zum Inhalt springen

Die Krankheit an der Wurzel packen

DNA- und RNA-Forschung: Neue Entwicklungen und schon heute verfügbare Therapien

Die DNA- und RNA-Forschung ist dabei, die Medikamentenentwicklung zu revolutionieren: Neue Arzneimittel entstehen schneller, günstiger und wirken gegen vormals unheilbare Krankheiten. Doch Schlagworte wie »Gentherapie« stoßen noch auf Vorbehalte oder führen in die Irre. Oft wissen nicht einmal Ärzt*innen, wie weit Nukleinsäure-basierte Therapien seit den 1990ern gekommen sind. Ein Überblick über neue Entwicklungen und schon heute verfügbare Therapien.

Von Oskar Köppen

Wer auf herkömmlichem Weg ein Medikament entwickeln will, muss es ernst meinen: Auf der Suche nach Wirkstoffkandidaten testen Pharmakonzerne Millionen chemischer Substanzen. Am Ende, nach klinischen Studien und Zulassungsverfahren, bleibt ein Arzneimittel übrig. Das alles dauert im Schnitt 12 bis 15 Jahre und kostet zwei Milliarden Euro.

Was wäre, wenn es einen Weg gäbe, diesen Prozess zu beschleunigen? Ihn in kleine, günstige Labore zu verlagern? Bei staatlichen Zulassungen nicht immer wieder bei null anfangen zu müssen? Und dabei sogar Krankheiten, für die es bisher keine Therapie gibt, nicht nur zu lindern, sondern ursächlich anzugehen? Um das zu erreichen, dringen neue Methoden und Wirkstoffe bis in die Zellen vor. Dabei ist zu unterscheiden zwischen RNA-Wirkstoffen, die nicht in das Erbgut eingreifen, und DNA-Therapien, die das Erbgut modifizieren.

Gene gezielt stilllegen

Eine neue Medikamenten-Klasse, die sich einen natürlichen Zellmechanismus zunutze macht, weckt besonders große Hoffnungen: die RNA-Interferenz. In unseren Körperzellen haben RNA-Moleküle eine Hauptaufgabe: Als Boten-RNA (mRNA) tragen sie genetische Informationen von unserer DNA-Erbsubstanz zu unseren Protein-Fabriken. Die dort entstehenden Proteine bestimmen so ziemlich alles, was in unserem Körper vor sich geht: Als Enzyme treiben sie Reaktionen an, als Rezeptoren übermitteln sie Signale, sie verleihen unserem Gewebe Struktur, schützen uns vor Krankheitserregern und halten unseren Stoffwechsel am Laufen. Entsprechend schwerwiegend können sich jedoch Fehler im Erbgut auswirken – sie sind der Grund für viele Krankheiten, die häufig tödlich ausgehen.

Doch RNA ist nicht nur als Bote in unseren Zellen unterwegs: Pflanzen-, Pilzund Tierzellen nutzen kleine RNA-Moleküle (siRNAs), die keine Erbinformation transportieren, sondern im Gegenteil mRNA mit bestimmten Protein-Bauplänen im Gepäck zerstören. Diesen als RNA-Interferenz (RNAi) bekannten Prozess wenden Forscher*innen heute an, um mit künstlicher, in die Zellen eigeschleuster siRNA die Produktion fehlerhafter und krankheitsverursachender Proteine gezielt zu verhindern – also effektiv einzelne Gene stillzulegen. Damit setzen sie einen Schritt früher an als herkömmliche Medikamente und packen Krankheiten an der Wurzel, gegen die vorher niemand etwas ausrichten konnte

RNA- ODER GENTHERAPIE – WAS SIND DIE UNTERSCHIEDE?
Nukleinsäure-basierte Arzneimittel beeinflussen die Protein-Produktion auf DNAund RNA-Ebene. RNA-Therapeutika sind dabei nur vorübergehend aktiv und werden am Ende vollständig abgebaut. Sie interagieren nicht mit der Erbsubstanz, integrieren sich nicht ins Genom, führen zu keinen Mutationen und werden nicht vererbt. Gentherapeutika hingegen greifen über Gentechniken wie die Genom-Editierung in die Zellkern-DNA, also ins Erbgut der Zelle ein, um Fehler zu korrigieren. Genersatztherapien bringen, meist in Viren verpackt, intakte Gene in solche Zellen ein, die dysfunktionale mutierte Gene enthalten und damit »krank« sind. Gentherapien auf Basis der CRISPR/Cas-Methode (der »Genschere«) können hingegen ganz direkt Fehler in der Erbsubstanz der betroffenen Zellen korrigieren.

