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Ein verblichener Klebezettel

Prof. Dr. Lisa Rosen, Erziehungswissenschaft, über einen alten Klebezettel.

Seit Einreichen meiner Dissertationsschrift vor ungefähr acht Jahren klebt ein kleiner rosa Klebezettel an meinem Computer. Der Gegensatz zwischen dem materiellen Wert dieses Zettels und der Bedeutung, die er für mich besitzt, ist groß. Beim Aufräumen des Schreibtisches hatte ich ihn sogar schon mal achtlos in den Papierkorb geworfen, und er kann heute nur deswegen seinen Platz am unteren Bildschirmrand behaupten, weil er von einem zusätzlichen Haftstreifen getragen wird.
Die Farbe des einst neon-pinken Klebezettels im handelsüblichen Kleinformat (5,0 x 3,5 cm) ist bereits verblichen und er enthält auf den ersten Blick keine lesbaren Erinnerungsstütze. Damit erfüllt er noch nicht einmal seine ursprüngliche Funktion als haftende Notiz. Bedeutung gewann er, weil er einen der ersten Schreibversuche meiner damals zweijährigen Tochter dokumentiert.

Meine Aufmerksamkeit hatten nicht die durchgehenden Zackenlinien an sich gebunden, sondern ihre präzise Anordnung auf kleinstem Raum. Entstanden ist er unter – auch für Erwachsene – erschwerten Bedingungen. Durch die Höhe des noch nahezu unbenutzten Blocks war es kaum möglich, die Handkante aufzusetzen, sodass die Spitze des Kugelschreibers die einzige Auflagefläche war – eine freischwebende Stiftführung. Ich hakte nach und fragte meine Tochter, ob der Zettel von ihr sei. Sie bekräftigte: »Ich schreibe auch, Mama, wie Du!«

Die anfänglichen Fragen, etwa wie dieses Kind mein überwiegend digitales Schreiben mit ihrer handschriftlichen Tätigkeit zu vergleichen mochte, sind einer Aufforderung gewichen, nämlich es meiner Tochter gleich zu tun. So erinnert mich der Klebezettel daran, die soziale Welt schreibend und unter Einbezug der Perspektiven von Heranwachsenden nachzuvollziehen. Das prägt auch den Forschungszugang, den ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen im Kompetenzfeld »Soziale Ungleichheiten und Interkulturelle Bildung« (SINTER VI) teile – und mit zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern, die sich für inklusive Bildung interessieren und sich vom pädagogischen Alltag der Universitätsschule nicht nur inspirieren, sondern auch irritieren lassen wollen.