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Haben Sie Gott im Gehirn gefunden?

Es antwortete Professor Dr. Volker Sturm, bis 2012 Direktor der Klinik für Stereotaxie und Funktionelle Neurochirurgie der Universität zu Köln   

Als mir diese Frage gestellt wurde, bezweifelte ich ihre Ernsthaftigkeit. Kein Neurowissenschaftler und schon gar kein Neurochirurg wird nach der Lokalisation der „Seele“ oder gar Gottes im Gehirn fragen, wohl aber nach der neuronalen Repräsentation religiöser Gefühle in dem Organ, das bei Homo sapiens sapiens über circa 100 Millionen Neuronen verfügt, von denen jedes bis zu 10.000 synaptische Kontakte mit anderen Nervenzellen bildet. 

Die theoretisch denkbaren Verschaltungsmöglichkeiten werden auf 1080 geschätzt, eine unfassbare Zahl. 

Wie alle emotionalen Leistungen ist auch religiöses Empfinden an die Integrität bestimmter Hirnareale gebunden, die mit funktioneller Bildgebung lokalisierbar sind. Fallen diese Areale zum Beispiel bei Demenz aus, wird das religiöse Empfinden wie an- dere Emotionen eingeschränkt oder aufgehoben. Bei bestimmten Formen der Epilepsie können Wesensänderungen mit übersteigertem Interesse an religiösen Themen oder kurzen Zuständen höchster Glückseligkeit auftreten, die religiös missgedeutet werden könnten. Religiöses Empfinden hat gesicherte neurophysiologische Korrelate. 

Dies bedeutet aber keineswegs, dass hierdurch der materialistisch geprägte Atheismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bestätigt wird. Jeder ernsthafte Neurowissenschaftler wird einräumen, dass unsere Kenntnisse des Gehirns, euphemistisch ausgedrückt, sehr rudimentär sind. Das Verständnis einiger Basisfunktionen ermöglicht zwar effektive Therapien bestimmter neurologischer oder psychiatrischer Erkrankungen, beantwortet aber keine der Fragen nach dem Entstehen des Bewusstseins, insbesondere des Selbstbewusstseins, der Emotionen und des freien Willens. Sind diese Phänomene nur Resultate der Summe von Modulen und Schaltkreisen? 

Können Physik und Neurowissenschaften die Existenz Gottes widerlegen? Ich glaube nicht. Der von mir hoch geschätzte Tübinger Theologe Hans Küng kam in Anlehnung an Immanuel Kant und Blaise Pascal zu folgendem Resümee: Gott steht über Zeit und Raum, ist transzendent und immanent und mit der „reinen Vernunft“, also mathematisch und physikalisch nicht beweisbar, aber noch weniger zu widerlegen. Gott, der sich nach meinem christlichen Verständnis in Jesus manifestiert hat, kann nur im vertrauenden Glauben und allenfalls mit der praktischen Vernunft erfahren werden. Wir sollten, wie von Kant gefordert, versuchen, „das Unbegreifliche begreifen zu lernen“.