbe im marokkanischen Rabat sorgten mit ihren jüngsten Ergebnissen für Aufsehen: Danach ist der Homo sapiens 315.000 bis 340.000 Jahre alt. Das Team hatte Fossilienfunde aus den sechziger Jahren mit neuen Untersuchungsmethoden noch einmal zeitlich taxiert und stützt die überraschende zeitliche Einordung mit frischen Ausgrabungen. Die in Jebel Irhoud, ein Ort rund 100 Kilometer nordwestlich von Marrakesch, gefundenen Knochen stammen demnach von fünf verschiedenen Individuen. Sie gehören trotz einiger archaischer Merkmale zweifelsfrei zum Homo sapiens, wenn auch einem sehr frühen Vertreter. 

Muss die Geschichte der Spezies Homo sapiens, seiner Menschwerdung, wie er kulturell gereift ist und sich ausgebreitet hat, damit neu geschrieben werden? »Der Zeitraum von rund 300.000 Jahren klingt realistisch «, sagt Professor Dr. Jürgen Richter, Sprecher des Kölner SFB. Allerdings basieren die Altersergebnisse aus Marokko auf einer einzigen Messmethode, der Lumineszenz, eine unabhängige Kontrolle mit anderer Messtechnik liegt nicht vor. 

»Wir müssen jetzt davon ausgehen, dass der moderne Mensch schon früher in Afrika unterwegs war«, sagt der Geograph Schäbitz. Schäbitz und Richter setzen bei ihren Studien unter anderem auf Sedimentbohrungen im Salzsee Chew Bahir (Stefaniesee) im Süden Äthiopiens. Da der Bohrkern aus 280 Meter Tiefe des Chew Bahir bis etwa 550.000 Jahre zurückreicht, decken sie auch den nun früheren Beginn der menschlichen Mobilität ab. »Wir werden ein spezielles Augenmerk auf die Klima- und Umweltbedingungen vor etwa 300.000 Jahren legen«, sagt Schäbitz. 

Der Chew Bahir im Entstehungsgebiet des Homo sapiens hat es den Kölner Geologen wie Archäologen besonders angetan: Denn durch Jahrhundertausende alte Ablagerungen auf dem Seegrund ist er so etwas wie ein Klimaarchiv. Die Sedimente vom Seegrund sind für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler voller Reichtümer: Sie finden gut erhaltene Reste ehemaliger Lebewesen, winzige Einzeller wie Kieselalgen, Muschelkrebse oder besondere Eigenschaften in der Sedimentzusammensetzung. So haben zum Beispiel die zwischen 0,4 und einem Millimeter großen Muschelkrebse trotz ihrer geringen Größe eine Menge zu erzählen. Ihre etwas bucklige Form kann dem geschulten Auge beispielsweise sagen, dass der Salzgehalt des Wassers zu einer bestimmten Zeit sehr hoch war. Das wiederum weist auf eine regenarme Periode hin. 

Es gibt viele verschiedene Arten von Muschelkrebsen, die ökologische Nischen etwa in flachen oder tiefen Gewässern, als Aas- oder Algenfresser besetzen. Aus allen diesen mühsam zusammen getragenen Informationen erschließen die Kölner Forscherinnen und Forscher ehemalige Klimazustände. Neues Klimawissen wiederum könnte das Rätsel lösen, warum und wann genau der Jäger und Sammler Homo sapiens sich auf Wanderschaft begab. Zur Diskussion stehen theoretisch mehrere Gründe:

  • Das Klima im Herkunftsgebiet änderte sich so dramatisch, dass unsere Vorfahren günstigere klimatische Bedingungen suchen mussten, um zu überleben.
  • Oder es herrschten gute Lebensbedingungen im ostäthiopischen Grabenbruch, sodass die Bevölkerung so stark anwuchs, dass nicht mehr genug Nahrung für alle da war. Deswegen sind junge Vertreter des Homo sapiens ihrem Jagdwild hinterhergewandert.
  • Neugier auf Neues war sicher auch ein Antrieb für den Aufbruch.

