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Das Rätsel um Flug MH370

Kölner Wissenschaftler könnten Absturzstelle der verschollenen Malaysia-Airlines-Boeing rekonstruieren

Auf der Insel La Réunion wurde im Juli ein Flugzeugteil angeschwemmt. Es stammt von der im März 2014 verschwundenen Malaysia- Airlines-Maschine. Wissenschaftler könnten damit die Absturzstelle eingrenzen. An dem Trümmerstück kleben womöglich Organismen, die es nur in bestimmten Gebieten der Erde gibt. Doch bislang zeigen sich die Behörden davon unbeeindruckt. 

Selbst wenn alles nach einem gemütlichen Feierabend aussieht, kann es für Wissenschaftler turbulent zugehen: Als der Kölner Paläontologe und Geologe Professor Dr. Hans-Georg Herbig am 30. Juli aus seinem Büro kam, wollte er eigentlich nur in Ruhe im Fernsehen die Tagesthemen schauen. In der Sendung wurde über ein Wrackteil berichtet, das auf der Insel La Réunion gefunden wurde. Sofort wurde es mit der seit März 2014 vermissten Malaysia-Airlines- Maschine in Verbindung gebracht – zu Recht, wie sich später herausstellte. Was Herbig dann sah, konnte er zunächst kaum glauben. Auf der eingespielten Nahaufnahme erkannte er, dass das Flugzeugteil mit Entenmuscheln übersät war.

Dabei handelt es sich um die Gattung Lepas, deren Arten jeweils nur in bestimmten breitengradabhängigen klimatischen Zonen vorkommen. Genau diese Gattung untersucht Herbig mit dem Biologen Dr. Philipp Schiffer seit einigen Jahren in Köln. „Völlig elektrisiert bin ich aufgesprungen und dachte, da muss man doch etwas tun können. Damit muss man doch die Absturzstelle näher identifizieren können“, erinnert sich Herbig.

Noch am gleichen Abend überlegten die beiden Wissenschaftler, wie sie an das Trümmerteil herankommen könnten und schrieben eine E-Mail an die malaysische Fluggesellschaft. Als klar wurde, dass der Fund nach Frankreich geschickt wurde, verfassten sie außerdem ein Schreiben an die französischen Flugunfallermittler und kontaktierten auch die australischen Behörden. Alle Schreiben blieben bislang unbeantwortet. Dabei ist unumstritten, dass die beiden Wissenschaftler einen wichtigen Hinweis im Rätsel um das Schicksal von MH370 liefern könnten.

SUCHAKTION IN EINER DER ABGELEGENSTEN REGIONEN DER WELT 

Am 8. März 2014 um 0:42 Uhr Ortszeit startete der Malaysia-Airlines-Flug MH370 mit 239 Menschen an Bord in Kuala Lumpur in Richtung Peking. Den letzten Funkspruch setzte die Crew um 1:19 Uhr ab. Seitdem ist das Flugzeug verschwunden. In den ersten Tagen suchten Rettungskräfte östlich von Malaysia im Südchinesischen Meer sowie westlich von Malaysia in der Straße von Malakka nach der verschollenen Boeing 777.

Einige Wochen später veröffentlichte die britische Satellitenfirma Inmarsat einen Bericht, der Kommunikationsdaten zwischen dem vermissten Flugzeug und Satelliten enthält. Experten gehen seitdem davon aus, dass sich die Absturzstelle der MH370 im Indischen Ozean in einem Gebiet ungefähr 1.800 Kilometer westlich der australischen Stadt Perth befindet.

Doch auch dort verliefen die Suchaktionen bislang ohne Erfolg. Das Gebiet zählt zu den abgelegensten Meeresregionen der Welt. Das auf La Réunion gefundene Wrackteil könnte sich nun als einer der wichtigsten Hinweise auf der Suche herausstellen. Sollte sich die Beobachtung von Herbig bestätigen und es sich bei den Organismen um eine bestimmte Art der Gattung Lepas handeln, könnte dies bedeuten, dass die Suchtrupps jetzt in der richtigen Region unterwegs sind. 

WAS ORGANISMEN AUF DEM TRÜMMERTEIL ÜBER DEN ABSTURZORT SAGEN KÖNNTEN 

Zu oft berichteten die Medien fälschlicherweise von Muscheln an dem Trümmerteil von La Réunion. Dabei sind Entenmuscheln weder Enten noch Muscheln. Herbig vermeidet diesen Begriff deshalb, wo es geht. Stattdessen spricht er von der Gattung Lepas. Es handelt sich dabei um Krebstiere, die in die gleiche Gruppe wie Seepocken gehören. Als sogenannte Oberflächendrifter leben sie nahe an der Wasseroberfläche und setzen sich auf schwimmenden Objekten im Meer fest.

