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Der kleine Schubs

Mit Ansätzen aus der Verhaltensökonomie versuchen sich Regierungen an einer modernen Politik 

Stromsparer werden belohnt, Steuerzahler per Brief an ihre Zahlungsmoral erinnert und Kantinenbesucher in der Wahl ihres Nachtischs beeinflusst. Anstatt immer neue Gesetze und Verordnungen zu erlassen, versuchen Regierungen mit kleinen Anreizen – sogenannten Nudges – das Verhalten von Bürgern in eine bestimmte Richtung zu lenken. Kritiker sprechen von Manipulation, Befürworter sehen im Nudging einen neuen politischen Lösungsweg. Wir haben mit dem Verhaltensökonomen Professor Dr. Matthias Sutter darüber gesprochen, was es mit diesem Ansatz auf sich hat. 

In Großbritannien und den USA ist Nudging ja schon länger populär. Nun will auch Kanzlerin Merkel auf diesem Weg die Wirksamkeit von Gesetzesvorhaben erhöhen. Was hat es damit auf sich? 
 

Die Idee von Nudging besteht darin, Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass sie Entscheidungen in eine bestimmte, von vielen Menschen als sinnvoll erachtete Richtung beeinflussen. Die Rahmenbedingungen werden dabei über Anreize gestaltet, nicht über gesetzliche Vorschriften oder Verordnungen. Die Freiheit der Menschen, etwas anderes zu tun, wird also nicht eingeschränkt. Anwendung findet Nudging besonders bei Themen, die als gesellschaftlich sinnvoll betrachtet werden. 

Haben Sie ein Beispiel? 

In Großbritannien wurden Steuerzahlerinnen und Steuerzahler per Brief informiert, dass neun von zehn Bürgern ihre Steuern pünktlich bezahlen. Mit dem Ergebnis, dass die Pünktlichkeit noch weiter anstieg. Der Anreiz bestand darin, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was hier die soziale Norm ist. Hätte man gesagt, dass nur einer von zehn Bürgern seine Steuern pünktlich zahlt, hätte das eher den gegenteiligen Effekt gehabt. Durch das Wachrufen einer sozialen Norm können Sie Verhalten in einer Form beeinflussen, wie Sie es mit einem Gesetz nur mühsam könnten. Sie könnten im Bundestag noch einmal eine Novelle des Steuergesetzbuches durchbringen, mit der Sie statt fünf dann zehn Prozent Verzugszinsen festlegen. Das wird aber nicht viel an dem Verhalten der Menschen ändern. 

Gesetze reichen also nicht mehr aus? 

Nun ja, in Mitteleuropa kommt es nicht so gut an, wenn Regierungen uns mit immer neuen Gesetzen überreglementieren. Es ist bürgerfreundlicher, wenn wir das nicht tun, sondern mit einfachen Nudging-Interventionen Richtungen erwünschen. Man tut gut daran, in der Politik nicht übers Ziel hinauszuschießen. Das ist eine Seite. Die andere ist, dass nur weil etwas durch ein Gesetz festgelegt ist, es noch lange nicht bedeutet, dass die Bürger sich auch zwingend daran halten. Menschen handeln häufig nach einfachen Kosten-Nutzen-Analysen: Befolge ich ein Gesetz, indem ich zum Beispiel einen Parkschein kaufe, hat das zur Folge, dass ich bezahlen muss. Befolge ich das Gesetz nicht, gehe ich das Risiko ein, eine Strafe zahlen zu müssen. Ich kann nun überlegen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit dafür ist. Ein anderes Beispiel ist das Rauchverbot auf öffentlichen Plätzen. Es ist unmöglich, einen Bahnhof so zu kontrollieren, dass wirklich nur an den dafür vorgesehenen Plätzen geraucht wird. Sie können das natürlich gesetzlich festlegen. Aber das wird nicht viel helfen. Sie brauchen vielmehr ein Bewusstsein dafür, dass Rauchen erlaubt ist, aber eben nur in bestimmten Zonen, damit Nichtraucher davon nicht belästigt werden. Man kann nicht alles so festlegen, dass es keine Alternative mehr gibt. Das will auch niemand. Die Bürger würden sich bevormundet fühlen. 

Kritiker sehen ja eher im Nudging eine Bevormundung… 

Ja, das wurde der Bundesregierung vorgeworfen. Ich frage mich allerdings, was mehr Bevormundung ist: Dass es noch mehr Gesetze gibt, die genau festlegen, was man tun darf und was nicht, oder ob man nicht lieber mit sanften und vor allem transparenten Interventionen ein Bewusstsein schafft. 

Die Industrie verwendet schon seit langem vergleichbare Ansätze. So sorgt Apple mit bestimmten Voreinstellungen seiner iPhones dafür, dass Käufer vor allem hauseigene Software verwenden. Steve Jobs ging sogar so weit zu behaupten: „Es ist nicht die Aufgabe des Konsumenten zu wissen, was er will.“ Lernt der Staat hier von der Industrie?