Tatsächlich geben die Bohrkerne der Kölner Forscherinnen und Forscher zu bestimmten Zeiten Hinweise auf intensive Klimaveränderungen in rascher Folge: Es gab beispielsweise heftige Schwankungen zwischen großer Trockenheit und extremer Nässe vor etwa 120.000 bis 70.000 Jahren. Vermutlich spielten aber mehrere dieser Gründe eine Rolle, um von Afrika aus die Welt zu besiedeln. Spuren der Wanderungsbewegungen finden sich jedenfalls zuhauf. Die oben erwähnten Funde aus Marokko legen nahe, dass der Homo sapiens durchaus auch den Weg durch die heutige Wüste Sahara gewählt haben könnte. Die war nachweislich zu bestimmten Zeiten nicht so lebensfeindlich wie heute, sondern feuchter, savannenartig und mit Wild zum Jagen.

Eine andere nachweisbare Route ist die über Ägypten, Israel und Jordanien. In Ost-Ägypten und im Jordaniengraben Wadi Sabra fanden Forscherinnen und Forscher Spuren menschlicher Anwesenheit, die etwa 40.000 Jahre alt sind. Auf dem Gebiet des heutigen Israel traf der Homo sapiens höchstwahrscheinlich erstmals vor ca. 100.000 Jahren auf den Neandertaler. Später, vor circa 40.000 Jahren, begegneten sie sich auf dem Balkan erneut.

Das jüngste Aufeinandertreffen ging für den Neandertaler nicht gut aus. Er starb etwas später aus. Die Vermutung der Wissenschaft: Der Homo sapiens war dem Neandertaler überlegen. Der maximal 1,70 Meter große, robuste und kräftige Neandertaler - mit weit ausladender Brust und zumindest die Männer bis zu 90 Kilogramm schwer - sah sich zwar einem schmalen graziler gebauten Homo sapiens gegenüber. Der verfügte aber wohl über bessere Jagd- und Kulturtechniken. Er konstruierte beispielsweise Angeln, fertigte aus Knochen, Schnecken und Steinen Schmuck sowie harte Pfeilspitzen aus Elfenbein und Knochen. Ein weiteres Plus: Er war wohl in der Lage untereinander besser zu kommunizieren. Doch hat die Begegnung zwischen Homo sapiens und Neandertaler genetisch Spuren hinterlassen: Heute hat der moderne Mensch noch bis zu drei bis vier Prozent des Erbgutes des ausgestorbenen Neandertalers in sich. 

Vermutlich wählte der Wanderer Homo sapiens vor 50.000 bis 60.000 Jahren den Weg über das Niltal und/oder das Rote Meer nach Eurasien, weiter über die heutige Türkei und den Balkan nach Mitteleuropa. 

Als der Homo sapiens schließlich vor etwa 40.000 Jahren in Europa ankam, herrschte dort Kaltzeit. Es war ungemütlich. In besonders kalten Phasen war es bis zu zehn Grad Celsius kälter als heute. Aber es gab auch kurze wärmere Abschnitte. Als zum Höhepunkt der letzten Eiszeit vor rund 20.000 Jahren die Gletscher jedoch bis etwa zur Elbe reichten, zog sich die europäische Homo sapiens-Population notgedrungen nach West- und Südeuropa zurück. Erst als sich das Klima vor etwa 14.500 Jahren wieder erwärmte, breitete sich der Homo sapiens wieder weiter nach Norden aus. 

Nicht alle Vertreter des modernen Menschen haben freilich in Süd- und Westeuropa der Kälte getrotzt. Schon vor etwa 50.000 Jahren schafften aus Afrika stammende »Auswanderer« auch den weiten Weg über Asien und letztlich vermutlich mit einfachen Booten/Flößen ins ferne Australien. Erst spät, etwa vor 15.000 Jahren, wanderten sie über Alaska nach Nord- und weiter nach Südamerika.