SiRNA-Medikamente funktionieren nach dem Baukastenprinzip. »Bislang haben wir für jede Krankheit immer ein völlig neues Werkzeug herstellen müssen«, sagt Roman- Ulrich Müller, Nephrologe und Medizinprofessor an der Kölner Universitätsmedizin. »SiRNAs sind nun wie ein Akkuschrauber, bei dem wir nur das Bit austauschen müssen. « Der Weg von einem Medikament zum nächsten ist also nicht mehr so weit, Forscher*innen kennen bereits die Mechanismen und Nebenwirkungen der betreffenden Klasse von Therapeutika und reagieren auf neue Mutationen und Resistenzen, indem sie einfach die betroffene RNA-Sequenz, ihr »Akkuschrauber-Bit«, anpassen. Etwa für die Leber, das Stoffwechsel-Drehkreuz des Körpers, ist dieses modulare Vorgehen schon heute potenziell auf jedes Gen anwendbar und beschleunigt die Wirkstoff- Grundlagenforschung um Jahre.

In einem Jahr zur personalisierten Therapie

RNAi-Therapeutika sind eine von vielen neuen Klassen Nukleinsäure-basierter Arzneimittel, also Wirkstoffe, die auf DNA- und RNA-Ebene wirken. Andere RNA-Typen wie Antisense-Oligonukleotide (ASOs) und Aptamere haben ganz ähnliche Effekte. Und mRNA-Impfstoffe kennen alle, die die COVID-19-Pandemie nicht bereits verdrängt haben. Seit 1998 haben die USA und die EU 22 RNA-Therapeutika zugelassen – 18 davon allein in den letzten acht Jahren.

US-Konzerne wie Alnylam, Ionis, Sarepta und Moderna sowie das deutsche Biontech führen die Entwicklung an. Bereits heute können sie erbliche Blut- und Stoffwechselerkrankungen behandeln. Beispielsweise sollen die siRNA-Wirkstoffe Lumasiran und Nedosiran verhindern, dass Menschen mit der Stoffwechselstörung primäre Hyperoxalurie (Typ 1) Nierensteine ausbilden und ihre Nierenfunktion verlieren – also auf Dialyse angewiesen sind. Givosiran indes lindert die schmerzhaften Episoden, die mit akuter hepatischer Porphyrie, ebenfalls einer Stoffwechselstörung, einhergehen.

Professorin Dr. Michal-Ruth Schweiger und Professor Dr. Roman Müller sehen in den DNA- und RNA-Therapeutika die Zukunft zur Behandlung vieler Krankheiten.

Neue RNA-Medikamente wirken auch gegen bestimmte Formen der amyotrophen Lateralsklerose (ALS). 2014 noch machte die degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems Schlagzeilen, als sich im Zuge der »Ice Bucket Challenge« tausende Menschen mit Eiswasser übergossen und für die Erforschung der Krankheit spendeten. Wann welche Krankheit in den Fokus der Pharmakonzerne rückt, lässt sich nicht vorhersagen. Zunächst werden die Unternehmen weiter an seltenen Erbkrankheiten forschen, »die bis dato kaum adressiert worden sind und für die noch gar keine Therapie existiert«, vermutet Michal-Ruth Schweiger, Humangenetikerin und Professorin an der Universität zu Köln. Es sei absehbar, dass in Zukunft binnen eines guten Jahres eine völlig neue, auf eine Person speziell zugeschnittene Therapie entwickelt werden kann. Dabei seien auch breite Anwendungen realistisch: »Es gibt die Möglichkeit, Volkskrankheiten mit RNA-Medikamenten zu behandeln«, sagt Müller. Biontechs Daten zur Tumorbekämpfung sähen etwa vielversprechend aus und Alnylam führe bereits RNA-Studien gegen Bluthochdruck durch. Auch ein Therapeutikum gegen Cholesterinerhöhung ist bereits am Markt.

Vertrackte Biologie, starre Behörden

Doch bei allem Optimismus gibt es noch einige Hürden, die dem Siegeszug Nukleinsäure- basierter Medikamente im Weg stehen. Die größte auf biologischer Seite ist die Frage der »Drug Delivery«: Wie gelangt das Arzneimittel an die richtigen Stellen im Körper, wie erreicht es alle relevanten Zellen? Wie schafft die therapeutische RNA es beispielsweise von der Tumor-Peripherie ins Zentrum? Was tun, wenn narbiges und verhärtetes Bindegewebe den Zugang blockiert? Oder wenn sich kranke Organe plötzlich anders verhalten als gesunde? Für die Leber ist dieses Problem mittlerweile geklärt: Über bestimmte Modifikationen gelangen therapeutische RNA sicher ans Ziel, sie sind das Schmiermittel für den Akkubohrer. Die Niere verhält sich hingegen störrischer, als viele Forscher*innen hofften. An anderer Stelle, wie im Beispiel des zentralen Nervensystems, kann diese Hürde durch direkte Gabe vor Ort, also über Injektionen in Wirbelkanal und Gehirnwasser, gelöst werden. Somit könnte theoretisch nahezu jede dort ansässige Krankheit behandelt werden, für die das Ziel-Gen bekannt ist.