Natürlich kann man Vergleiche zur Industrie ziehen, wenn man das möchte. Ich bin da immer etwas vorsichtig. Sagen wir es mal etwas plakativ: Die gesamte Werbeindustrie ist nichts anders als eine Billionen- Dollar-Nudging-Industrie. Man versucht mit Erkenntnissen aus der Werbeforschung das Verhalten von Konsumenten zu beeinflussen. Nudging auf politischer Ebene darf das aber nicht sein. Das ist vor allem für uns Wissenschaftler ein ganz wichtiger Anspruch. Damit es gesellschaftlich akzeptiert wird, muss Nudging auf politischer Ebene zwei Bedingungen erfüllen: Die Optionen müssen transparent sein und das Verhalten darf nicht dadurch eingeschränkt werden, dass es zu kostspielig oder zeitaufwendig ist, von der einen Option zur anderen zu wechseln. Wenn diese beiden Bedingungen erfüllt sind, dann unterscheidet sich diese Art von öffentlicher verhaltenswissenschaftlicher Einflussnahme sehr deutlich von werblicher Einflussnahme. Um bei Ihrem Beispiel zu bleiben: Wenn ich viele Voreinstellungen gar nicht kenne, dann hat das nichts mit Transparenz zu tun. 

Nudges wirken offenbar nicht immer. Bei der Ampelkennzeichnung von Lebensmitteln kam der Deutsche Bundestag zu dem Schluss, dass es doch sinnvoller sei, die Bürger über eine gesunde Ernährung aufzuklären… 

Das ist ein guter Punkt. Das bringt uns vielleicht zu einer generellen Frage. In vielen Fällen wissen wir immer noch nicht, wie menschliches Verhalten funktioniert, was für Effekte erzielbar sind und mit welchen Mitteln. Das ist ein fließender Prozess, über den wir einfach insgesamt mehr lernen müssen. 

Für welche Themen eignet sich Nudging dann? 

Für Themen, bei denen soziale Vergleichsprozesse oder Gewohnheiten eine Rolle spielen. Menschen greifen zum Beispiel in einer Kantine bevorzugt nach dem, was vorne steht. Es geht darum, Anreize für Themen zu geben, die langfristig Konsequenzen haben: Ernährung, Altersvorsorge, Energieversorgung. In Österreich wird zurzeit darüber diskutiert, ob sich die Energiewende mit Nudges unterstützen lässt. Amerikanische Studien zeigen, dass Verbraucher noch mehr Energie sparen, wenn man ihnen einen Smiley auf die Rechnung druckt. 

Sie wurden vom österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft in den wissenschaftlichen Beirat des Projekts „Motivierender Staat“ berufen. Was werden dort Ihre Aufgaben sein? 

Unsere Aufgabe besteht darin, Themen zu eruieren, die verhaltenswissenschaftliche Anknüpfungspunkte haben. Wir stellen das wissenschaftliche Knowhow zur Verfügung und generieren Ideen, die wir auch aus der Literatur beziehen. 

Woher kommt der Ansatz eigentlich? Nudging wurde ja sicher nicht eigens für Regierungen entwickelt. 

Aus der verhaltensökonomischen Forschung der letzten 30 bis 40 Jahre. Experimentelle Verhaltensökonomen beschäftigen sich damit, was menschliches Verhalten treibt und welche Motive dahinter stehen. Warum sehen manche Dinge so aus, als ob sie unerwartet sind? Und mit welchen Anreizen kann ich Verhalten in die eine oder andere Richtung lenken? Nudging wurde bekannt durch das Buch „Nudge. Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness” von Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein aus dem Jahr 2008. Die Idee war, dass wir mit den Einsichten aus der Verhaltensökonomie ein Instrument an der Hand haben, um in der politischen Tagesagenda etwas zu tun, was politisch akzeptierte Ziele leichter zu erreichen hilft. Ohne „Big Government“ sondern mit „Soft and Lean Government“ und verhaltensökonomischer Evidenz. Nach etwa zehn Jahren hat es angefangen eine Welle zu bilden, die nun auch in Europa mehr und mehr ankommt. 

Wirken Nudges vorwiegend in westlichen Gesellschaften? 

Das kann ich nicht sagen. Was Ihre Frage aber vielleicht impliziert, ist dass nicht jede Intervention, die meinetwegen in England oder Österreich wirkt, zwingend auch in China oder Indien wirken muss. Aber hier stehen wir noch völlig am Anfang unseres Wissens.

Wo wird Nudging denn sonst noch eingesetzt? 

In Großbritannien werden in Firmen unternehmenseigene Ziele mit Nudges verfolgt. Zum Beispiel, wie man Arbeitnehmer dazu motivieren kann, das betriebseigene Fitnesscenter öfter zu nutzen. Was Verhaltensökonomen erforschen, ist auch für Unternehmen spannend. Aber man sollte die Bereiche möglichst trennen. 

Welche Ansätze verfolgt man in Zukunft? Gibt es seitens der Regierungen Strategien? 

Im Moment geht es um den Versuch, eine moderne Art der Politik zu implementieren. Das passiert zurzeit aber noch gar nicht auf großem Niveau, sondern im österreichischen Beispiel anhand von drei, vier Pilotprojekten. Man kann für Deutschland und Österreich noch nicht von einer politischen Strategie oder Vision sprechen. Ich halte das aber auch nicht für notwendig. Wichtiger ist zu schauen, welche Dinge man mit merklichen Kosten-Nutzen-Effekten umsetzen kann und wo man an Grenzen der Akzeptanz stößt. Dabei ist wichtig, die Prozesse transparent zu halten. In Großbritannien gab es anfangs viel Skepsis und Misstrauen in der Bevölkerung. Später hat man dann kommuniziert, was funktioniert hat und was nicht. Ich habe kein Problem damit zu sagen, dass man etwa im Energiebereich oder in der Familienpolitik etwas tun möchte. Denn wenn die Effekte durch das Offenlegen weg wären, wären es keine stabilen Effekte.