Man findet sie auf Schiffsrümpfen, Treibholz, Bojen, Plastikmüll und schließlich auch dem Trümmerteil des abgestürzten Flugzeugs. An einem Stiel sind sie kopfüber festgewachsen und seihen mit ihren kleinen rankenartigen Füßen Nährstoffe aus dem Wasser. Daher stammt auch der wissenschaftlichere Ausdruck „Rankenfüßer“. „Es dauert maximal zwei Monate, bis sich Larven soweit entwickelt haben, dass sie sich auf einem Untergrund festsetzen und zu einem Adulttier heranwachsen“, sagt Herbig. Die Unterart Lepas australis lebt ausschließlich in südlichen Breiten in kühlen Gewässern, nicht aber in tropischen Bereichen. „Wenn wir Lepas australis an dem Wrackteil finden, dann können wir sicher nachweisen, dass der Absturzort in kühlen, südlichen Meeresbereichen westlich von Australien liegt“, betont der Wissenschaftler. 

BEREITS DARWIN BEKLAGTE SCHWIERIGE ZUORDNUNG DER ENTENMUSCHELN 

Allein anhand der Bilder können Herbig und Schiffer jedoch nichts über die Absturzstelle aussagen. Fest steht, dass nicht nur eine Lepas-Art auf dem Trümmerteil wächst. „Wir müssen jetzt die Schalen untersuchen, um besser sagen zu können, um welche Art der Entenmuscheln es sich handelt“, betont Herbig.

Schon der prozentuale Anteil der einzelnen Arten auf dem Wrackteil könnte einen ersten Hinweis auf die Absturzregion geben, weil er von der Wassertemperatur abhängig ist. Durch eine Analyse der Größe ließe sich aus einer Wachstumskurve auch rekonstruieren, seit wann sich die Entenmuscheln auf dem Wrackteil befinden. Allerdings ist bereits Charles Darwin bei seinen umfangreichen Forschungsarbeiten zu Lepas auf Probleme bei der Zuordnung der Tiere zu verschiedenen Arten gestoßen, weil selbst jedes Exemplar einer Art etwas anders aussieht. Die beiden Kölner Wissenschaftler sind genau die richtigen Experten, um auch dieses Problem zu lösen.

Der Paläontologe und der Biologe haben über 150 Jahre nach Darwins Pionierforschung Proben aus allen tropischen und gemäßigten Breiten der Ozeane genetisch untersucht und verfügen jetzt als einzige Wissenschaftler weltweit über einen genetischen Datensatz der fünf wichtigsten Lepas-Arten. „Durch eine Analyse der Gensequenzen der Tiere auf dem Wrackteil können wir nicht nur eindeutig die Art bestimmen, sondern auch eingrenzen, aus welcher Meeresregion die besiedelnde Population stammt“, erklärt Schiffer. 

BILDEN STRÖMUNGSDATEN DAS FEHLENDE PUZZLETEIL? 

Der Fund von La Réunion ist ein Schlüssel für die weitere Suche nach MH370. Die entscheidende Frage lautet nun, welchen Weg das Trümmerstück bis zu der Insel im Indischen Ozean genommen hat. Neben den Entenmuscheln rückt deshalb vor allem eine Analyse der Meeresströmungen in das Interesse von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Doch hier gibt es verschiedene Modelle. Das Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel hat eine Strömungsrekonstruktionen vorgelegt, nach welcher die Absturzstelle viel weiter im Norden liegen muss – und zwar südlich von Sumatra oder Java.

Ein anderes Szenario zeigt dagegen eine Simulation des französischen Ozeanografen Erik van Sebille. Nach seinen im Internet verfügbaren Animationen spielt es keine Rolle, ob das Flugzeug im nördlichen oder südlichen Indik abgestürzt ist: Die Trümmerteile würden in beiden Fällen früher oder später nach La Réunion driften. Eine genetische Analyse der Entenmuscheln in Kombination mit den Strömungsdaten könnten Wissenschaftler der Absturzstelle methodisch unabhängig ein Stück näher bringen.

Es liegt nun in den Händen der französischen und australischen Behörden, die Wissenschaft auf der Suche nach MH370 mit einzubeziehen. „Dies wäre doch ein tolles Beispiel dafür, wie wertvoll interdisziplinäre Grundlagenforschung zwischen Paläontologie, Geologie und Biologie sowie die Arbeit an evolutionären Fragestellungen für die Allgemeinheit und das öffentliche Interesse ist“, betont Schiffer.