Das Immunsystem kann ebenfalls Ärger machen und RNA-Therapien abstoßen. Und Medikamente rufen mitunter Off-Target-Effekte hervor, sie erzielen also Wirkung an ungewollten Stellen und können dadurch für den Körper giftig werden. »Das sind zwei große Themen, bei denen es riesige Fortschritte gab und die für viele Anwendungen gelöst sind«, so Müller. Außerdem hätten auch herkömmliche Ansätze diese Probleme: Klassische Tumortherapien etwa attackieren alle Zellen in der Hoffnung, die rasch wachsenden, bösartigen schneller abzutöten als den Rest. Nukleinsäuren indes seien »per se deutlich spezifischer als bisherige chemische Substanzen«, fügt Schweiger hinzu.

Parallel zur Biologie müsse sich auch die Regulatorik bewegen, sind die beiden Mediziner*innen überzeugt. »Staatliche Zulassungsbehörden sind noch auf dem Stand, wie man früher Medikamente entwickelt hat«, so Müller, »sie können noch nicht richtig mit dem Akkuschrauber umgehen. « Das meint: Will ein Pharmaunternehmen lediglich das »Bohrer-Bit« austauschen, muss es einen komplett neuen Zulassungsprozess anstrengen, inklusive erneuter großer klinischer Studien.

CMMC SYMPOSIUM
Vom 18. bis zum 20. September 2023 richtete das Zentrum für Molekulare Medizin Köln das 37. CMMC Symposium in Molecular Medicine (ehemals Ernst-Klenk-Symposium) aus. Unter dem Titel »From Concepts to Clinic: A New Era of Nucleic Acid Therapeutics« kamen Hunderte internationale Ärzt*innen, Molekularbiolog*innen und weitere Naturwissenschaftler*innen nach Köln, um sich über den Stand der pharmazeutischen Forschung an Nukleinsäure-basierten Arzneimitteln und Therapien auszutauschen und gemeinsame Aktivitäten zu planen. Michal-Ruth Schweiger und Roman-Ulrich Müller organisierten das Symposium gemeinsam mit Markus Stoffel von der ETH Zürich.

Forscher*innen wie die niederländische Humangenetikerin Annemieke Aartsma-Rus versuchen darum, »n = 1«-Studien politisch gangbarer zu machen: also Studien, die aus einem einzigen Probanden oder einer einzigen Probandin bestehen. Daraus resultierende Medikamente wären nicht für die Allgemeinheit zugelassen, könnten aber Einzelnen vergleichsweise schnell helfen. Das Boston Children’s Hospital in den USA hat auf diesem Weg bereits zwei ASO-Medikamente kreiert, exakt zugeschnitten auf je eine Patientin.

Skepsis aus der Bevölkerung

Wieso scheinen noch so wenige RNAMedikamente auf dem Zettel zu haben? »Der Fortschritt wird unterschätzt«, meint Schweiger, »bei vielen ist noch nicht angekommen, wie weit wir schon sind.« Entscheidende Erfolge kamen in den letzten zwanzig Jahren aus der Industrie statt aus der akademischen Forschung – für Schweiger ein Anzeichen dafür, dass Gesellschaft und Politik diese Entwicklung verschlafen. Dabei wären gerade jetzt, angesichts der »Delivery«-Hürde, Hochschulen wieder gefragt, um frei von industriellen Zwängen ganz neue Lösungsansätze zu entwickeln. Im Rheinland – in Köln, Bonn, Aachen und Düsseldorf – stünden dafür »fantastische Expert*innen« bereit, so Schweiger. Zusammen mit gut zwanzig regionalen Kolleg*innen sind die Forschenden auf der Suche nach finanzieller Unterstützung, um ihre Ideen zu verwirklichen.

Bei den großen Schritten, die die Naturwissenschaften machen, muss die Gesellschaft erst einmal mitkommen. Viele werden sich noch an die Rückschläge der viralen Genersatztherapie um die Jahrtausendwende erinnern – etwa an den Tod des US-amerikanischen Jugendlichen Jesse Gelsinger nach einer Entzündungsreaktion auf eine Gentherapie zur Behandlung seiner Lebererkrankung. Das kann zu emotionalen Assoziationen führen: ›Gentherapie, Designerbabys, DNA, RNA – und ist die Corona-Impfung eigentlich wirklich sicher…?‹ Schweiger sagt, sie spüre viel Skepsis »von einer ganz breiten Schicht der Bevölkerung. Da hilft als einziges: Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung! « Und auch Müller ist wichtig: »Momentan klingt alles wie ›Gentherapie‹. Man darf nicht alles in einen Topf werfen. «

Spätestens seit der COVID-19-Pandemie ist evident: Auch noch so viele Informationen und Differenzierungen können Misstrauen nicht immer auflösen. Doch das Potential der neuen Therapien im Kampf gegen viele Leiden ist enorm – und schließlich galt einst sogar als umstritten, dass winzige Lebewesen Krankheiten wie Tetanus, Tuberkulose oder Sepsis verursachen. Es bleibt also abzuwarten, dass sich die neuen Behandlungsformen durch unübersehbare Erfolge endgültig in der Breite durchsetzen.